14 Mai

Erzähl mir keine Geschichten! Nr. 8 – Leseprobe

Der Blick aus den Fenstern in den alten Park. Vogeltänzerei.

Diese beflügelte Leichtigkeit befiederter Tänzerinnen und Tänzer ist in ihrer Stille und Akrobatik Natur gewordene Schönheit, von der sie allerdings nichts wissen, genauso wenig wie von den herrlichen Melodien ihrer Lockrufe und Reviergesänge, die sie Tag für Tag der Welt verschwenderisch schenken. Nur wir Menschen umhüllen sie noch zusätzlich mit dem Etikett der Vergänglichkeit. Wie überflüssig, wie pharisäisch! Denn anders als in der lebensfrohen Vogelwelt verstecken wir nur allzu gerne in unseren eigenen schön geredeten Wortgirlanden die düsteren Momente unseres Tuns. Als zäher Nebel kommen sie aber immer wieder zurück in unsere Erinnerungsarbeit, manchmal sehr, sehr viel später. So wie die Geschichte um die polnischen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen, die auch im Rheinland unter wahrlich unwürdigen Bedingungen arbeiten mussten – die größten Anstrengungen galten dabei aber der Arbeit am Überleben. In Beuel genauso wie in Siegburg, um nur zwei der zahllosen miesen Nester nationalsozialistischer Unterdrückungsorte zu nennen.

Beuel: in der Zeitung dieser Tage ein gestelltes Foto adrett hergerichteter Polinnen, die in ihren Gesichtszügen die Kränkung und die Angst kaum verbergen können, die sie Tag und Nacht in ihrem Würgegriff halten. Jadwiga Pawlowska. Eine von vielen. Sie lebten dicht gedrängt in überfüllten Baracken. Jadwiga Pawlowska starb unter menschenunwürdigen Bedingungen. Tuberkulose, keine ärztliche Hilfe, sie wurde einfach weggesperrt, bis sie starb. Jadwiga Pawlowska. Ein Name unter vielen in Beuel. 1943 – 1945.

Siegburg: Illa (94) erzählt ihrem Sohn beiläufig, dass sie im Betrieb auch polnische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen gehabt hätten. Jeden Tag habe sie eine Suppe für sie gekocht. In welchen Baracken haben sie hausen müssen? Wer waren die Aufseher? Der Sohn versäumt, nachzufragen, die Mutter wechselt das Thema. Was wussten die Seilers von ihren Lebensbedingungen vor Ort, wie wurden sie im Betrieb behandelt? Gab es da auch eine Jadwiga, eine Malgorzata? Tuberkulose? Wo sind sie beerdigt? Was geschah nach den Tagen der Kapitulation am 8. Mai 1945? Wechselte nun die Angst die Seiten? Fürchtete man auf dem Stallberg die Rache der Gedemütigten?

Wie sagt doch Sting in seiner Autobiographie „Broken Music“: „Wir sind alle Trappistenfamilien, jeder gefangen in seinem eigenen Schweigen“. Das haben die Eltern in nachhaltigem Unterricht jeden Tag am Esstisch ihren Kindern beigebracht: zu schweigen. Jadwiga? Wir kennen keine Jadwiga. Was ist das überhaupt für ein komischer Name? Wo hast du das her? Hast du schon die Hände gewaschen? Ab! Aber dalli. So ging das. Und wir Kinder in unserer Angst waren brave Schülerinnen und Schüler im Fach Schweigen.

Später werden wir es unseren eigenen Kinder als Normalfall weiter vorleben. Und unter einem Berg von Werbespots und schriller Musik ist Jad-wiga dann höchstens noch ein hohler Klangkörper fast so wie Rot-China.

Jenseits solchen Schweigens bleibt aber die Stille im Park einfach nur wunderbar, der Lufttanz der Meisen und Amseln kostenlose Schönheit und der vielstimmige Gesang abends und morgens ein reiches Geschenk hochbegabter Sängerinnen und Sänger. Just for free.

Jadwiga – auch ein schöner Klang. Wenn auch mit einem sehr traurigen Unterton.

Małgorzata Chodakowska (* 9. Mai 1965 in Łódź, Polen) ist eine polnische Bildhauerin, die seit 1991 in Dresden lebt und arbeitet. Sie besitzt neben der polnischen seit 2018 auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Neben den sogenannten „Stammfrauen“ – überlebensgroßen Holzskulpturen, die im Stück aus Baumstämmen gehauen werden – gestaltet Chodakowska auch Brunnenfiguren sowie Preisskulpturen für Wettbewerbe. Besondere Aufmerksamkeit erhielt ihre Skulptur Trauerndes Mädchen am Tränenmeer, die seit 2010 in Dresden an die Bombardierung der Stadt 1945 erinnert.

10 März

Autobiographische Blätter (Leseprobe)

„…Jeder gefangen in seinem eigenen Schweigen.“ (Sting)

Wenn ich versuche, mich in den kleinen, schüchternen Jungen hineinzuversetzen, kommt da außer den nachgetragenen Angeboten aus dem Jetzt kaum etwas an die Oberfläche. Also eher reines Wunschdenken oder wilde Wut, je nach dem.

Also erzähl mir keine Geschichten!

Er sitzt unter den beiden Kirschbäumen (sind das die, in denen seine Eltern am 20. Juli 1944 gerade Kirschen pflückten, als dieser Junge angerannt kam und rief: „Frau Sylsem, Frau Sylsem, der Hitler ist tot!“?), vor seinem Wigwam im Schneidersitz und starrt vor sich hin. Er will wohl Eindruck schinden. Aber keiner sieht ihn in dieser imposanten Kleinkindpose. Die Augenbrauen herunter gezogen, die Augen zornig blau, die Lippen geschürzt, die kleinen Hände auf den Knien. Nur die Amsel scheint ihn wahrzunehmen und singt unverdrossen ihre wunderbaren Melodien dazu. Staubkörner glitzern in den warmen Sonnenstrahlen, die Kornfelder um ihr Wohnhaus herum duften schwer und gelb und die beiden hohen Pappeln stehen stumm da, wie gelangweilte Wachsoldaten. Und die große Trauerweide am Eingangstor gibt auch keinen Ton von sich. Ihr Stummsein ist um vieles prächtiger als das des ängstlichen Knaben, der ich bin. Ich bin mir noch gar nicht begegnet bisher. Und es wird noch sehr lange dauern, bis sich das ändern wird. Jetzt aber interessiert ihn die nutzlose, vergeudete Zeit nicht. Bleiern legt sie sich über meine Sinne, ich komme mir vor wie in einem viel zu großen und schweren Taucheranzug. Nur den eigenen Atem höre ich, doch was draußen lärmt, dringt nicht zu mir und der neugierige Blick durch das Bullauge des massiven Metallkopfes verzerrt zusätzlich all das, was ich gelangweilt wahrnehme.

„Franzel! Essen ist fertig!“ Die sonore Stimme meiner Mutter holt mich aus meinem bedeutungsschweren Simmelieren. Wortkarg der Vater, bemüht die Mutter, still das Kind, das ich bin. So sitzen sie am Mittagstisch. Punkt zwölf kommt der Vater über die Straße von der Fabrik und will die heiße Suppe auf dem Tisch dampfen sehen. Wie immer zaubert seine Frau, meine Mutter, ein köstliches Mahl für uns herbei. Und hinterher – ihr Mann ist wieder im Büro, ihr kleiner Sohn verschwindet lautlos in seinem Dachzimmer, die Schwester in ihrem weißen Mädchenzimmer mit eigenem Balkon – verschwindet alles in der Küche wie von Zauberhand. Manchmal höre ich sie dabei summen oder sogar singen. Sie hat eine warme, volle Stimme. Die kenne ich ja nun schon seit meiner Zeit in ihrer Gebärmutter. Auch die klassischen Musikstücke, die sie sonntags zum Frühstück auflegt – immer wieder Beethovens „Pastorale“ oder der Gefangenenchor aus Nabucco – lagern wie alte Erdschichten in mir. Oft werden mich später unvermittelt Gefühlswallungen überfallen, wenn ich bestimmte Melodien höre oder üppigen Gesang. Tränen melden sich als Begleitmusik ungefragt dazu. Der Ton eines Cellos ist besonders überwältigend. Peinlich. Im Vertuschen bin ich ziemlich erfolgreich. Es scheint – von heute her gesehen – als hätte ich all meine Sinne knallhart darin trainiert, alle Eindrücke abzuwimmeln, nicht wahrzunehmen und mein Gedächtnis auf Durchzug zu stellen. Keiner soll mitbekommen, was mich bewegt, keiner.

Wenn ich dann im Keller meine Märklin-Eisenbahn fahren lassen – das metallene Sausen dabei hat etwas Beglückendes für mich, das ich natürlich nach außen auf gar keinen Fall zeigen will – komme ich mir wohl auch für einen Augenblick stark und wichtig vor, denn die Lokomotive macht genau nur das, was ich ihr erlaube. Als wäre ich in einer Höhle, tief unter der Erde, und die kleinen Lämpchen der Lok grinsen mich an, als wären wir Kumpanen oder Verschwörer in einer unentdeckten Zauberwelt. Dann meldet sich wieder ungefragt Frau Langeweile. Irgendetwas zieht ihn in seinem Bauch nach unten. Kurz vor der Übelkeit. Da hilft nur, mit dem Rad los zu fahren und einfach im Viertel auf dem Stallberg meine Runden zu drehen, mit einem Gesichtsausdruck, als wäre ich gerade unterwegs in wichtiger Mission, wo außer Flucht vor mir selbst sonst rein gar nichts ansteht. Nur ja niemanden dabei anschauen! Ich strenge mich ordentlich an, einen wichtigen Gesichtsausdruck abzuliefern, als wüsste ich genau, warum ich hier trampelnd Zeit in den Boden stampfe.

06 Sep.

Autobiographische Blätter – Leseprobe (AbB – Dekameron # 83)

Lordum und Lukimeeló auf ihrer Pilgerreise durch Pentagonien

Noch schwer vom warmen Regenguss tropft es plätschernd von den glänzend grünen großen Blättern herab auf den moosnassen Boden. Über den weiten Wald schweben feine Nebelschwaden – mal lang und schmal, fast wie riesige Schlangen, mal üppig prall wie kleine Sahnegebirge – garniert von vorsichtigen Vogelstimmen, die nach dem heftigen Donnergrollen ihre eigenen Melodien ausprobieren. Wie beim Stimmen der Instrumente im Konzertsaal so schwillt auch hier am Rande der weiten Savanne ein Töne Proben an und ab, als stünde der Beginn einer großen sinfonischen Dichtung an. Aber das abendliche Naturschauspiel ist ein viel größeres, schöneres als jedes menschengemachte je gewesen ist oder je sein könnte.

Es sei denn, sie besteigen nacheinander die fünf sanften Anhöhen Pentagoniens, so wie Lordum und Lukimeeló es gerade vorhaben. Hand in Hand schlendern sie den sacht ansteigenden Pfad des ersten Hügels hinauf. Barfuß. Vorsichtig weichen sie den groben Steinen aus, die immer wieder aus dem sonst sandfesten Weg herausragen. Immer wieder blicken sie zurück.

„Sind das nicht satte Farben?“ fragt ganz begeistert Lukimeeló. Ein Kribbeln läuft Lordum über die Haut. Denn das farbenprächtige Bild betrachtend gerät auch sein Blut in Wallung – und das nicht nur wegen des Wanderns bergauf. Sie bleiben unvermittelt stehen. Mit den Schultern aneinander gelehnt genießen sie die Buntheit des duftenden Augenblicks und ihre wärmende Nähe. Lordum weiß gar nicht, was er auf ihre Frage antworten soll. So bedeckt er einfach ihre einladenden Lippen mit einem Kuss, an dem sie sich lange festhalten. Lukimeeló hat ihre Augen geschlossen, Lordum schaut sie staunend an. Ist diese Wanderung vielleicht doch nur ein Traum, gibt es Pentagonien vielleicht gar nicht? Er atmet tief durch. Ja, sie sind auf dem Weg nach Sirotilk, dem ersten der fünf Hügel, denn Berge kann man sie eigentlich doch nicht nennen. Sie wirken von weitem eher wie weiche Bäuche oder wohlgeformte Brüste, die die Natur einfach spielerisch aus sich heraus geformt hat. Aber schon von der geringen Höhe, von der sie das weite Land insgesamt überblicken können, erscheint das ganze wie ein bescheidener Archipel: statt Wassermassen umgeben grüne Wälderwogen die fünf Insel. Vielleicht sollten es ursprünglich einmal Vulkane werden, die dann aber beim Wachsen eingeschlafen sind. Ein Lächeln huscht über ihre Gesichter. Während Lukimeeló wollüstig den langen Kuss genießt, steigt in Lordum wie eine unaufhaltbare Flut sein Begehren auf. Mit einem Seufzer löst er sich abrupt von ihren Lippen und ihrem Körper.

„Komm, von ganz oben ist der Blick sicher noch viel schöner“, sagt er leise. Und nimmt ihre Hand und zieht sie hinter sich her. Lukimeeló hätte zwar gerne noch länger den Kuss genossen, aber an seiner Hand weiter hinauf zu steigen, gefällt ihr auch. Ihre Schatten gehen wankend vor ihnen her, das weiche Abendsonnenlicht streichelt nicht nur ihre Rücken, sondern auch die vom Regen immer noch nass glänzenden Sträucher, Gräser, Disteln und Bergblumen. Alles erscheint ihnen unwirklich wirklich, die Ränder der Blätter wie mit starkem Pinsel fixiert, die abziehenden Wolkentürme wie weiße Plumeaus, die fluffig „Dreimal darfst du raten“ spielen „wer bin ich?“ Dabei ändern sie in eleganten Wendungen ihre Fülle wie leichtfüßige Seiltänzer über einem endlosen Abgrund.

Bald schon haben sie das kleine Plateau erreicht, das den Hügel krönt. Weit und breit keine Menschenseele, selbst der Gesang der Vogelstimmen ist von hier oben kaum mehr zu hören. Als wären sie in eine andere Welt gewandert. Aus ihren rund geformten Lippen stoßen sie ruckartig ihren Atem aus.

„Hier ist gut sein…“, beginnt Lordum, aber Lukimeeló kennt den Text allzu gut und unterbricht ihn laut lachend:

„Ja, ja, schon gut! Wir müssen gar keine Hütte bauen, wir können auch unter freiem Himmel hier übernachten – oder?“

Lordum ist sprachlos. Glücklich. Erleichtert. Sie will es also auch. Die Sonne wandelt sich in großer Pose in eine rote Feuerkugel.

„Wir haben den ersten Gipfel erreicht.“ „Noch nicht ganz!“ erwidert schmunzelnd Lukimeeló.