Das rasante Fortschreiten einer Zivilisation und das unbemerkte Verschwinden der Kultur
Die 28 europäischen Staaten der Europäische Union könnten sich sehr wohl gegenseitig auf die Schulter klopfen: Wie herrlich weit sie es doch in den letzten siebzig Jahren gebracht haben. Von den kriegsbedingten Zerstörungen gibt es höchstens noch museale Reste. Ein Aufschwung folgt dem nächsten, der Dienstleistungssektor schafft neue Stellen, die Automation senkt die Kosten. Gut, die vielen jugendlichen Arbeitslosen und die vielen Langzeitarbeitslosen trüben dummerweise das Bild doch ziemlich ein. Aber wir haben es ja von unseren Freunden aus Übersee gelernt: Defizitäre Verhältnisse spornen uns nur an, neue Lösungen zu erfinden, neue Märkte zu eröffnen, neue Stellen anzubieten. Mut zur Investition in Menschen und Material! Und Weiterbildung zum Beispiel in ganz großem Stil. Und Billiglöhne natürlich auch. Drei (mindestens) Berufe und drei (mindestens) Arbeitsplätze in seinem Leben gehabt zu haben, sollte man zukünftig ruhig als völlig normal verkaufen. Schnellstraßen, Hochgeschwindigkeitstrassen, steigende Zahl an Fluggästen auf den aus allen Nähten platzenden großen Flughäfen, in allen Bereichen zeigen die Pfeile auf Wachstum, zunehmendes Wachstum. Investitionshemmnisse abbauen, Privatisierungen vorantreiben, das ist die Devise; dem unersättlichen Geldfluss keine Barrieren in den Weg legen, das muss das Credo der europäischen Finanzpolitik sein. Und TTIP ist dann nur folgerichtig und wird ganz sicher weitere Dynamik freisetzen.
Eine Zivilisation, die sich so in Dublin, Lissabon, Athen, Prag, Budapest, Rom, Madrid, Paris, London, Oslo, Brüssel und Berlin in schönster Eintracht den lässigen Flaneuren zeigt (die Städteliste ließe sich leicht um einige verlängern), ist und bleibt eine unendliche Erfolgsgeschichte Europas: Jede Einkaufspassage, jede U-Bahn-Linie, jedes Zentrum, alle bieten das gleiche Bild, die gleichen Logos, die gleichen Produkte, sogar die Preise sind fast überall die gleichen. Der Europäer kann sich also überall dort wie zu Hause fühlen. Als gäbe es so etwas wie ein europäisches Heimatgefühl. So gesehen hat diese Zivilisation in riesigen Schritten scheinbar die Einheit Europas längst vollzogen und schreitet mutig voran, den gesamten Globus mit diesem Muster beglücken zu wollen. Und jeder, der da auf die Bremse drücken will, macht sich inzwischen zum Gespött der Leute. Große schnelle Autos sind der Fetisch, dem gehuldigt wird. Wie könnte man da „Tempo-Bremsen-Wollen“ gut finden?
Soviel zuerst einmal in Sachen europäische Zivilisation.
Kommen wir nun zum inneren Kern dieser 28 europäischen Staaten, der Kultur in diesen Staaten.
Eigenartigerweise lässt sich das Wachstumsbild der eben beschriebenen Zivilisation nicht gleichermaßen auf die Kultur übertragen. Im Gegenteil. Hier scheint sich geradezu ein von den meisten unbemerkter Gegentrend durchzusetzen: Drei-Sparten-Häuser, große Orchester, Chöre, alternative Theaterszenen, Musikschulen, Ballettschulen, Darstellendes Spiel an Gymnasien klagen über Kämmerer, die ein „Streichkonzert“ nach dem anderen inszenieren. Während sonst Investieren groß geschrieben wird, soll auf dem Kultursektor massiv gespart werden. Ist er doch nicht lukrativ, nicht gewinnbringend, sondern durchgängig subventionsabhängig. Der tragische Denkfehler in diesem Kämmmerer-Modell ist allerdings, dass als einziges Kriterium der Geldvergabe – als wäre die Stadt eine Bank – nur die aus der Marktwirtschaft geliehene Maxime zugelassen wird, Gewinn zu machen. Wobei Gewinn eben nur in Geldform gedacht wird. (Dass die EU im Kern ein beispielloses Subventions-Groß-Theater ist, scheint niemanden dagegen zu stören) Der eigentliche Gewinn jeder kulturellen Investition – das gute Wir-Gefühl beim Gestalten und Erleben gleichermaßen – wird einfach nicht als eigenständiger Wert gesehen, weil er nicht im Geldwert aufgeht. Die Folge? Der durch die zivilisatorische Sogwirkung verausgabte Zeitgenosse – mehr und mehr darf er sich nur noch als geldwerter Einzelkämpfer definieren, der eiskalt und skrupellos jeden Konkurrenten hinter sich lassen soll – entfremdet sich zunehmend nicht nur von sich selbst, sondern auch von seinen Mitmenschen. Er erlebt kaum noch dieses wohltuende Wir-Gefühl in einem kulturellen Geschehen, sieht im anderen eher eine Bedrohung als einen Gleichgesinnten, und verarmt so unmerklich an Geist und Seele. Da ist auch keine Zeit und auch kein Ort mehr für das Nachdenken über die eigene Geschichte, die eigene Kultur. Ein völlig unsichtbarer, aber beängstigender Prozess in Gesamteuropa, der nicht zuletzt wegen des Lärms und des blendenden Lichts der zivilisatorischen Ermächtigungsrituale keine Chance hat, auf sich aufmerksam machen zu dürfen. Man käme sich ja vor wie ein Spielverderber, Nestbeschmutzer oder eben einfach wie ein Versager.
In der nächsten Meditation (#33) soll noch genauer auf diesen eklatanten Gegensatz und die desaströsen Auswirkungen für Europa eingegangen werden. Rückmeldungen sind sehr erwünscht vorab.