04 Jan

Europa – Meditation # 125

Europa – Im Irrgarten der selbst erfundenen Geschichte  – Teil 1

Besinnlich – besonnen – versonnen – von Sinnen…

Zum sogenannten Neuen Jahr scheint es angebracht, kurz wieder auf Anfang zurückzugehen und unser Europa-Spiel mit neuen Würfeln neu zu bebildern.

Hier ein paar Anregungen dazu!

New Horizons – so haben wir sie getauft – die kleine Suchsonde, die neulich aus etwa 6 Milliarden Kilometer Entfernung den Himmelskörper Ultima Thule fotografiert hat – wenn wir eine Lupe dabei hätten und jetzt auf New Horizons stünden, was würden wir dann vom Planeten Erde sehen und was von Europa?

Neue Horizonte – wir bilden sie uns einfach ein, damit wir meinen können, in einem überschaubaren Bild zu sein, das so etwas wie Heimat für den Betrachter vermitteln soll.

Unsere Heimat-Galaxie – wie wir sie liebevoll nennen – habe ein ver-rücktes Innenleben, weil „wir“ vor nicht genau wievielen Millionen Jahren mit einer Zwerg-Galaxie zusammengestoßen sein könnten.

Gaia – unser Europa-Satellit – hat uns dafür reichlich Daten per Post zugeschickt: da oben sei schwer was los – Sterne bewegen sich da anscheinend ziemlich ungezogen in Richtungen, die der Gesamtrichtung unserer Milchstraße gar nicht entsprechen, obwohl sie doch alle um die gleiche Mitte tanzen. Mitte? Wie bitte?

Und dann soll auch noch die Sagittarius-Zwerg-Galaxie reichlich nah an unserem Milchbad vorbei gesubbscht sein – so vor ungefähr 500 Millionen Jahren. Das soll die Ursache für den recht eigenwilligen Kurs von diesen Abweichlingen sein, sagen die Sternkundler.

Und was sagt das uns Europäern?

Ultima Thule. Da kann die europäische Phantasie schön abheben, denn Thule ist in unserem kulturellen Gedächtnis ja sowieso ein schöner Ort, der zum Träumen einlädt – oder?

In guter aufklärerischer Tradition wollen wir Europäer eben in alles Ordnung und Struktur bekommen. Und mit schönen anthropomorphen Bildern klappt das auch ganz ordentlich.

Dabei beweisen wir Erdlinge uns gerade sehr anschaulich, wie vorläufig und irrläufig unsere sicheren Verortungen eigentlich sind: Ost-West-Konflikt, Eine Welt, Globalisierung, Postmoderne, Fakefakten, Börsenkurse, Aufschwünge, Klimakatastrophe. Wie in einem Nebel (auch so ein probates Bild für unsicheres Wirklichkeitsterrain!) stochern wir mit unseren bildpassenden Wörtern in unserem Verstand herum und zaubern eine Antwort nach der anderen ins Licht. Oder nicht?

17 Sep

Europa – Meditation # 110 Heimatlos auf dem Wohlstandsfloß

Lassen wir die Kirche doch mal im Dorf…!

Nicht nur die Parteien haben Mitgliederschwund zu beklagen. Nein, auch die Kirchen. In den meist altehrwürdigen Gemäuern, opulent mit Steinmetzkunst verschönert, kann man die Kirchgänger mehr und mehr an zwei Händen abzählen. Hohe, leere Hallen.

Nach dem letzten Krieg, da waren sie noch voll. Jeden Sonntagmorgen strömte die Gemeinde zu ihrem Pfarrer, um zu singen, zu beten und der Predigt zuzuhören.

Je größer der Wohlstand, umso kleiner der Teilnehmerkreis in den Kirchen – das scheint eine Erklärung zu sein; eine andere wäre die Erziehung zum selbstbestimmten Individuum, das sich nicht mehr sagen lassen möchte, was es glauben soll.

Und nun die Welle der Missbrauchsgeschichten, die sich hinter dem religiösen Vorhang wohl zu verstecken wussten. Der Bürger wendet sich angeekelt ab. Die Lüge hat Hochkonjunktur.

So geht das Vertrauen in die Institution Kirche nachhaltig verloren. Wo aber gibt es Ersatz für die wunde Seele? Wo gibt es Trost, wenn der berufliche Erfolg nicht eintreten will? Wo fühlt sich der Bürger denn noch nicht hinters Licht geführt? Die Banker trixen, die Konzerne bluffen, die Kirchenoberen vertuschen, und sie alle kommen trotz enormer Schäden für die Gesellschaft ungeschoren davon.

Oder was ist mit der Familie – als letztem Rückzugsort einer Welt gegenüber, die verlogen und gierig nur noch zum Konsum aufzufordern scheint? Auch der Schutzraum der Familie bricht weg: Beide Elternteile müssen arbeiten, es bleibt keine Zeit mehr für gemeinsame Rituale -wie zum Beispiel das Treffen am gedeckten Tisch, wo man sich austauscht, zuhört, aufmuntert und lachen kann, weil man sich wohl und sicher fühlt.

Da gerät der Glaube an die Vertrauenswürdigkeit in die großen Institutionen der Gesellschaft natürlich heftig ins Wanken. Ironie und Zynismus feiern stattdessen eine Party nach der anderen.

Und wer ist schuld an der Misere? Nicht die Verursacher, nein, die Fremden sollen es sein. Und in kleinem Kreis, im Club, im Verein, in der Kneipe verständigt man sich genüsslich unter Kumpeln: Ist doch klar, oder?

Und die jungen Leute, die zur Zeit im Hambacher Forst in Baumhäusern wohnen, haben weder eine Hausrats- noch eine Brandschutzversicherung. Ist doch klar, dass da die Polizei und die Feuerwehr eingreifen müssen! Auf die ist wenigstens noch Verlass!

02 Mrz

Europa – Verraten und verkauft (Meditation # 32)

Das rasante Fortschreiten einer Zivilisation und das unbemerkte Verschwinden der Kultur

Die 28 europäischen Staaten der Europäische Union könnten sich sehr wohl gegenseitig auf die Schulter klopfen: Wie herrlich weit sie es doch in den letzten siebzig Jahren gebracht haben. Von den kriegsbedingten Zerstörungen gibt es höchstens noch museale Reste. Ein Aufschwung folgt dem nächsten, der Dienstleistungssektor schafft neue Stellen, die Automation senkt die Kosten. Gut, die vielen jugendlichen Arbeitslosen und die vielen Langzeitarbeitslosen trüben dummerweise das Bild doch ziemlich ein. Aber wir haben es ja von unseren Freunden aus Übersee gelernt: Defizitäre Verhältnisse spornen uns nur an, neue Lösungen zu erfinden, neue Märkte zu eröffnen, neue Stellen anzubieten. Mut zur Investition in Menschen und Material! Und Weiterbildung zum Beispiel in ganz großem Stil. Und Billiglöhne natürlich auch. Drei (mindestens) Berufe und drei (mindestens) Arbeitsplätze in seinem Leben gehabt zu haben, sollte man zukünftig ruhig als völlig normal verkaufen. Schnellstraßen, Hochgeschwindigkeitstrassen, steigende Zahl an Fluggästen auf den aus allen Nähten platzenden großen Flughäfen, in allen Bereichen zeigen die Pfeile auf Wachstum, zunehmendes Wachstum. Investitionshemmnisse abbauen, Privatisierungen vorantreiben, das ist die Devise; dem unersättlichen Geldfluss keine Barrieren in den Weg legen, das muss das Credo der europäischen Finanzpolitik sein. Und TTIP ist dann nur folgerichtig und wird ganz sicher weitere Dynamik freisetzen.

Eine Zivilisation, die sich so in Dublin, Lissabon, Athen, Prag, Budapest, Rom, Madrid, Paris, London, Oslo, Brüssel und Berlin in schönster Eintracht den lässigen Flaneuren zeigt (die Städteliste ließe sich leicht um einige verlängern), ist und bleibt eine unendliche Erfolgsgeschichte Europas: Jede Einkaufspassage, jede U-Bahn-Linie, jedes Zentrum, alle bieten das gleiche Bild, die gleichen Logos, die gleichen Produkte, sogar die Preise sind fast überall die gleichen. Der Europäer kann sich also überall dort wie zu Hause fühlen. Als gäbe es so etwas wie ein europäisches Heimatgefühl. So gesehen hat diese Zivilisation in riesigen Schritten scheinbar die Einheit Europas längst vollzogen und schreitet mutig voran, den gesamten Globus mit diesem Muster beglücken zu wollen. Und jeder, der da auf die Bremse drücken will, macht sich inzwischen zum Gespött der Leute. Große schnelle Autos sind der Fetisch, dem gehuldigt wird. Wie könnte man da „Tempo-Bremsen-Wollen“ gut finden?

Soviel zuerst einmal in Sachen europäische Zivilisation.

Kommen wir nun zum inneren Kern dieser 28 europäischen Staaten, der Kultur in diesen Staaten.

Eigenartigerweise lässt sich das Wachstumsbild der eben beschriebenen Zivilisation nicht gleichermaßen auf die Kultur übertragen. Im Gegenteil. Hier scheint sich geradezu ein von den meisten unbemerkter Gegentrend durchzusetzen: Drei-Sparten-Häuser, große Orchester, Chöre, alternative Theaterszenen, Musikschulen, Ballettschulen, Darstellendes Spiel an Gymnasien klagen über Kämmerer, die ein „Streichkonzert“ nach dem anderen inszenieren. Während sonst Investieren groß geschrieben wird, soll auf dem Kultursektor massiv gespart werden. Ist er doch nicht lukrativ, nicht gewinnbringend, sondern durchgängig subventionsabhängig. Der tragische Denkfehler in diesem Kämmmerer-Modell ist allerdings, dass als einziges Kriterium der Geldvergabe – als wäre die Stadt eine Bank – nur die aus der Marktwirtschaft geliehene Maxime zugelassen wird, Gewinn zu machen. Wobei Gewinn eben nur in Geldform gedacht wird. (Dass die EU im Kern ein beispielloses Subventions-Groß-Theater ist, scheint niemanden dagegen zu stören) Der eigentliche Gewinn jeder kulturellen Investition – das gute Wir-Gefühl beim Gestalten und Erleben gleichermaßen – wird einfach nicht als eigenständiger Wert gesehen, weil er nicht im Geldwert aufgeht. Die Folge? Der durch die zivilisatorische Sogwirkung verausgabte Zeitgenosse – mehr und mehr darf er sich nur noch als geldwerter Einzelkämpfer definieren, der eiskalt und skrupellos jeden Konkurrenten hinter sich lassen soll – entfremdet sich zunehmend nicht nur von sich selbst, sondern auch von seinen Mitmenschen. Er erlebt kaum noch dieses wohltuende Wir-Gefühl in einem kulturellen Geschehen, sieht im anderen eher eine Bedrohung als einen Gleichgesinnten, und verarmt so unmerklich an Geist und Seele. Da ist auch keine Zeit und auch kein Ort mehr für das Nachdenken über die eigene Geschichte, die eigene Kultur. Ein völlig unsichtbarer, aber beängstigender Prozess in Gesamteuropa, der nicht zuletzt wegen des Lärms und des blendenden Lichts der zivilisatorischen Ermächtigungsrituale keine Chance hat, auf sich aufmerksam machen zu dürfen. Man käme sich ja vor wie ein Spielverderber, Nestbeschmutzer oder eben einfach wie ein Versager.

In der nächsten Meditation (#33) soll noch genauer auf diesen eklatanten Gegensatz und die desaströsen Auswirkungen für Europa eingegangen werden. Rückmeldungen sind sehr erwünscht vorab.