10 Juni

Europa – Meditation # 452

                 Der Turmbau im Silicium-Tal  (Teil 2)
Jeder in seiner Blase, jeder will sich als „Sieger“ sehen – nach dieser Europa-Wahl, blitzschnell kommen die Zahlen auf den Bildschirm. Sie spiegeln den Europäern ihre Gedanken wider, als wären es in Stein gemeißelte Botschaften. „Hochrechnungen“ – ein Hoch auf das Rechnen, es gibt so ein gutes Gefühl von Klarheit, Sicherheit, Wahrheit, ja sogar Schönheit! Scheinbar. Aber die Zahlen haben keine Sprache, sie sind furchtbar stumm und kalt!
Gleichzeitig erwärmt sich die Atmosphäre mehr und mehr, Starkregen, Stürme, Überschwemmungen, Waldbrände liegen längst in der globalen Berichterstattung weit vorne, und die Adressaten gewöhnen sich an solche Meldungen, als wären es die letzten Sportergebnisse.  Und wieder baut der homo sapiens weiter an seinem Silicium-Turm, schmückt die blendende Fassade mit graphischen Darstellungen – Kurven, Vektoren, die alle möglichst nach oben weisen – und genehmigt sich den nächsten  „energy-drink“. Gleichzeitig rückt er mehr und mehr ab von dem, was ist und von dem er selbst ein Teil ist: der Natur. Wie mit Lego-Steinen baut er in Tag- und Nachtschichten an „seiner Welt“ (als wäre er endlich der  Besitzer der Welt/“macht euch die Erde untertan!“), die ihm nur als solche erscheint, wenn er mit vollen Tüten aus einer Glitzer-Passage tritt oder bräsig im Sessel irgendeine austauschbare „late-night-show“ zu inhalieren versucht. 
Man muss wirklich kein Sterndeuter sein, wenn man das „Veloziferische“ – das größte Unheil unserer Zeit (Goethe) – als Vegetieren von der Hand in den Mund bezeichnet: So gehen alle Nährstoffe nur in den anschwellenden Bauch; das Gehirn aber bleibt sträflich unterversorgt, leidet nicht nur an Sauerstoffmangel, sondern auch an profunden Grundstoffen, um sich doch noch als selbstständig denkender Mensch wie Münchhausen am eigenen Zopf aus dem Schlamassel zu ziehen. Zu schnell huschen die materiellen genauso wie die intellektuellen Angebote am gierigen Auge vorbei. Leichtfertig delegiert der Europäer immer mehr Not wendende Arbeit an Apparate, die keine moralischen Bedenken kennen, die nur das nach oben lassen, was am häufigsten angeklickt wird. So kommt dem Freizeit-Hengst zunehmend der Unterschied zwischen Qualität und Quantität abhanden. 
Dabei hat es in der  Geschichte der Menschheit schon  immer die beharrlichen Rufer in der Wüste gegeben, die dem Flüchtling Mensch seine Angst austreiben wollten. Statt mutig zu rufen: „Komm mit, Angst!“, trampelt er auf ihr herum, als wäre es Unrat, Schrott, Rost, eben etwas Unmenschliches. Wie sagte schon der uralte Aristoteles: „Wer seine Ängste überwunden hat, ist wirklich frei.“ Und überwunden heißt jedoch alles andere als tot getrampelt. 
Und während dieser Text erfunden wird, wächst gleichzeitig nicht nur der Giftturm an Silicium – wie auch der Berg an weiter strahlenden Uranstäben, die wir lagern wie all den anderen Müll – sondern auch der Müll in den Bergen und auf den riesigen Halden in Afrika und Asien wird mehr und mehr. Für all das haben wir das harmlose Wörtchen „Entsorgung“ erfunden, mit dem wir schamhaft unsere Ratlosigkeit und Sturheit bemänteln. Der Begriff „Entsorgung“ nimmt uns gewissermaßen die Sorge, uns über die eigenen Überforderungen ordentlich Sorgen machen zu müssen Denn für alles gibt es eine „Lösung“ – so auch für die die rasant wachsende Zahl (!) an internet-süchtigen Jugendlichen: längst bauen wir fleißig an neuen Kliniken (natürlich in anspruchsvollstem Design und natürlich voll digitalisiert, auf allen Ebenen!), in denen solche Kranken dem Blick der Öffentlichkeit entzogen werden können. Da schließt sich dann der Kreis – oder sollte man bessere sagen: stürzt die heißlaufende Spirale torkelnd in ihre eigenen Windungen hinab, ins Inferno, wie in Dantes „göttlicher Komödie“ ( es ist wahrlich zum Totlachen!). Und wenn wir schon die „Alten“ bemühen, dann darf natürlich neben Dante und Aristoteles auch Sophokles nicht fehlen, von dem das geflügelte und leichtfertig allzu oft zitierte Wort/Werbegag stammt:
„Ungeheuer ist viel – aber nichts ungeheurer als der Mensch“. Keine Angst?
Was wäre der homo sapiens ohne den Superlativ? Ein Hanswurst, ein Wurm, ein Staubkorn. Ein nichts. 
05 Juni

Europa – Meditation # 451


Der Turmbau im Silicium-Tal. (Teil 1)
1825 merkt Goethe zum Zeitgeist damals an: „das Veloziferische“ sei das größte Unheil unserer Zeit, die nichts reif werden lässt…und so immer von der Hand in den Mund lebt.“ Velocitas – die Eile und Luzifer, der Lichtträger – ein schräger Neologismus, der aber auf den Punkt bringt, was das Problem des homo sapiens war und ist. Da sich das Chaos, das wir Wirklichkeit nennen, nicht in Worte fassen lässt, vereinbaren die Menschen „einfach“, dass es gar kein Chaos ist, sondern „nur“ ziemlich komplex und deshalb schwer in Worte fassbar. Nur Geduld und immer wieder neue Umschreibungen könnten es möglich machen, zutreffende Annäherungen an das, was Wirklichkeit wirklich ist, aus dem Wörterhut zu zaubern. Und es natürlich nicht Zauberei, sondern harte Arbeit zu nennen. Einer der besonders geduldigen und ausdauernden Wortkünstler ist da sicher ein gewisser Herr Kant, der seine Wortgirlanden – mit vielen Nebensätzen verziert – zu scheinbar logischen Ketten verknüpfte, die den Leser unbedingt ermüden werden, was in der Regel dazu führt, dass man erschöpft zustimmt, weil man selbst gar nicht erst zu Wort kam. Eine altbewährte Methode, die auch weniger logisch sprechende Schreihälse schon umwerfend erfolgreich praktizierten. Es muss also immer wieder das Tempo erhöht werden, um in immer kürzerer Zeit immer mehr Wörter, Wortketten und Worttsunamis unterzubringen. Maschinen – von Menschen erfunden – sind da noch effektiver, wenn man einfach alles zwischen 0 und 1 unterzubringen vermag. Und das ist möglich: der Algorithmus liefert nun die beschleunigte Beschleunigung der Wörter rund um die Uhr, pausenlos. Währenddessen kann sich der homo sapiens vom angestrengten Zuhören schlafend erholen oder zumindest meinen, dass er das tut. Denn weder kann er der Wortfülle in sogenannter Echtzeit folgen, noch auch nur Teile davon im Gedächtnis behalten, weil alles viel zu schnell vor seinen Sinnen abläuft. „Von der Hand in den Mund“ – gut, chips ja, Wissen nein. Früher – bereits in der Antike lernte man die 22000 Verse der Ilias und Odyssee auswendig, was zusätzlich angenehme Folgen für das Fassungsvermögen des Gehirns hatte: es vermochte mehr und mehr zu speichern. Wenn heutzutage ein Deutschlehrer die abwegige Aufgabe stellt, ein Gedicht – von sagen wir drei Ströphchen – auswendig zu lernen, werden nicht nur die Schülerinnen und Schüler vehement protestieren, nein, auch die Eltern werden sofort per mail eingreifen: Das sei angesichts der hohen Anforderungen einfach nicht zumutbar, außerdem müsse gerade mit dem Nachhilfelehrer für eine Bio-Klassenarbeit geübt werden! Folge: das Gehirn wird unablässig mit digitalem Trommelfeuer beschossen, die Getroffenen liegen schon bald in den Seilen – oder lagen längst schon in denselben, vom letzten Nachtprogramm oder dem game-boy-level-fight. So kann gar nichts mehr reif werden, weil ja gar nichts mehr gepflanzt wird; es werden höchstens noch Glitzer-Luftschlangen beim Versinken im Off wahrgenommen. Zu denen gesellen sich dann obendrein Schnipsel von politischen Geschehnissen in der Ukraine, Palästina, der Sahel-Zone, Mexiko und Afghanistan, die genauso schnell wie das sonstige Unterhaltungsprogramm bloß aufflimmern und wieder verschwinden – in den Ohren vielleicht noch begleitet von einem schrillen Musikprogramm, das die Kopfhörer unerbittlich ins Ohr tropfen lassen. Alles in allem ein übler Gift-Cocktail.

Der Turmbau im Silicium-Tal ist nichts weiter als ein Trugbild, in dem sich der moderne Mensch wie in einem Vixierspiegel berauscht verliert und alle Möglichkeiten einer Selbstbestimmung an Maschinen deligiert hat. Wenn er sich aber weiter vom zunehmenden Tempo der medialen Dusche berieseln lässt, entgleitet ihm nach und nach jede Teilhabe und humane Gestaltungsmöglichkeit. Dieser Turm ist eine Fata-Morgana, die nur noch in Algorithmen als Mörtel aufgebaut und gleichzeitig wieder als Datei zerbröselt wird.
Wenn Europa aus diesem „größten Unheil unserer Zeit“ entkommen will, wird es nötig sein, Wachstum und Beschleunigung durch eine neue Zauberformel zu ersetzen: Entschleunigen und kleine Flamme. Beides würde eine Wiedergeburt der eigenen körperlichen und geistigen Kräfte in Gang setzen, ein Lebensgefühl der Teilhabe an der Natur wiedererwecken und wirkliche Lebensfreude wachsen lassen. Die eigentliche Renaissance des Menschen und allen kulturellen Lebens weltweit. Mittelalter und Neuzeit würden als zwei selbstbetrügerische Irrwege abgehakt sein; der homo sapiens springt als Münchhausen von der Kugel und wandert stattdessen erstmals als friedliebendes Gemeinschaftswesen durch eine massiv zu reparierende Welt, in der Geld und Eigentum keine Rolle mehr spielen werden.

20 Mai

Europa – Meditation # 450

Der fünfzigste Tag.
Pentekostae Hemera. Schönstes Griechisch, aus dem im Deutschen nach und nach der Zungenbrecher Pfingsten geworden ist. Wer weiß denn heutzutage noch, was hinter der Zahl 50 eigentlich steckt? Schon die Frage setzt etwas voraus, das zunehmend abhanden kommt: Wissen und Wissen Wollen. Längst wischt man sich durch digitale Angebote, wirft kurz einen Blidk darauf, verwendet im nächsten Gesprächsbeitrag cool das fehlende Puzzleteil, schweift erneut ab, schnappt wieder etwas auf, das man nicht weiß, wischt sich erneut durch die vertrauten digitalen Signalstraßen und hüpft so vom Stöckchen aufs Hütchen und so weiter. Gleichzeitig wischt man sich durch die neuen Bilderstrecken von Überschwemmungen in Brasilien, Afrika und im Saarland, gefällt sich in einem zynischen Beitrag: „Na, dann gibt es zumindest zur Zeit keine Waldbrände, wie letztes Jahr“, und lacht dazu ein schmallippiges „Huhuhu!“ und entscheidet gleichzeitig im inneren Tageskalender, dass man am Abend unbedingt einen Blick in die neue Staffel werfen wird, weil die letzte inzwischen so was von ausgelutscht ist, dass man schlecht gelaunt einen Spruch loslässt, wie einfallslos und oberflächlich doch diese Serien seien. Als wäre man selber ein besserer Macher an dieser Stelle, wenn man ihn nur ließe…! So geht auch dieses Wochenende wie ein schlechter Film – bei so einem miserablen Wetter aber auch – am Betrachter vorbei, und die näher rückenden Einschläge im ehemaligen Palästina und der Ukraine sorgen höchstens für zusätzlichen Nervenkitzel. Radikale Siedler im West-Jordanland bringen Laster mit Lebensmittel zum Anhalten und werfen die Ladungen auf die Straße, damit die flüchtenden palästinensischen Familien im Gazastreifen nicht überleben können. Junge Israeli reisen im Bus an, um Schadensbegrenzung und Solidarität mit den traumatisierten Familien in Rafah zu praktizieren; der Zuschauer in der BRD soll stattdessen den 75. Geburtstag „seiner“ Verfassung feiern: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“…Wie langweilig. Zumal keine Fußballspiele anstehen, Jürgen Klopp in Liverpool aufhört (der sollte mal den Laden in München aufmischen! geht es dem Besserwisser in seinem vollautomatischen Fernsehsessel durch den Kopf-Schmerz-Kopf); über Tirol wird er dieses Jahr bestimmt nicht an die Adria fahren, klar, wär‘ er ja schön blöd. Schnäppchen-Flug, klar. Was soll das mit dem fünfzigsten Tag denn eigentlich bedeuten, stört ihn da aufdringlich die Überschrift? Ach so, Pfingsten. Das mit dem schlauen Vogel, da soll den Aposteln doch ein Licht aufgegangen sein: Endlich der volle Durchblick, endlich wurde denen da gesagt, wo es lang gehen sollte. Die Einzelheiten verhandelten dann uralte Männer auf sogenannten Konzilien per Mehrheitsbeschluss: Ein, zwei oder drei Gottheiten – oder einfach alle in einem. Nicht schlecht. Dass aber heute uns Europäern, von den abrahamitischen Religionen nachhaltig geprägt im Denken und Handeln (Salman Rushdie hat mit seinen „satanischen Versen “ dazu ein phantasievolles Ausrufezeichen gesetzt), kein Licht aufgeht, sondern man lieber mit leichtem Gänsehaut-feeling die bedenklichen Erschütterungen im San-Andreas-Graben in Kalifiornien an sich vorbei flimmern lässt, hat schon etwas sehr Befremdliches: wie aufgeregte Ameisen flitzt der homo sapiens durch die Feiertage und meint, selber von all dem Desaster nicht betroffen zu sein. Als könne er in Dauerschleife Zuschauer bleiben in einem planetarischen Geschehen, bei dem er unterdessen fleißig mithilft weiter an dem Ast zu sägen, auf dem er selber selbstgefälllig hockt. Im Roman von Anthony Doerr „Wolkenkuckucksland“ kann der gebildete Europäer gleichzeitig schmunzelnd folgende Textstelle vor seinen Augen Revue passieren lassen: .
„Seymour interessieren die Methanmengen, die im sibirischen Permafrost eingeschlossen sind. Über den Rückgang der Eulenpopulationen zu lesen, hat ihn auf die fortschreitenden Entwaldungen gebracht, die zu Bodenerosion führen, zur Verschmutzung der Ozeane und dem Korallensterben, alles erwärmt sich, schmilzt und stirbt weit schneller, als die Wissenschaftler es vorausgesagt haben, jedes einzelne System auf diesem Planeten ist auf unzählige unsichtbare Weisen mit allen anderen verbunden: Kricketspielern in Delhi wird wegen der Luftverschmutzung in China schlecht, indonesische Torffeuer pumpen Milliarden Tonnen Kohlenstoff in die Atmosphäre über Kalifornien, riesige, Millionen Morgen überziehende Buschfeuer in Australien färben die letzten Gletscher Neuseelands rosa. Ein wärmerer Planet = mehr Wasserdampf = ein immer noch wärmerer Planet = auftauender Permafrost = im Permafrost gebundenes COzwei und Methan geraten in die Atmosphäre = mehr Hitze = weniger Permafrost = weniger Eis an den Polen, das die Sonnenenergie reflektiert, und all die Beweise dafür, all die Untersuchungen stehen in der Bibliothek, jeder kann sie finden, aber soweit Seymour das sagen kann, ist er der Einzige, der sie sich ansieht.“
Der fünfzigste Tag. Man könnte natürliche auch die „Geheime Offenbarung“ des Johannes (NT) zu Rate ziehen – als Szenario, das in Hollywood-Schinken längst rauf und runter bespielt wird – um sich ein Bild vom Untergang zu machen. Aber Angst machen gilt nicht. Dann doch lieber weiter Bespaßen lassen – in Vorfreude auf die kommenden End-Spiele in Berlin und Dublin und die sicher wieder märchenhaft unterhaltsame Europameisterschaft im eigenen Land!