06 Sep

Autobiographische Blätter – Leseprobe (AbB – Dekameron # 83)

Lordum und Lukimeeló auf ihrer Pilgerreise durch Pentagonien

Noch schwer vom warmen Regenguss tropft es plätschernd von den glänzend grünen großen Blättern herab auf den moosnassen Boden. Über den weiten Wald schweben feine Nebelschwaden – mal lang und schmal, fast wie riesige Schlangen, mal üppig prall wie kleine Sahnegebirge – garniert von vorsichtigen Vogelstimmen, die nach dem heftigen Donnergrollen ihre eigenen Melodien ausprobieren. Wie beim Stimmen der Instrumente im Konzertsaal so schwillt auch hier am Rande der weiten Savanne ein Töne Proben an und ab, als stünde der Beginn einer großen sinfonischen Dichtung an. Aber das abendliche Naturschauspiel ist ein viel größeres, schöneres als jedes menschengemachte je gewesen ist oder je sein könnte.

Es sei denn, sie besteigen nacheinander die fünf sanften Anhöhen Pentagoniens, so wie Lordum und Lukimeeló es gerade vorhaben. Hand in Hand schlendern sie den sacht ansteigenden Pfad des ersten Hügels hinauf. Barfuß. Vorsichtig weichen sie den groben Steinen aus, die immer wieder aus dem sonst sandfesten Weg herausragen. Immer wieder blicken sie zurück.

„Sind das nicht satte Farben?“ fragt ganz begeistert Lukimeeló. Ein Kribbeln läuft Lordum über die Haut. Denn das farbenprächtige Bild betrachtend gerät auch sein Blut in Wallung – und das nicht nur wegen des Wanderns bergauf. Sie bleiben unvermittelt stehen. Mit den Schultern aneinander gelehnt genießen sie die Buntheit des duftenden Augenblicks und ihre wärmende Nähe. Lordum weiß gar nicht, was er auf ihre Frage antworten soll. So bedeckt er einfach ihre einladenden Lippen mit einem Kuss, an dem sie sich lange festhalten. Lukimeeló hat ihre Augen geschlossen, Lordum schaut sie staunend an. Ist diese Wanderung vielleicht doch nur ein Traum, gibt es Pentagonien vielleicht gar nicht? Er atmet tief durch. Ja, sie sind auf dem Weg nach Sirotilk, dem ersten der fünf Hügel, denn Berge kann man sie eigentlich doch nicht nennen. Sie wirken von weitem eher wie weiche Bäuche oder wohlgeformte Brüste, die die Natur einfach spielerisch aus sich heraus geformt hat. Aber schon von der geringen Höhe, von der sie das weite Land insgesamt überblicken können, erscheint das ganze wie ein bescheidener Archipel: statt Wassermassen umgeben grüne Wälderwogen die fünf Insel. Vielleicht sollten es ursprünglich einmal Vulkane werden, die dann aber beim Wachsen eingeschlafen sind. Ein Lächeln huscht über ihre Gesichter. Während Lukimeeló wollüstig den langen Kuss genießt, steigt in Lordum wie eine unaufhaltbare Flut sein Begehren auf. Mit einem Seufzer löst er sich abrupt von ihren Lippen und ihrem Körper.

„Komm, von ganz oben ist der Blick sicher noch viel schöner“, sagt er leise. Und nimmt ihre Hand und zieht sie hinter sich her. Lukimeeló hätte zwar gerne noch länger den Kuss genossen, aber an seiner Hand weiter hinauf zu steigen, gefällt ihr auch. Ihre Schatten gehen wankend vor ihnen her, das weiche Abendsonnenlicht streichelt nicht nur ihre Rücken, sondern auch die vom Regen immer noch nass glänzenden Sträucher, Gräser, Disteln und Bergblumen. Alles erscheint ihnen unwirklich wirklich, die Ränder der Blätter wie mit starkem Pinsel fixiert, die abziehenden Wolkentürme wie weiße Plumeaus, die fluffig „Dreimal darfst du raten“ spielen „wer bin ich?“ Dabei ändern sie in eleganten Wendungen ihre Fülle wie leichtfüßige Seiltänzer über einem endlosen Abgrund.

Bald schon haben sie das kleine Plateau erreicht, das den Hügel krönt. Weit und breit keine Menschenseele, selbst der Gesang der Vogelstimmen ist von hier oben kaum mehr zu hören. Als wären sie in eine andere Welt gewandert. Aus ihren rund geformten Lippen stoßen sie ruckartig ihren Atem aus.

„Hier ist gut sein…“, beginnt Lordum, aber Lukimeeló kennt den Text allzu gut und unterbricht ihn laut lachend:

„Ja, ja, schon gut! Wir müssen gar keine Hütte bauen, wir können auch unter freiem Himmel hier übernachten – oder?“

Lordum ist sprachlos. Glücklich. Erleichtert. Sie will es also auch. Die Sonne wandelt sich in großer Pose in eine rote Feuerkugel.

„Wir haben den ersten Gipfel erreicht.“ „Noch nicht ganz!“ erwidert schmunzelnd Lukimeeló.

01 Jan

(diesen text darfst du nur lesen, wenn du einen kommentar hinterlässt!) AbB – Neue Versuche (Dekameron) # 81 Leseprobe

Jenseits von Eifersucht und Enttäuschung.

Lukimeeló und Lordum stehen an ihrem Lieblingstreffpunkt in ihrer Heimatstadt Florenz: Auf dem Platz vor der Basilika San Miniato al Monte. Hoch über dem Arno blicken sie weit über den Dom bis hin zu den Bergen. Es ist Vollmond. Die vielstufige Treppe, die Grabmäler des Friedhofs, die Zypressen und Pinien liegen gelassen zu ihren Füßen. Dazu rauschender Zikadengesang – wie ein lustvoller Dauerton aus Düften und Glitzern.

„Sie kommt gerade die Stufen herauf!“ flüstert Lordum.

Lukimeeló nickt. Sie hat sie längst gesehen. Verträumt lehnt sie ihren Kopf an seine Schulter.

„Sie hat uns damals gerettet“, sagt Lordum mehr für sich als für sie. Aber Lukimeeló teilt seine Auffassung ganz und gar. Damals, auf ihrer Flucht vor der Pest, als sie die Langeweile und die Angst mit Geschichten Erzählen bekämpften.

Sie sind nicht nur als Überlebende zurückgekehrt. Sie waren befreit, erlöst, als Geheimbund der Schamlosen in den brüchigen Alltag von Florenz wieder aufgenommen worden. Aber heiterer, leichter, glücklicher. Die Zurückgebliebenen wunderten sich. Irgendwie waren sie nicht mehr die, die geflohen waren. Rätselhaft.

Denn die andauernde Todesangst hatte ihr bisheriges Leben infrage gestellt. Der Druck des Elternhauses, die Erwartungen der Nachbarn, die Drohpredigten von den Kanzeln, all das war von ihnen nach und nach abgefallen. Wenn sie jetzt darüber nachdenken, wird ihnen klar, dass Klipenia, die lebensfrohe Göttin, genau zum richtigen Zeitpunkt in ihr Leben getreten war. Sie waren nur allzu gern bereit gewesen, diese Fesseln, ihre domestizierte innere Natur hinter sich zu lassen.

Seitdem leben sie ein unbeschwerteres Leben, ein stimmigeres. Weil ihre Gefühle endlich in ihre natürlichen Rechte wieder eingesetzt sind. Vor allem das gegenseitige Begehren.Honigwein.

Loyal und verlässlich kümmern sie sich um ihre Kinder und die Familien, laden ihnen nicht mehr die Lasten früherer Generationen auf. Strafen und Ängste sind ihnen keine übereifrigen Ratgeber mehr. So hoffen sie, dass ihre Kinder ihr Leben leichter führen werden, wenn sie jetzt das Haus verlassen, um ihre eigene Zukunft zu gestalten.

Schweigend stehen sie in dieser von einem endlosen Sternenhimmel überwölbten Sommernacht eng aneinander geschmiegt da und schmunzeln.

„Alles erfunden, alles,“ sagt Lordum.

„Und deshalb auch veränderbar,“ ergänzt Lukimeeló.

„Neulich erzählt mir Philomena, sie fühle sich so, als wäre sie das junge Mädchen aus der Zeit vor der Pest – nur ohne die Angst, die damals ihre Gefühle schikanierte“.

Beide kichern. Auch sie erinnern sich natürlich an diese Zeiten. War das ein Zittern, ein Fürchten, ein Schuldgefühle Pflegen. Die Eltern um sie herum überschütteten sie mit Drohungen von Strafen im Diesseits und im Jenseits.

„Selbst meine Tagträume seien Sünde, wenn sie zum anderen Geschlecht spazieren gingen“, erinnert sich Lukimeeló.

„Weißt du noch, wie wir ängstlich hin und her geschaut haben, wenn wir uns heimlich trafen?“

Lordum kann nur mit dem Kopf schütteln. Wie schade aber auch! Wie glücklich hätten sie sein können, wenn sie gedurft hätten. Aber überall standen die erwachsenen Wächter, gingen Streife, versteckten sich hinter Vorhängen. Und ihre Herzen klopften dann oft mehr wegen dieser Wächter als wegen der sehnsüchtigen Blicke, die sie sich verschämt zuwarfen. Nur die Hochzeit lieferte den Ausweg aus den Gefühlsstürmen, alles andere hätte Höllenfeuer bedeutet.

„Und jetzt sind wir endlich frei davon.“ Lukimeeló seufzt voller Behagen. Seit die Zauberin sie berührte, damals im Park am Rundtempel der Eos, sind die Ketten der Domestizierung ihrer Gefühle zerbrochen. Wie leicht sich das jetzt anfühlt, wie beglückend!

„Immer öfter höre ich bei Freunden oder Bekannten, wie sie über Diotíma und Sokrates sprechen, über deren Dialoge zum Eros. Unser Plan scheint aufzugehen“, sagt Lordum.

„Ja, ich wundere mich auch, dass bei vielen Gesprächen im Freundeskreis diese neuen Texte aus dem Symposion im Mittelpunkt stehen.“

„Ist es nicht das beste Beispiel, dass nur oft genug etwas behauptet werden muss und schon wird es als richtig geglaubt.“

„Und wenn dann auch noch solch eine Autorität wie die weitsichtige Priesterin aus Mantineia dahinter zu stehen scheint“, spinnt Lordum ihre Gedanken weiter, „dann wird das Behauptete zur unangefochtenen Wahrheit.“

Die beiden schwelgen in ihren Erinnerungen wie in einem duftenden Garten voller Mohnblüten, Jasmin und Minze. Der Eros kann sich endlich frei ent-

falten. Gleichzeitig bleiben die Verlässlichkeiten innerhalb der Familienbande weiter bestehen. Und wenn die Kinder dann groß sind, finden sich – wie dem Geruch einer süßen Frucht folgend – für einen endlosen Augenblick unter der Schirmherrschaft des Eros die, die sich gut riechen können, wieder. Sexuelle Gewalt und Missbrauch können so aus der Welt geschafft werden, ohne dass sich alte Paare gekränkt trennen müssen. Das gewachsene Vertrauen, die gemeinsame Lebensgeschichte und lieb gewonnene Gewohnheiten schaffen eine Sicherheit, die solche Augenblicke gerne zu vereinnahmen weiß.

„Mir tun die Beichtväter inzwischen richtig leid, wirklich“, sagt Lukimeeló breit grinsend. Sie holt tief Luft, breitet weit ihre Arme aus, um sie dann leidenschaftlich um Lordum herumzuschlingen.

„Hilfe, Hilfe“, ruft Lordum begeistert und lacht aus Leibeskräften. „Warum hast du Mitleid mit diesen enttäuschten Lüstlingen?“

„Genau deshalb, weil sie enttäuscht in ihrem Beichtstuhl sitzen, und keiner mehr dort das sechste Gebot überhaupt erwähnt – in der Tat oder im Geiste unkeusch gewesen zu sein. Sie kommen einfach nicht mehr auf ihre Kosten.“

Glänzend spiegelt sich ein scheinbar schwankender Vollmond weit unter ihnen im gemächlich dahin strömenden Arno. Lordum und Lukimeeló sind voller Zuversicht, dass bald schon viel mehr Lebenslust sich unverkrampft und gar nicht mehr stranguliert wird austoben können, weil kein schlechtes Gewissen, keine Angst vor dem Höllenfeuer mehr die Seelen der Menschen in Panik versetzen.

Denn der Loyalität in den Familien gesellt sich nach und nach eine weise Toleranz hinzu, die sogar mithilft, das hohe Gut selbstverständlichen Vertrauens zu festigen, statt es mutwillig zu untergraben.

Diese und verwandte Gedanken gehen den beiden hier oben auf dem Platz vor San Miniato al Monte durch den Kopf. Manchmal meinen sie zu träumen. Aber es ist wirklich eine Wirklichkeit, die da allmählich in Florenz und in den anderen Städten, in denen der Geheimbund seine Botschaft clandestin verbreitet, wächst und wächst. Die Sinnlichkeit wird endlich wieder in ihre Rechte versetzt, die sexuelle Gewalt verlässt als Verliererin die Bühne, der Missbrauch in Familien und selbst in den Kirchen und Klosterschulen wird bald nur noch eine schlimme Geschichte aus früherer Zeit sein.

„Komm, gehen wir, ich habe Lust nach mehr.“

„Was ich dich immer schon einmal fragen wollte, Lordum: Wie viele Leben hat deiner Meinung nach ein Mensch?“ fragt Lukimeeló.

Lordum schaut sie, als sie die vielen Stufen hinunter gehen, fragend an:

„Wie kommst du denn gerade jetzt auf diese Frage?“

„Nein, nein, mit einer Gegenfrage kannst du meine Frage nicht beantworten, nein!“

Lordum denkt nach. Lukimeeló ist gespannt. Schließlich holt Lordum tief Luft und sagt dann nur:

„Och, das ist doch ganz einfach: drei. Das offensichtliche, das familiäre und das eigene, das geheime.“

Lukimeeló ist sprachlos.

„So ähnlich hätte ich auch geantwortet, wenn du mich gefragt hättest.“

„So ähnlich? Wo liegen denn die Unterschiede?“

Lukimeeló muss eigentlich gar nicht lange nachdenken, tut aber so, als wenn sie es müsste. Bedächtig wiegt sie ihren Kopf hin und her, räuspert sich ein paar Mal, bevor sie Lordum mit ihrer Antwort völlig überrascht:

„Wir leben nachts in unserer Traumwelt, tagsüber in der Alltagswelt und dazwischen in unseren Tagträumen. Und wie geheim diese drei jeweils sind, liegt ganz allein bei dir.“

„An dir ist eine Philosophin verloren gegangen, wirklich!“

Dabei klatscht er beeindruckt in seine Hände.

„Wieso verloren gegangen, mein lieber? Ich b i n eine Philosophin, von der Priesterin aus Mantineia, Diotíma, inspiriert.“

03 Okt

AbB – Neue Versuche (Dekameron) # 78 – Leseprobe

Endlich kann das Begehren sich bewähren.

Lukimmeló und Lordum spüren geradezu, wie die steinernen Portalfiguren ihrer Kindheit zerbröseln. Sie sacken in sich zusammen, als wären sie aus pulvrigem Sand. Beiden wird leichter und leichter ums Herz. Die Morgendämmerung begrüßt sie wohlwollend und voller Behutsamkeit. Langsam. Voller Begeisterung und Begehren gleiten ihre Blicke über die nackten Körper. Die kühle Morgenluft streichelt haarsträubend über sie hin. Und weit über ihnen kreisen jetzt zwei große Greifvögel, Adler wohl, deren spitze Schreie ihnen wie das Auslachen alter und scheinbarer Gewissheiten in ihrem Denken anmuten. Ausgelacht sind sie nun. In sich zerfallen. Kleine Halden verlogener Gewissheiten. Hin. Nun aber blüht endlich wieder natürliches Begehren auf.

„Ich fühle mich so frei, so unendlich frei wie noch nie in meinem Leben“, sagt Lukimeeló zu Lordum.

„Ich auch“, ist alles, was er ihr erwidern kann.

Sie wissen, was für eine verführerische Schlange die Sprache ist. Dieser Quälgeist, er macht im Handumdrehen aus Begehrenswertem Angstschweres. Aus natürlicher Lust unnatürliches Befremden, Schuldgefühle, Vorwürfe. Im Handumdrehen. Jetzt fällt es ihnen wie Schuppen von den Augen. Jetzt lassen sie es mit jedem Atemzug lustvoll aus sich entweichen. Wie einen Dämonenfluch, der sie schon so lange meinte niederzwingen zu dürfen.

Nur wenn dem Begehren gleiches Begehren entgegen giert, können die Sinne – und nur sie – im lustvollen Tanz von Suchen und Finden zum Ziel gelangen.

S e i t e 2

„Komm, komm!“ flüstert Lukimeeló lockend.

Gleichzeitig drückt sie mit beiden Händen ihre beiden Oberschenkel hoch und auseinander. Wie zufällig sieht sie in diesem Dreieck oben am Himmel den Adler kreisen, als wäre er – wie durch einen Zauber- in diesen Raum gebannt, als hätte sie ihn gefangen. Sie selbst fühlt sich dabei so frei wie noch nie. So frei.

Lordum schiebt nun vorsichtig seinen Kopf in die Spitze dieses kühnen Dreiecks und liebkost mit seiner Zunge den kleinen, glänzenden Hügel darin.

Lukimeeló stöhnt gierig gern ihm entgegen.

„Mehr, mehr!“ spornt sie ihn übermütig an, „mehr!“

Sie hatte gedacht, er würde gleich in sie hineingleiten.

Dass er nun mit seinem Kopf zwischen ihren Beinen versunken ist, lässt sie vor Wonne fast zerspringen. Und da sind keine Störeinflüsterungen mehr, die der Freude in die Quere kämen. Da ist nur lustvolle Zustimmung, reines Begehren. Schon kommen in mehreren Wellen von innen her sie überflutende Glücksgefühle nach oben, jubilierende, wie zu freiem Flug abhebende Gesänge. Sein Kopf kommt nun hoch zu ihr. Lippen noch feucht vom berauschenden Trinken am Zauberberg. Gleichzeitig spürt sie, wie wohlige Wärme in sie eindringt, sie völlig ausfüllt. Und sein schönes Stöhnen nimmt sie genauso bereitwillig in sich auf wie seinen warmen Samen, der in ungestümem Schwall in sie hinein sich ergießt.

Als würden Zeit und Raum wie eben erst die morschen Portalfiguren bröselnd in sich zusammen fallen, so scheinen Lordum und Lukimeeló den

S e i t e 3

unverhofften Augenblick zu erleben, dem sie sich endlich frei und ganz hingeben können. Doch jetzt ist es Lukimeeló, die ihn sacht von sich schiebt, um sich stolz über ihm zu erheben und ihn so erneut in sich zu versenken. „Ah, wir sind eins…!“ haucht sie lüstern in sein Ohr, „eins!“

Später – die ersten Morgensonnenstrahlen bringen gerade die vielen Schweißtropfen auf ihrer Haut bunt und wunderbar zum Glitzern – müssen sie immer wieder lachen. Oft völlig unvermittelt. Da purzeln alte Satzgebilde aus dem Kopf in ihr müdes Bewusstsein. Wie Fremdlinge muten sie sich an.

„Kenne ich nicht, weiß ich nicht, brauch ich nicht…“

So oder so ähnlich kommentieren sie die langweiligen Querschläger aus früheren Tagen. Die Großeltern, die Eltern, die Priester, die Lehrer, deren Geplapper kommt ihnen nun vor wie ulkiges Gekrächze. Immer wieder müssen sie in ihrem Tagtraum, den sie nun sich gönnen, fragen: „Was hast du gesagt? Ich verstehe dich nicht, Mutter. Was meinst du damit, Großvater?“ Als wären es müßige Gespräche aus einem verflossenen Leben, einer völlig anderen Welt, die auf einem anderen Planeten wohl gerade stattfinden mag, nicht aber in ihrem Augenblick, den sie beide gerade fühlen. Unverständlich, unvorstellbar, unsinnig. Überflüssig. Wenn sich Lukimeeló und Lordum nun in diesem klaren Morgenlicht von der Seite her anschauen, sind sie sich ganz sicher: ihr vorheriges Dasein war nur Vorspiel auf dem Theater, ein irriger Probelauf, der sich als müßig herausgestellt hat. Sie sind nun endlich frei. Frei wie der stolze Adler oben über ihnen. Gelassen zieht er dort seine Kreise. Kennt keine Angst.

N a c h w o r t

Viele Jahre später in Florenz.

Die Folgen des Sensenmannes, der im Dienste der Pest, so lange und so schlimm in ganz Europa wüten durfte, sind immer noch nicht überwunden. In den Gassen von Florenz wanken in langen, schwarzen Gewändern trauernde Großmütter hin und her. Murmeln Gebete, sprechen mit den Toten, als wären sie noch an ihrer Seite.

„Ja, ja, mein lieber Sohn, pass gut auf dich auf und komm bald wieder heim…“

Tränen laufen faltige Wangen hinab.

„Was hast du gerade gesagt? Du sprichst so leise. Du weißt doch, ich höre nicht mehr so gut.“

Jetzt steht die Alte am Ufer des träge dahin fließenden Flusses. Ganz in Gedanken meint sie das Lachen von Kindern zu hören. Dann starrt sie auf einen Körper, der im Wasser an ihr vorbei zu gleiten scheint. Fast verliert sie ihren Halt und wäre in den Fluss gestürzt, wenn nicht im gleichen Moment eine Schar Tauben dicht vor ihr vorbei geflattert wäre. Sie schreckt hoch und sucht Halt an einer Uferweide. Glück gehabt.

Oder war es Klipenia, die Zauberin, die Mitleid mit der Alten hat?

Ganz in der Nähe fühlt auch Lordum die Nähe der Zauberin. Er erinnert sich an die Nacht, als er diesen hellen Schweif am Himmel gesehen hatte. Lukimeeló neben ihm. Und der Tempel der Eos vor ihnen geheimnisvoll beleuchtet vom Mond. Sie hatte ihn gefragt, ob er sich etwas gewünscht habe. Auch an die Geschwister Gewalt und Angst denkt er – wie damals. Nur haben sie längst keinen Platz mehr in seiner Gefühlswelt.

S e i t e II

Seine Wutrede. Jetzt kann er darüber nur lachen. Natürlich hat er längst geheiratet, hat Kinder. Die studieren inzwischen in Bologna Jurisprudenz. Aber er fühlt sich so frei wie noch nie in seinem Leben. Als würde erst jetzt die Zeit ungebremster Lebensfreude einsetzen. Er schreibt am offenen Fenster gerade einen Brief an die Meisterin ihrer Geheimgesellschaft.

„Liebste, Lukimeeló! Beim nächsten Vollmond möchte ich dich wiedersehen.

Oben vor San Miniato al Monte auf der kleinen Terrasse, von der man diesen wunderbaren Blick hinunter auf den Fluss und den Dom hat.“ Mit Schwung versiegelt er das kurze Schreiben, es soll heute noch mit einem Boten zu ihr gebracht werden, heute noch.

Wie sehr hat sich die Welt für die Flüchtlinge von damals doch verändert!Wie Lordum und Lukimeeló haben auch die anderen Paare, die damals in dieser unvergesslichen Mondnacht bei einander gelegen hatten, die Einflüsterungen aus Kindertagen wie welke Blätter hinter sich gelassen. Sie haben sich die Lebensstufen neu zusammengesetzt. Gewalt und Angst daraus verbannt, für immer. So können sie nun – völlig frei von Schuldgefühlen oder Eifersucht – zueinander finden und die Wünsche der inneren Natur frei in Erfüllung gehen lassen.

Immer wieder und voller Lebensfreude. Und von Jahr zu Jahr wuchs auch ihre Geheimgesellschaft, denn vor allem die griesgrämigen Vertreter der Kirche predigen ja weiter von Sünde, Strafe, Höllenfeuer. Als wäre die Natur in einer Fehlerfalle gefangen, der sogenannten Erbsünde. Darüber können sie insgeheim nur lachen, Lukimeeló, Lordum und all die anderen

von damals samt den vielen neu hinzu gekommenen.

S e i t e III

Mond, Terrasse, Fluss und Dom sind die vier Losungsworte, die den Priestern unverdächtig scheinen, die der Geheimgesellschaft aber Tür und Tor zu ihrem geheimsten Begehren öffnet. Einer wirklichen Welt, in der Sprache und die Purzelbäume der Logik sehr, sehr alt aussehen und nur staunend zuschauen können, was jenseits ihrer künstlichen Gebilde und haarsträubenden Konstruktionen an natürlicher Wirklichkeit unendlich liebenswerter ist.

Nach und nach werden so die Jahrtausende alten Domestizierungen der inneren Natur wieder in sich zusammenfallen und Männer wie Frauen wieder dahin zurückkehren können, wo sie eigentlich ursprünglich gewalt- und angstfrei leben konnten.