18 Dez

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 56

Europa will es wissen: Archaikos soll es sein

Europa – gut gelaunt und begeistert von den jungen Priesterinnen – lässt sich im Palast bei Archaikos anmelden. Die Wachen, misstrauisch wie immer, verschwinden knurrend im langen kühlen Gang, in dem Licht wie bunte Fäden zu schaukeln und zu flimmern scheint. Ist es ein gutes Zeichen, Göttin, fragt sich Europa und wartet auf deren Antwort beim Warten auf die Rückkehr der Wächter. Die Stille tut ihr gut, sie lehnt sich genüsslich an die kühle Wand und meint die göttliche Stimme zu hören. Zwar nur flüsternd leise, aber doch vernehmbar: Sei stark, die altvertrauten Lieder werden weiter helfen. Was soll das nun wieder heißen, denkt sie unzufrieden. Sie könnte jetzt deutlichere Botschaften viel besser gebrauchen. Tief durchatmend schließt sie die Augen, genießt dabei den weichen Luftstrom, den sie durch die Nase kräftig einsaugt, und geht in Gedanken noch einmal zurück in den Tempel: Die drei Fremden haben sich nur schlecht verstellt. Ich habe sie erkannt. ER und zwei Helfer. Der arme, er braucht also Hilfe, um mir beizukommen. Das gibt ihr noch mehr Kraft für die kommenden Stunden. Ich muss nur an mich glauben und an die Zukunft meiner Botschaft vom Glück. Da kommen die zwei auch schon wieder. Erst schattenhaft, gespenstisch, dann geschmeidig und groß.

„Der Minos von Kreta will dich jetzt sehen. Folge uns!“ sagt verächtlich der jüngere der beiden. Der ältere nickt nur fast unmerklich, dreht sich dann gleich wieder um. Die Speerspitze seiner Waffe blitzt dabei wie ein großer Stern, der am Abendhimmel zitternd strahlt. So geht es schnellen Schrittes durch die Gänge und Zwischensäle. Europa kennt sich schon etwas besser aus inzwischen. Trotzdem staunt sie über die herrlichen Tiergestalten an den Wänden, fast lebendig scheinen sie die drei laufend zu begleiten. Europa wundert sich, wie wenig fremd die Bilderwelt auf sie wirkt. Kennt sie diesen Anblick von früher her? Bei ihr zuhause, im Palast der Eltern, gab es solche eleganten Wandgemälde gar nicht. Schwarze Linien, gelbe Striche, rote Kreise. Nein, daran will sie jetzt aber gar nicht denken. Ihr herrischer Vater und die besserwisserische Mutter möchte sie lieber draußen lassen, wenn sie Archaikos trifft. Sie will leicht, heiter, reizvoll scheinen. Dann könnte es ihr gelingen.

Mit solchen Gedanken beschäftigt durcheilen sie einen Gang nach dem anderen. Schließlich machen die beiden Wächter, die sie keines Blickes gewürdigt hatten auf diesem eiligen Gang, vor der schweren Holztür der Gemächer des Minos von Kreta halt.

Dreimal klopfen sie mit ihren Speeren auf die glatten Steinplatten – dröhnend drücken die tiefen Töne gegen die Flügeltür. Europa spürt eine wohltuende Aufregung in ihrem Innern. Und schon öffnen sich die Flügel, die Wächter treten zur Seite und lassen Europa durch. Gleich hinter ihr schließen sich die hölzernen Flügel wieder, lautlos werden sie von den beiden Wächtern innen verschlossen. Sie spürt, wie deren Blicke sie zu durchbohren scheinen. Aber da kommt ihr schon Archaikos mit weit ausgebreiteten Armen entgegen. Er lacht. Also keine Gefahr? Europa wird sehen. Sie muss ihn heute Nacht für sich gewinnen, nicht nur als Liebhaber, das ist ihr ja schon längst gelungen. Nein, als Ehemann.

10 Feb

Europa – Mythos # 48

Die Mutter Europas kehrt aus der Unterwelt zurück

Nebelschwaden zerstäuben lautlos in früh wehenden Lüften. Schroffe Felswände glänzen matt von kaltem Morgentau. Es liegt ein müdes Raunen in der Luft wie Klagelaute von tief herauf. Aus Klüften melden sich fahle Schatten so zu Wort:

„Telephassa, Telephassa, komm, lass das Weinen, weg mit dem Zorn! Wir führen dich zu lichteren Gegenden. Dorthin, wo deine Tochter Europa hingelangte, als sie vor der Gewalt ihres Vaters floh. Erinner‘ dich an deine alte Kraft und Würde – du hattest einen lichten Auftrag von uns allen und du hattest so gut begonnen. Schau doch, wie deine Tochter rätselt, was sie denken, was sie tun soll!“

Wie in einer kleinen Einsiedelei wacht sie nun auf. Die Wunden sind wunderbar geheilt. Der Mörderbande Tat zum Glück umsonst gewesen. Die wohlbekannte Königin war ja längst mit ihren drei Söhnen Kadmos, Phoinix und Kilix heimlich geflohen und so den Häschern entgangen. Zusammen wollten sie die entführte Tochter und Schwester Europa finden und befreien. Telephassa erinnert sich jetzt daran und lauscht dem wispernden Flüstern, das an ihr luftig vorbei huscht. Langsam gewöhnen sich die immer noch müden Augen ans junge Morgenlicht. Es tut gut erwacht zu sein, wenn auch die Albträume schwer an ihr zerrten.

Agenor, ihr blindwütiger Gatte, tobt da wie ein Tier. Fleht Poseidon, seinen Vater, um Hilfe an. Vergeblich. Denn der feiert gerade mit seinen Brüdern Zeus und Hades den Beginn der neuen Männermacht. Wie sie zumindest hoffen. Zuviel haben sie getrunken, zu laut gegrölt, zu schwer gegessen. Europa verfluchen, die Frauen unter die Knute der Männer zwingen, das ist nach ihrem Geschmack. Und auf dem Tanzfest, das mit dem Beginn des Frühlings auf Kreta erstmals gefeiert werden soll, wollen sie der Hohenpriesterin und Europa einen unvergesslichen Denkzettel abliefern. Einen demütigenden, einen hämischen. Zeus muss eben einfach dieser phönizischen Prinzessin zeigen, dass ihr Hochmut dem Obergott gegenüber gnadenlos geahndet werden muss. Gnadenlos. Und bald. Wie unselige Geister der Unterwelt, so tanzten sie durch ihren Traum. Gräulich lachend und geifernd. Sie wurde an eine kalte Wand gedrängt. Die drei schienen sie erdrücken zu wollen. Lüstern und todbringend. Aber es war nur ein Traum. Erwacht durfte sie – geleitet von den guten Geistern der großen Göttin – aus der Unterwelt entweichen. Zu dumm aber auch, dass Hades gerade unterwegs ist und seinen Kater auskuriert. So war es eine leichte Flucht. Sie sollte sich nur nicht umdrehen, rieten ihr die einflüsternden Stimmen. Wozu auch, dachte sie, wozu?

Auf welches Meer schaut sie da jetzt? Wo sind ihre drei Söhne geblieben? Was soll ich tun? Telephassa lehnt sich erschöpft an die kalte Felswand. Die Stimmen werden immer leiser, als wollten sie sich von ihr verabschieden. Aber sie hat doch noch so viele Fragen! Flehend schließt sie die Augen. Wartet. Hofft. Dann kommen aber wie von selbst die rettenden Gedanken. Ich habe einen Auftrag, die Göttin steht mir bei. Ich werde zurück zu den Menschen gehen, werde Fragen stellen, werde Hilfe bekommen. Tief atmet sie ein, genießt die frische Morgenluft und die wohltuende Stille. Und wie eine Einladung klingt ihr das ferne Rauschen der Brandung. Komm, Telephassa, komm und lass dich nicht aufhalten! Der große, Leben spendende Äther trägt dich, verbindet dich mit allem, auch mit deiner Tochter Europa, auch mit deinen Söhnen. Also, mach dich auf den Weg, hilf ihr mit all deiner Weisheit, Liebe und Gelassenheit! Was wohl die Möwen meinen, die gerade so laut unter ihr am Strand zu streiten scheinen? Oder ist es Lebensfreude, Ausgelassenheit, die sie so schreien lässt?

Und ist der Mut ihrer Tochter Europa nicht staunenswert? Ganz alleine hat sie sich aufgemacht.

Telephassa will sie finden, will ihr helfen. Es fühlt sich gut an. Sie will auf jedes Zeichen, das sich in ihr – wenn auch noch so leise – rühren sollte, lauschen, damit sie nicht in die Irre geht. Ohne auch nur eine Ahnung zu haben, was die nächsten Tage bringen werden, macht sie sich weiter tief ein- und ausatmend auf den Weg. Sie will am Meer entlang gehen, bis sie auf Menschen stößt, die ihr weiterhelfen werden. Dieser Vorsatz, den sie da gerade in sich wachsen lässt, ist wie ein erfrischendes Getränk, das sie belebt, stärkt und sicher macht. Es ist gut, was ich vorhabe. Auch der Albtraum hatte seinen Sinn darin. Er liegt hinter mir wie eine wichtige Warnung: Sei auf der Hut, die fast schon vergessene Botschaft vom Glück will weitererzählt werden. Jeden Tag muss sie neu gelebt werden, erneut verteidigt werden. Nur so wird sie in den Herzen der Menschen wachsen können, nur so kann sie den Menschen Glück bringen, Lebensfreude. Tu es!

Telephassa hüpft fast vor Freude den Hang hinab zum Meer. Ihr Übermut verleiht ihr geradezu Flügel. Alles um sie herum scheint sie wie in einer Sänfte zu tragen. Leicht, heiter, mühelos. Der Seevögel Tanz am Himmel, der schäumende Glanz der Wellen, das wärmende Licht des Morgens – all das tut ihr so gut und gibt ihr das Gefühl zuhause zu sein. Beschenkt, beglückt, begeistert.

22 Jan

Europa – Mythos # 46

„Erzähl, erzähl!“

rufen die beiden jungen Frauen, Sarsa und Belursi, ganz aufgeregt durcheinander. Seit Tagen schon glauben sie in einem unaufhörlichen Rausch der Sinne zu leben. Angst, Freude, Lust, Zorn wechseln sich in ihnen ab wie lauter ungebetene Wechselbäder. Im Geäst der uralten Zeder, die gelassen im Innenhof des Tempelbereichs vor sich hin döst, jagen zwei Elstern vor und zurück, als wären sie auf Gedeih und Verderb aneinander gekettet. Heftig wippen sie mit den langen Schwanzfedern, stolzieren elegant über einen breiten Ast und beschimpfen sich dabei lautstark. Die Priesterinnen und Europa schauen ihnen von ihrem Schattenplatz aus begeistert zu. Wenn man doch nur deren Sprache verstünde, denkt Chandaraissa. Sie sind alle bester Stimmung: Ihr Plan ist bisher voll aufgegangen. Der Minos von Kreta scheint besänftigt und hat der Idee eines neuen Tanz-Festes zu Ehren der großen Göttin zugestimmt. Die beiden aufgezwungenen Ehemänner haben nichts mitbekommen von dem Betrug, der sie um ihren Beischlaf mit den frisch vermählten Zwangs-Gattinnen gebracht hat, erzählen Sarsa und Belursi. Die Wächter mit ihren Brummschädeln meinen, es so toll des nachts getrieben zu haben, dass sie vor Liebesgier einfach die Besinnung verloren hätten. Sarsa kann vor Lachen gar nicht mehr weiter erzählen. Belursi prustet hinterher und versucht die Freundin mit Erzählen abzulösen: Sie könnten sich an rein gar nichts mehr erinnern, bekommt sie so gerade noch heraus. Das Kichern und die tonlosen Atemstöße der beiden ähneln ein bisschen den beiden Elstern oben in der Zeder, denkt schmunzelnd Europa. Sie hätten den vor Kopfschmerzen stöhnenden Männern ein kleines Theaterstück lustvoller Begeisterung geboten. Deren eher blödes Staunen sollte wohl zum Ausdruck bringen, dass sie demnach wirklich ganz außergewöhnlich gewesen seien, die so frech gehörnten. Und um dem Ganzen noch eine Krone aufzusetzen, hätten sie stotternd zu verstehen gegeben, dass die Wildheit und Leidenschaft ihrer Männer sie so gefordert hätten, dass sie nun für ein paar Tage aussetzen müssten, bis ihre wund geriebenen Stellen abgeheilt seien. Vor Verlegenheit hätten die beiden Mannsbilder dann gar nicht mehr gewusst, was sie sagen sollten, hätten nur zustimmend genickt und sich mit stolzen Blicken zu verstehen gegeben: Da können unsere Ehefrauen ja nur glücklich sein, dass sie so sinnliche Männer zugewiesen bekamen. Vor lauter Lachen kommen Sarsa und Belursi jetzt auch noch lustige Tränen, die keck die Wangen der beiden herunter stürzen. Europa und Chandaraissa freuen sich von Herzen mit den beiden. Sie werden aus diesem heimlichen Betrug einfach eine Gewohnheit machen, damit sie nie wirklich von diesen Rohlingen roh angefasst und missbraucht werden können. Und damit haben sie auch dem Minos von Kreta seinen Plan versaut. Gut so, denken sie, gut so. Europa schweift für einen Augenblick mit ihren Gedanken ab: Ist es dem selbstgefälligen Gott in der Höhle neulich nicht genauso gegangen? Könnte der nicht auf eine Gelegenheit warten, seine Demütigung vergessen zu machen? Sie weiß ja nichts von den Plänen, die die drei Brüder ausgeheckt haben. Nichts von dem Fluch, den der Obergott zusammen mit seinen Brüdern über alle Frauen ausgesprochen hat. Um solch unangenehme Gedanken zu vertreiben, stellt Europa in eine kleine Lachpause der Priesterinnen hinein – ohne darüber weiter nachzudenken – die Frage:

„Wollt ihr wissen, was ich heute Nacht geträumt habe?“

Und wie sie das wollen, sprudelt es aus deren Münder, und ob! Chandaraissa zieht verwundert die Augenbrauen hoch und lächelt ihrer Freundin aufmunternd zu. Da tut es Europa auch schon wieder leid, die Frage gestellt zu haben. Jetzt kann sie aber nicht mehr zurück. Sarsa lehnt sich genüsslich an den von der Sonne angenehm aufgewärmten Stamm einer Pinie – sieben davon stehen in einem Kreis um die alte Zeder herum – alle Schattenspender, stumme Zuhörer, geduldige Freunde der Menschen schon immer, die sie jedoch wie selbstverständlich nutzen und meistens übersehen. Europa atmet tief ein, schließt kurz die Augen, bevor sie so beginnt:

„Mir träumte, drei große schwarze Raben saßen auf einem dünnen Ast. Aufgeregt tippelten sie hin und her, hin und her.“

Chandaraissa unterbricht sie kurz:

„Oder waren es nicht doch Elstern? So wie die da oben in der Zeder? Vielleicht sind sie ja sogar aus deinem Traum mit in die Wirklichkeit hinüber geflogen?“

Europa schüttelt mit dem Kopf. Ihre Freundin hat immer so wunderbare Ideen. Aber es waren Raben, keine Elstern, und sie schienen wirklich schlechte Laune zu haben. Sie zankten sich laut und sehr unfreundlich. Daran kann sie sich noch ganz deutlich erinnern.

„Nein, es waren keine Elstern, er waren drei Raben. Das weiß ich noch ganz genau. Was sie sich zu sagen hatten, konnte ich nicht verstehen. Der wohl abgestorbene Ast, auf dem sie sich zankten, knarzte bedenklich. Ich saß am Eingang einer Höhle, hatte Angst, hatte Herzklopfen. Ich wusste nicht, warum ich vor dieser Höhle saß. Ich fühlte mich ganz schlecht. Dann brach der morsche Ast laut entzwei. Ich riss die Augen auf, hielt den Atem an, denn die drei schwarzen Tiere stürzten wild durcheinander wirbelnd und flatternd Richtung Erde, als könnten sie nicht fliegen, direkt auf mich zu. Schwer drückte mich die bange Frage zu Boden: Was wollen die von mir, was haben die vor? Schweiß gebadet wachte ich auf…“

Europa schaut hilfesuchend ihre Zuhörerinnen an. Mit offenen Mündern hatten sie zugehört. Nach dem ausgelassenen Lachen noch eben scheint plötzlich ein befremdlicher Ernst in der Luft zu wabern. Verlegen wischen sich die beiden jungen Priesterinnen die letzten Freudentränen von ihren Wangen. Keiner will etwas sagen, denn das Bedrohliche in diesem Traum ist allen nur zu deutlich. Europa ist die Stille sehr peinlich. Sie wollte wirklich nicht die ausgelassene Stimmung verderben. Doch das betretene Schweigen hat alle vier unbarmherzig im Griff. Warum hat sie das nur erzählt, warum hatte sie diesen Traum, warum sind sie jetzt alle so beklommen?