Autobiographische Blätter (Leseprobe)

„…Jeder gefangen in seinem eigenen Schweigen.“ (Sting)
Wenn ich versuche, mich in den kleinen, schüchternen Jungen hineinzuversetzen, kommt da außer den nachgetragenen Angeboten aus dem Jetzt kaum etwas an die Oberfläche. Also eher reines Wunschdenken oder wilde Wut, je nach dem.
Also erzähl mir keine Geschichten!
Er sitzt unter den beiden Kirschbäumen (sind das die, in denen seine Eltern am 20. Juli 1944 gerade Kirschen pflückten, als dieser Junge angerannt kam und rief: „Frau Sylsem, Frau Sylsem, der Hitler ist tot!“?), vor seinem Wigwam im Schneidersitz und starrt vor sich hin. Er will wohl Eindruck schinden. Aber keiner sieht ihn in dieser imposanten Kleinkindpose. Die Augenbrauen herunter gezogen, die Augen zornig blau, die Lippen geschürzt, die kleinen Hände auf den Knien. Nur die Amsel scheint ihn wahrzunehmen und singt unverdrossen ihre wunderbaren Melodien dazu. Staubkörner glitzern in den warmen Sonnenstrahlen, die Kornfelder um ihr Wohnhaus herum duften schwer und gelb und die beiden hohen Pappeln stehen stumm da, wie gelangweilte Wachsoldaten. Und die große Trauerweide am Eingangstor gibt auch keinen Ton von sich. Ihr Stummsein ist um vieles prächtiger als das des ängstlichen Knaben, der ich bin. Ich bin mir noch gar nicht begegnet bisher. Und es wird noch sehr lange dauern, bis sich das ändern wird. Jetzt aber interessiert ihn die nutzlose, vergeudete Zeit nicht. Bleiern legt sie sich über meine Sinne, ich komme mir vor wie in einem viel zu großen und schweren Taucheranzug. Nur den eigenen Atem höre ich, doch was draußen lärmt, dringt nicht zu mir und der neugierige Blick durch das Bullauge des massiven Metallkopfes verzerrt zusätzlich all das, was ich gelangweilt wahrnehme.
„Franzel! Essen ist fertig!“ Die sonore Stimme meiner Mutter holt mich aus meinem bedeutungsschweren Simmelieren. Wortkarg der Vater, bemüht die Mutter, still das Kind, das ich bin. So sitzen sie am Mittagstisch. Punkt zwölf kommt der Vater über die Straße von der Fabrik und will die heiße Suppe auf dem Tisch dampfen sehen. Wie immer zaubert seine Frau, meine Mutter, ein köstliches Mahl für uns herbei. Und hinterher – ihr Mann ist wieder im Büro, ihr kleiner Sohn verschwindet lautlos in seinem Dachzimmer, die Schwester in ihrem weißen Mädchenzimmer mit eigenem Balkon – verschwindet alles in der Küche wie von Zauberhand. Manchmal höre ich sie dabei summen oder sogar singen. Sie hat eine warme, volle Stimme. Die kenne ich ja nun schon seit meiner Zeit in ihrer Gebärmutter. Auch die klassischen Musikstücke, die sie sonntags zum Frühstück auflegt – immer wieder Beethovens „Pastorale“ oder der Gefangenenchor aus Nabucco – lagern wie alte Erdschichten in mir. Oft werden mich später unvermittelt Gefühlswallungen überfallen, wenn ich bestimmte Melodien höre oder üppigen Gesang. Tränen melden sich als Begleitmusik ungefragt dazu. Der Ton eines Cellos ist besonders überwältigend. Peinlich. Im Vertuschen bin ich ziemlich erfolgreich. Es scheint – von heute her gesehen – als hätte ich all meine Sinne knallhart darin trainiert, alle Eindrücke abzuwimmeln, nicht wahrzunehmen und mein Gedächtnis auf Durchzug zu stellen. Keiner soll mitbekommen, was mich bewegt, keiner.
Wenn ich dann im Keller meine Märklin-Eisenbahn fahren lassen – das metallene Sausen dabei hat etwas Beglückendes für mich, das ich natürlich nach außen auf gar keinen Fall zeigen will – komme ich mir wohl auch für einen Augenblick stark und wichtig vor, denn die Lokomotive macht genau nur das, was ich ihr erlaube. Als wäre ich in einer Höhle, tief unter der Erde, und die kleinen Lämpchen der Lok grinsen mich an, als wären wir Kumpanen oder Verschwörer in einer unentdeckten Zauberwelt. Dann meldet sich wieder ungefragt Frau Langeweile. Irgendetwas zieht ihn in seinem Bauch nach unten. Kurz vor der Übelkeit. Da hilft nur, mit dem Rad los zu fahren und einfach im Viertel auf dem Stallberg meine Runden zu drehen, mit einem Gesichtsausdruck, als wäre ich gerade unterwegs in wichtiger Mission, wo außer Flucht vor mir selbst sonst rein gar nichts ansteht. Nur ja niemanden dabei anschauen! Ich strenge mich ordentlich an, einen wichtigen Gesichtsausdruck abzuliefern, als wüsste ich genau, warum ich hier trampelnd Zeit in den Boden stampfe.