10 Okt.

Europa – Meditation # 416

Herrschaft des Volkes? (Teil. I von III)

Demokratie – ein Mythos, fast so alt wie der von Europa. Fast. Aber wie jeder Mythos hat er etwas Geheimnisvolles, fast Sakrales. Und so wie der Mythos von Europa auf einer Gewalttat eines Mannes an einer Frau beruht, so der von der Demokratie auf einer Lüge – oder zumindest auf einer peinlichen Ungenauigkeit, bzw. leichtfertigen Verallgemeinerung: Denn in dem Stadtstaat Athen, wo dieser Begriff auf der Taufe gehoben wurde, herrschte nun wirklich nicht das gesamte Stadtvolk, sondern lediglich die besitzenden männlichen Patrizier-Schicht. Von Frauen (Sklaven galten ja sowieso nicht als Menschen, sondern als Werkzeuge – nach Aristoteles) ganz zu schweigen.

Und so bleibt es denn auch in der Antike. Auch die italienischen Stadtstaaten der Renaissance sind in diesem Sinne alles andere als Demokratien. Stattdessen liefert ein gewisser Macchiavelli das geistige Gerüst für die Legitimität staatlicher Gewalt gegen innere wie äußere Feinde – notfalls, versteht sich.

Und in der Neuzeit?

In den sogenannten Neuengland-Staaten kommt es dann zu einem neuen Demokratie-Mythos: Er steht in der Tradition der antiken Vorbilder und stellt sich fest, dass die wohlhabenden Bürger und Adligen, die aus Europa in die „Neue Welt“ ausgewandert waren, gottgewollt und von den volljährigen Männern (Frauen und Sklaven „natürlich“ wie in der Antike ausgeschlossen) zum Wohle der Allgemeinheit agieren dürfen – auf der Basis eines Zensuswahlrechts, klar.

Und in der Französischen Revolution dient das amerikanische Modell als Vorbild und Muster, das aber bald schon wieder von einem Kaiser kassiert wurde.

Erst im nächsten Jahrhundert soll in Europa ein neuer Versuch mit dem Mythos Demokratie angeschoben werden – der Traum von der Teilhabe, Mitwirkung und zumindest indirektem Einfluss: Die Weimarer Republik. So sind auch 1933 unter den Wählern, die die NSDAP wählen, Frauen gewesen.

Dann aber – nach dem Zweiten Weltkrieg – verordnen die mächtigen Sieger den deutschen Frauen und Männern gleich in zwei Varianten ein repräsentatives Demokratie-Modell, das alles bisherige in den Schatten stellen sollte.

Eine Nationalversammlung hat es aber weder 1949 noch 1989 gegeben.

(in Teil II wird es um den Frust gehen, der mittlerweile eingekehrt ist)

06 Okt.

Europa – Meditation # 415

Amerikanische Matrix – eine Erwiderung.

In einem Interview mit Moritz Baumstieger in der SZ vom Freitag, den 29. September 2023, kommentiert Karl Schlögel sein neuestes Buch „American Matrix: Besichtigung einer Epoche“ in einer Weise, die nicht unwidersprochen bleiben sollte.

Als es um das Stichwort „The american way of life“ und gleichzeitig um die Entwicklung in Russland unter Lenin und Stalin geht, versucht er die Unterschiede an einem Beispiel zu verdeutlichen:

„Fast gleichzeitig wurden in den USA der Hoover-Damm und in der Sowjetunion deer Damm am Dnjepr bei Saporischschja gebaut. …unter radikal verschiedenen Bedingungen: Ins entlegene Nevada zogen die Arbeiter wegen der hohen Arbeitslosigkeit freiwillig, die am Dnjepr folgten einer Zwangsmobilisierung von oben. Ich scheue mich fast, es so plakativ zu sagen: Auf der einen Seite gab es eine offene Gesellschaft, auf der anderen eine Diktatur.“

Unfassbar! Hier argumentiert ein Wissenschaftler im Gestus der Ausgewogenheit und kritischen Distanz und bemerkt dabei nicht, wie sehr sein Denken von der Ideologie der Marktwirtschaft längst vollständig kolonisiert ist: die hohe Arbeitslosigkeit in den USA nicht als Macht und Gewalt des Dollars gegenüber der Arbeiterschaft zu brandmarken und den Arbeitern Freiwilligkeit zu attestieren, wenn sie in ihrem Elend Minimallöhnen hinterher wandern müssen, kann nur als akademische Borniertheit eines Privilegierten verstanden werden, der die soziale Ungerechtigkeit schönzureden weiß, weil er es sich leisten kann und in ideologischen Phrasen scheinbar eine objektive Position einzunehmen meint.

Das Wirtschaftsmodell, das in Europa erfunden wurde und in den USA – dank der Weite und dem natürlichem Reichtum der gnadenlosen europäischen Eroberern und ihrer Geldgier (Gold als Mythos und Metapher), ideologisch verpackt mit einer blendenden Prädestinationslehre bei heftigsten Kollateralschäden – scheinbar gottgewollt und wie von selbst zugleich die Reichen (WASPs) immer reicher machte und nach dem Weltkrieg auch in Europa als „Brandbeschleuniger“ gerne kopiert wurde, dieses Wirtschaftsmodell als unschlagbare Erfolgsgeschichte zu verkaufen und dem östlichen Modell als Vorbild gegenüber zu stellen, kann man eigentlich angesichts der Krisen, die es nach innen und nach außen erzeugt, nur noch als sträflichst naiv oder eben zynisch borniert bezeichnen.

05 Okt.

Europa – Meditation # 414

Restitution des Denkens in Europa?

Kolonialwarenladen.

Ein gutes Stichwort, um sich peu à peu dem Problem Europas wenigstens ein wenig zu nähern:

1. Die Waren, die in solch einem Laden angeboten wurden, kamen eben aus den Kolonien, die sich die Europäer gewaltsam angeeignet hatten. Die Aufteilung Afrikas am Ende des 19. Jahrhunderts wurde später in den Geschichtsbüchern als Wettlauf bezeichnet: Wer zuerst da war, dem sollte es auch gehören. So wie kleine Kinder im Sandkasten ihren Sandstrich wild entschlossen gegen jeden Eindringling verteidigen, so machten es auch die Europäer in Afrika und Asien. Verbrämt wurde diese gewaltsame Vereinnahmung mit aufklärerischem und christlichem Vokabular, das den Kindern in den Schulen eingebläut wurde als Nächstenliebe oder Entwicklungshilfe.

2. Der Reichtum, der dadurch nach Europa gespült wurde – Parkanlagen und Herrenhäuser in Frankreich und England künden noch heute von solcher Ausbeutung – ist längst verprasst, in zwei Weltkriegen verbrannt und an den Börsen verspielt.

3. Jetzt meldet sich das schlechte Gewissen und man will wenigstens einiges von dem, was man an kulturellen Schätzen Afrikas und Asiens raubte, wieder zurückgeben. Restitution. Geradezu rührend aber auch! Es wird medial als Spektakel verkauft, hochrangige Politiker und Politikerinnen lassen sich dabei beim Hände Schütteln zuschauen – wenn genügend Kerosin zur Verfügung gestellt wurde.

4. Viel wichtiger wäre allerdings, wenn diese Vorgänge in Europa genützt würden, eine Restitution des Denkens herbeizuführen: Denn das Loblied auf die Freiheit und die Demokratie, das in Akademikerkreisen seit dem 18. Jh. leidenschaftlich gesungen wurde und das Denken der Gebildeten wie einen feinen Ausgehanzug kolonisierte, erwies sich im Alltag der Mächte lediglich als Prolog, auf den dann Gewalt, Angst, Unfreiheit und Tod wie die apokalyptischen Reiter folgten. Gnadenlos, grenzenlos, uferlos und im Endeffekt immer auch sinnfrei. Zumindest in dem Sinne, dass Idee und Wirklichkeit so weit auseinander klafften, dass der zugrunde liegende Widerspruch nicht mehr als solcher zu erkennen war und bei vielen immer auch noch ist. Die Privilegierten verschanzten sich borniert hinter ihren Wohlstandshalden, bis die Flüchtlingswellen auch den letzten eines besseren belehrten. Der Planet bittet zur Kasse.