Das kurze Gedächtnis der Schnelldenker
Schon vergessen? Hilary hat gegen Trump ordentlich verloren. Auf ganzer Linie. Was waren da die Damen und Herren in den Medien und Parteien erschrocken, überrascht, entsetzt, befremdet, enttäuscht. Wie wortreich wurden da die Girlanden ernsthaften Nachdenkens geschwungen: Wie war es möglich, dass man sich so getäuscht hatte? Wie konnten die großen Umfrage-Institute so falsch gelegen haben? Warum hatte man die kostenlose Medienpräsenz von Trump – die etablierten Medien beschäftigten sich ja genüsslich mit seinen unprofessionellen Entgleisungen, als gäbe es sonst nichts zu berichten – Tag und Nacht so übersehen können? Wie konnte man nur den armen weißen Mann des Mittleren Westens und des Rostgürtels vergessen? Und warum hatte man nie darüber nachgedacht, wie diese selbstgerechte Dauer-Medienschelte auf die Arbeitslosen, die verschuldeten Hypothekenopfer und Illegalen wirken würde? Und was könnten dieser Wahlkampf und sein Ergebnis für die Verhältnisse in Europa bedeuten? Wie würden die hiesige Populisten davon profitieren? Wie müsste man – gerade vor den hier anstehenden Wahlen und Referenden – einem ähnlichen Trend wie in den USA gegensteuern? Wahrlich, wirklich gute Fragen – und zahllose Akademiker im löchrigen Büßerkleid sozusagen!
Ja, man ging verbal so richtig in sich – für einen Moment. Angesichts der unablässigen Nachrichten- und Bilderflut, die längst Tsunami-Charakter angenommen hat, scheinen das Establishment und die das politische Tauziehen kommentierende „Intelligentsia“ den Schock und die geäußerte Selbstkritik aber flugs wieder im Mottenschrank verstaut zu haben. Als wäre es nichts weiter als Schnee vom letzten Jahr.
Neue Themen, die „natürlich“ alle Aufmerksamkeit für sich beanspruchen, bewegen die Medien stattdessen: Der blasse Präsidentschaftskandidat der Großen Koalition, die sympathische Absichtserklärung der derzeitigen Langzeitkanzlerin und die neue Statistik der Arbeitslosenzahlen – wie jetzt schon länger: einfach umwerfend positiv. Ja, man war sogar bereit, den oft ironisch kommentierten Ausspruch der Kanzlerin von der Alternativlosigkeit, sich selbst zu eigen zu machen: Sie sei in der derzeitigen schwierigen Gemengelage wirklich alternativlos, ehrlich! Schwupp – und schon ist man wieder in der alten Spur der liberalen Denkhaltung, die ausgewogen argumentieren möchte, dabei aber die vielen Fragen, die eben noch ins Haus standen, unter den Tisch kehrt.
Ist das polemisch? Nein. Am Beispiel des Präsidentschaftskandidaten der Linken lässt es sich anschaulich verdeutlichen, diese professionelle Vergesslichkeit: Ähnlich wie in den USA, wo nur Bernie Sanders die wirklich brennenden Themen der von Armut bedrohten Weißen aufgegriffen hatte, ist es jetzt der Armutsforscher Butterwegge, der den Finger in die eigenen Wunden legt: Das eigentlich Problem unserer hysterischen Konsumgesellschaft sei die prekär arbeitende alleinerziehende Frau, die vor Altersarmut sich ängstigenden älteren Arbeitnehmer, die in Zeitverträgen zappelnden Jungarbeiter – alles Teilnehmer am hiesigen Gesellschaftsspiel, das für sie einfach nur schlecht läuft, von denen da oben aber gnadenlos schön geredet wird. Die Schere zwischen arm und reich gehe eben nicht nur in den USA rapide auseinander, sondern auch hierzulande. Die Kanzlerin, deren Integrität nach wie vor unbenommen ist (was angesichts der schier uferlosen Korruption allerorten geradezu wunderbar anmutet), stellt redlich die neuen Zahlen in den Mittelpunkt ihrer Situationsanalyse: Noch nie waren so viele in Arbeit und Brot wie jetzt – in den letzten zwanzig Jahren! Dem könnte sie allerdings (oder besser für sie und für uns alle, denen doch eine unbenennbare Angst im Bauch grummelt, dem müsste sie) die unerträglichen Zahlen an der Steuerfront gegenüberstellen – etwa so ungefähr ( Genauigkeitsfetischisten sollen sich währenddessen ruhig oder furchtbar aufgeregt mit den Stellen hinter dem Komma befassen, uns lenkt es nur von den wirklich Problemen ab): 19% Mwst. für ein Paket Windeln, 7% für ein Pferd und 0% für das Aktienpaket…
Summa: Nur wer sich ernsthaft im Umfeld solcher Themen bewegt, wird im kommenden Jahr ein Ohr beim Wähler finden, der sonst wütend dahin gehen wird, wohin die „Verwandten im Geiste“ in den USA neulich scheinbar völlig unvorhersehbar abgewandert waren. Sehr zornig, verzweifelt, enttäuscht und gering geachtet. Wenn in diesen Tagen Butterwegge von den Medien süffisant lediglich als bedauernswerter Pappkamerad kommentiert wird, zeigt das nur, dass man nicht bereit ist, die eigentlichen Themen dieser zunehmend ungerechten Gesellschaft aufzugreifen: „Er hat keine Chance, will sie aber nutzen!“
Und das gilt nicht nur für Deutschland, sondern für alle Länder Europas. Die EU hat in der Vergangenheit ebenfalls keine brauchbaren Veränderungen in der Sozialen Frage bewirkt, denn die Jugendarbeitslosigkeit ist nach wie vor europaweit unerträglich hoch – also ist auch die EU für die Enttäuschten keine Alternative. Deshalb der wohlmeinende Ratschlag: Die anfangs gestellten Fragen neu stellen, auf die Länder Europas anwenden und die liberale Pseudo-Wundertüte für den Fasching aufbewahren, nicht aber dem frustrierten Zeitgenossen zumuten! Sonst könnte sich als bester Wahlslogan für 2017 in Europa folgender herausstellen: Europäer – verraten und verkauft!