03 Juni

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 187

Das Ende der Regentschaft von Europa auf Kreta. (Teil I)

Beim nächsten Vollmond ist es so weit: Europas Söhne, ihre Zwillinge, sollen sich nun endlich den Thron des Minos von Kreta teilen. Sie hatten geduldig gewartet, wenn auch nicht immer in Gelassenheit, denn viele Entscheidungen ihrer Mutter gefielen ihnen ganz und gar nicht. Sadamanthys und Parsephon hatten vor allem die Strafe für die alten Ratsherren nicht verstanden: Würden sie nicht versuchen, aus ihrem Kerker heraus Gefolgsleute für eine Rückkehr in die Freiheit zu gewinnen? Würden sie nicht versuchen, den Beginn ihrer Herrschaft zu unterlaufen – mit Attentaten, mit Gerüchten? Aber ihre Mutter hatte immer nur abgewunken: „Die große Göttin ist auf unserer Seite. Seid also unbesorgt!“ Das war ihre immer gleiche Antwort auf ihre Zweifel.

Schon weit vor Sonnenaufgang beginnen die Vögel eifrig mit ihrem Gesang. Laut und prächtig. Europa hatte schon ihre Gebete im Tempel der großen Göttin verrichtet, hatte mit ihrer Freundin, der Hohepriesterin Chandaraissa, noch einmal die Feierstunde vorbesprochen. Jetzt wirft sie einen letzten prüfenden Blick in den Thronsaal. Es ist alles so, wie sie es angeordnet hatte. Nur der Weihrauchduft fehlt noch.

Mit schnellen Schritten bewegt sie sich durch die stillen und sie dämmrig einhüllenden Gänge. Dann klopft sie kräftig mit dem bronzenen Minotauruskopf an die Doppeltür zu den Gemächern ihrer Söhne. Es dauert eine Weile, bis ihr geöffnet wird. Die beiden Diener verneigen sich erschrocken vor ihr: „Herrin, verzeiht, wir haben dich noch nicht erwartet!“ „Schon gut, schon gut! Sind die beiden noch nicht auf?“ fragt sie beim Eintreten. Wie können die beiden noch schlafen, geht es ihr durch den Kopf. Jetzt, wo ihr großer Tag anbricht! „Sadamanthys, Parsephon!“ Ihre helle Stimme füllt hallend den Raum. „Steht auf, sonst verpasst ihr noch eure eigene Inthronisation!“ Lachend klatscht sie in die Hände, reißt ihnen die Felldecken vom Lager und staunt, wie groß und kräftig sie doch geworden sind, ihre beiden Söhne, ihre Zwillinge. „He, was machst du da, ich friere!“ meldet sich nörgelnd Parsephon zu Wort. „Wir haben doch noch Zeit, Mutter, bitte!“ nuschelt Sadamanthys. „Nein, habt ihr nicht. Im Thronsaal werden schon bald die neuen Ratsherren und all unsere Ehrengäste eintreffen. Also los, rein in die festlichen Gewänder! Oder wollt ihr vom Volk als Schlafmützen verlacht werden?“

Das sitzt. Wie vom Blitz getroffen springen sie beide auf, steigen in die Wannen mit dem warmen Wasser, lassen sich einseifen, abtrocknen und einkleiden. Europa ist längst wieder unterwegs, um letzte Anweisungen für die Feierlichkeiten loszuwerden. Im gesamten Palast herrscht emsiges Treiben, Laufen, Tragen.

Jetzt schleichen sich die ersten frischen Sonnenstrahlen durch die Fenster, auf dem Dach stehen bereits die Posaunenbläser, um auch den Menschen unter im Hafen den Beginn der Feier anzukündigen.

Nur oben im Olymp – da ist jemand sehr schlechter Laune, ähnlich den alten Ratsherren unten im weitläufigen Kerker der Wächter und Pfleger des Minotaurus. Zeus zürnt Europa wie ein kleiner Junge, dem man vom Spiel ausgeschlossen hat. Und sinnt weiter auf Rache.

21 Mai

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 186

Zeus – schlecht gelaunt – im Kreuzfeuer der Kritik Athenas.

Das Urteil Europas auf Kretas ist kaum verkündet, da kann sich Göttervater Zeus oben im Olymp kaum mehr halten vor Wut, Zorn und Ratlosigkeit. Schnaubend läuft er im Wolkensalon auf und ab. „Was bildet die sich eigentlich ein? Mit einem Blitz könnte ich sie erledigen, wenn ich wollte, mit einem bloß!“ wettert er grummelnd vor sich in. „Was ist denn schon wieder los mit dir, Papa?“, fragt Athena genervt. Entsetzt bleibt Zeus stehen. Das hat ihm gerade noch gefehlt, jetzt in ein Kreuzfeuer mit seiner überklugen Tochter zu geraten. „Nichts, nichts!“ faucht er sie an, als hätte sie ihn beleidigt. „Ach ja?“, spottet sie, „wenn du schon bei ‚nichts‘ so herum zappelst, was für ein Theater wirst du dann erst aufführen, wenn ‚etwas‘ in der Luft läge?“ Diese spitze Zunge seiner Tochter treibt ihn noch in den Wahnsinn. Tief durchatmen, nur nicht ausrasten, flüstert er sich zu. „Jetzt sei mal nett zu deinem Vater, Athena, und erfinde keinen Verdacht, nur weil du so eine blühende Phantasie hast, ja?!“ „Ach ja, wie kommst du denn auf Verdacht? Sollte ich einen haben?“ Sie lässt einfach nicht locker. Zeus ist stolz auf seine Tochter: sie ist so ein kluges Mädchen! Gleichzeitig wirft Zeus noch einen kurzen Blick auf den Gerichtssaal im Palast des Minos von Kreta: Dass die Hohepriesterin Chandaraissa das Urteil noch ummodelt, setzt dem Ganzen noch die Krone auf. Ich muss diesem Siegeszug der beiden Frauen ein gnadenloses Ende setzen. Große Göttin hin oder her, ich muss es einfach tun. Das bin ich meiner Ehre als Gottvater einfach schuldig. „Hast du plötzlich die Sprache verloren?“ holt ihn Athena aus seinen Ränkeplänen zurück ins Kreuzverhör. „Athena, bitte, ich brauche einfach etwas Ruhe. Lauter Probleme da unten sind zu lösen. Da ist es doch klug, nachzudenken, abzuwägen, gegen zu rechnen, gelassen zu bleiben. Das verstehst du doch, oder?“ „Ei, ei, ei , da hat der Papa aber große Geschütze aufgefahren! Fast könnte ich glauben, einen weisen Mann als Vater zu haben!“ „Musst gar nicht die ironische Tour fahren, Töchterchen, ich meine es total ernst damit!“ Gleichzeitig überrollt ihn in seinem Magen die nächste Wutwelle: Diese Europa hat in allem übertrieben, sie muss in die Schranken gewiesen werden. Dass ihm aber im selben Moment ein heißes Lustgefühl durch die Adern jagt, weil er an die Nacht nach der Entführung in Stiergestalt mit ihr in der Höhle auf Kreta denken muss, macht ihn nur noch rasender in seinem inneren Toben. Auf keinen Fall darf er zulassen, dass er denken muss, sie habe ihn erobert, besiegt, unterworfen…Bin ich verrückt? Was sind das denn für Bilder? Da wird oben und unten völlig auf den Kopf gestellt. „Was schnaubst du denn so heftig, Vater?“ holt ihn Athena aus seinem Selbstgespräch zurück ins Kreuzfeuer seiner Kopfgeburt. „Gut durchatmen, ist einfach gesund, meine liebe Tochter, besonders in meinem Alter.“ „Für mich hörte sich das aber eher wie Hecheln an, wie von Magenkrämpfen befeuertes Japsen eines Getriebenen.“ Da verschlägt es ihm den Atem. Sie hat es auf den Punkt gebracht, sie durchschaut ihn. Jetzt nur ja keine Miene verziehen, jetzt ganz ruhig bleiben: „Ich bin die Ruhe selbst, habe Olymp und Welt wie stets unter strengster Kontrolle. Alles im Griff. Ein Glas Wasser wäre jetzt genau richtig für mich.“ Athena kann sich ein Prusten und Lachen kaum verkneifen. Sie nickt und holt ihm ein Glas Wasser von der Bar, tröpfelt aber ein paar Tropfen Nektar mit hinein. „Hier, trink schön langsam, damit du dich nicht verschluckst..“ Zeus nimmt das Getränk, schaut ihr aber dabei nicht in die Augen. Diese Frauen! Europa und Athena, von Hera ganz zu schweigen. Er hat das Gefühl, umstellt zu sein von bevormundenden Wesen, die ihm doch eigentlich untergeordnet sein sollten. Am besten einen kleinen Spaziergang machen. Alleine. Fassung zurückgewinnen. „Ich geh dann mal auf Wolkenwanderung. Tschüss!“

19 Apr.

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 184

Vom Gerücht zum Gericht. Europa, die starke Frau an der Spitze (Teil II).

Suezzos, der Fremde, der im Hafen die Katze aus dem Sack gelassen hatte und damit den Stein ins Rollen brachte, der nun von Gromdas Europa vor die Füße gelegt wird, ist schmunzeln wieder auf dem Weg in den Olymp. Er freut sich diebisch, denn nicht nur kann er so die unfähigen Ratsherren für ihr Versagen öffentlich und ohne dass er persönlich eingreifen muss, bestrafen lassen, nein, auch Tochter Athene wird nun ihr Misstrauen ihm als Vater gegenüber ablegen müssen, denn Europa scheint ja auf Kreta weiter erfolgreich zu sein. Aber irgendwie kann er sich dennoch nicht so recht über seine listige Einlage als Suezzos, der Fremde, freuen. Alle seine Versuche, sich an Europa zu rächen, sind nach hinten los gegangen – ganz gleich, ob er es zusammen mit seinen Brüdern versucht hatte oder mit Äolos, dem Windgott oder mit seiner eigenen Suezzos-Idee – nichts hat genützt, nichts.

Europa ist entsetzt: denn was Gromdas ihr gerade offenbart hat, lässt das gesamte Machtgefüge auf Kreta völlig ins Wanken geraten: Ein Anschlag auf ihre beiden Söhne, auf Chandaraissa, die Hohe Priesterin und auf sie selbst, vom Rat der Alten inszeniert, und von einem von ihnen verraten, um sich selbst zu retten! Sie gibt dem Oberwächter mit gebrochener Stimme Anweisung:

„Sodontis, lass umgehend alle Ratsherren in Ketten legen. Morgen werden sie vor einem Tribunal zu dem Geschehen um den Anschlag auf dem Berg Ida befragt und verurteilt werden, wenn der Vorwurf Gromdas zutreffen sollte!“

Sodontis traut seinen Ohren nicht. Alle Ratsherren verhaften? Das, das hat es noch nie gegeben. Sprachlos starrt er Europa an.

„Aber…“, beginnt er seine Frage, die er jedoch nicht zu Ende formulieren kann, denn Europa schneidet ihm das Wort ab.

„Kein Aber! Tu, was ich dir befehle, sofort!“ Europa hat ihre Stimme wiedergefunden, schneidend und laut fährt sie den Oberwächter an. Der verneigt sich um Atem ringend. Und bevor er den Saal verlässt, holt sie ihn noch einmal zurück:

„Sodontis! Du kannst gleich hier anfangen. Der Ratsherr Gromdas ist der erste, der in Ketten zu legen ist!“

Gromdas, der den Wortwechsel zwischen Europa und dem Oberwächter stumm und verängstigt verfolgt hat, spürt bereits, dass sein Plan sich anders entwickelt, als er gedacht hatte. Dennoch versucht er, sich zu wehren, sich als treuer Ratsherr zu präsentieren, der mit seinem Geständnis doch nur Europa und ihre Söhne unterstützen will:

„Ich bin auf deiner Seite Europa, ich habe doch…“

Aber auch ihm schneidet sie das Wort ab. Sie traut ihm nicht, schließlich ist er allen bekannt für seine zahllosen Intrigen der letzten Jahre. Warum sollte er über Nacht vom Fuchs zum Lamm geworden sein?

„Schweig! Das Tribunal wird entscheiden, ob du schuldig oder unschuldig oder mitschuldig bist!“

Da fasst ihn Sodontis recht unsanft am Arm, fesselt ihn blitzschnell, als habe er das tausend mal geübt, und zieht ihn hinter sich her. Europa hört noch, wie er draußen auf dem langen Gang vor dem Thronsaal weitere Wächter herbei ruft, die Gromdas übernehmen sollen. Er muss sich um die restlichen Ratsherren kümmern.

Ich muss sofort Chandaraissa und Athanama rufen lassen und meine Söhne, geht es ihr durch den Kopf. Wie werden die Kreter diesen Anschlag der Ratsherren aufnehmen, auf welche Seite werden sie sich schlagen? Sie eilt voller Hast durch die Gänge des Palastes und will nur noch eins: Zur großen Göttin beten und zu Astarte. Nie kam sie sich einsamer vor als in diesem Augenblick. Sie muss morgen stark sein, denn sie wird den Vorsitz des Tribunals inne haben, als Regentin. Archaikos, ihr Mann, er fehlt ihr jetzt so sehr. Da fährt ihr wie ein Blitz ein Gedanke durch den Kopf: Und wenn das Ganze von ihm, von Zeus, eingefädelt ist? Wenn er sich an ihr rächen will, weil sie sich ihm entzogen hat? Wer schickt ihr gerade jetzt diesen ungeheuerlichen Gedanken?