Europa – Meditation # 192
Endlich darf der homo sapiens zu sich selbst finden.
Warum ist in der kurzen Kulturgeschichte des Menschen die Musik immer die Königin geblieben? Warum gibt es keine Kultur ohne Musik? Warum ist die Musik bei jungen Menschen heutzutage so zentral, warum lassen sie sich da so gehen? Warum? Weil sie in ihrer Wirkung so wunderschön ungenau und wahr zugleich ist. Das wahre Fest des Lebens.
Könnte es sein, dass am Anfang der Geschichte die Verlockung einfach zu groß war, sich selbst größer zu machen, als man wirklich war, in dem man sich einfach zu göttlichen Erfindern der Logik, der Klarheit, der Eindeutigkeit erklärte? Weil in diesem Kunstprodukt – Sprache als Fluchtraum vor fehlenden Grenzen – die Verlässlichkeit hinein gedacht und gelebt werden konnte, die das eigentliche Leben nicht hergab? Man musste nur die Sprache lernen, allen beibringen, üben und nachbeten, und schon war zumindest in diesem Bereich eine Sicherheit, eine Klarheit, eine Stimmigkeit zu finden, nach denen man sich doch so sehr sehnte.
Dann ging in der Erinnerung an den Trick am Anfang nach und nach verloren, dass es ein Trick ist, bzw. die Hüter der Sprache – anfangs die Zauberer, Priester, Druiden und Auguren – umgaben diesen wunderbaren Fortschritt (man war von sich selbst fortgeschritten) mit heiligem Ernst und Wunderglauben. Und da die Sprache auch Macht verlieh über andere, wurde nach und nach wahr, was eigentlich nur eine kluge Erfindung war, um die Unsicherheit der eigenen Existenz, die einen Tag und Nacht umschlich, aus seinem Bewusstsein auszusperren.
Aber die Wahrheit ließ sich dennoch nicht beseitigen. Immer wieder gab es diese geistigen Störenfriede, die daran erinnern wollten, dass die Stimmigkeit der Welt, wie wir sie in die Sprache gelernt haben zu bannen, ein schöner Traum – das Leben ein Traum – sei und dass die Besinnung auf die eigentliche Fehlerhaftigkeit unserer Wahrnehmung gleichermaßen eine Rückbesinnung sei auf unsere zerbrechliche Natur. Sie ist nun einmal doch nur so, wie sie ist: zerbrechlich, vorläufig, hinfällig, fehlerreich. Schon immer.
So mussten solche Querdenker an den Rand gedrängt werden, als Spielverderber gebrandmarkt, als gefährliche Aufrührer aus dem Spiel genommen werden. Aber sie waren und sind einfach nicht stumm zu kriegen. Wer denn, bitte schön?
Nun, um nur ein paar Europäer zu nennen: Heraklit, Lukrez, Montaigne, Sterne, Herder, Hölderlin, Kleist, Nietzsche…Sie hatten es nicht leicht mit sich und ihrem jeweiligen „Umfeld“. Warum? Weil sie – nicht zuletzt über die Musikalität ihrer Texte – die alte Kränkung thematisieren, zulassen, und die Risse und Brüche der glättenden Sprachmuster offen legen. Das macht sie natürlich zu Unruhe-Stiftern, zu Abweichlern, die man bemitleiden muss, weil sie nicht klar kommen in ihrem Leben. Wie auch, werden sie erwidern, wenn Klarheit nur den Göttern gegönnt ist – dazu wollten sich die Menschen gerne auch machen – gerade jetzt wäre Zeit, Bescheidenheit zu lernen.