03 Aug

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 177

Eine Phalanx versteinerter Gesichter stehen zum Empfang bereit.

Seit Tagen stahlblauer Himmel. Ein kräftiger Ostwind weht übers Meer. Die Reise von Sidon zurück nach Kreta verlief völlig reibungslos – ganz im Gegensatz zu der katastrophalen Hinfahrt. Aber dank der Hilfe des Königs auf der Insel der Göttin Aphrodite, dessen Untertanen Europa, ihre beiden Söhne, Chandaraissa und den Kapitän Chaturo ja nicht nur gerettet hatten, sondern ihnen auch ein großes Segelschiff samt erfahrener Mannschaft überlassen hatte, mit dem sie weiter reisen konnte: Zum Orakel nach Sidon und nun auch zurück nach Kreta.

„Was glaubst du, was uns zu Hause erwarten wird, Mutter?“ fragt gerade Radamanthys Europa. Sie stehen beide an der Reling, schauen auf die wellenbewegte Weite des Meeres vor sich und wissen beide nicht, ob sie Gutes oder Schlimmes erwartet. Aber Europa freut sich dennoch über seine Frage. Sie zeigt ihr, dass ihr junger Sohn bereits sehr wohl Sorgen mit sich trägt, die wahrlich nicht unbegründet sind. Eben erst hatte sie ein langes Gespräch mit ihrer Freundin, der Hohepriesterin Chandaraissa gehabt. Auch sie sprach lange über die Widerstände, die vom Rat der Alten zu fürchten sein werden – trotz des günstigen Orakelspruchs von Sidon. Aber Europa will ihrem Sohn Mut machen:

„Mein Lieber, dass die alten Männer auf Kreta das Orakel nicht akzeptieren wollen, ist uns beiden doch klar. Aber.“ Europa macht eine lange Pause, bevor sie weiterspricht.

„Aber sie werden es akzeptieren müssen. Und du und Sarpedon, ihr müsst sie einfach auf lange Sicht durch kluges Regieren mundtot machen. Wir dürfen ihnen keine Schwachstellen anbieten.“

„Schwachstellen? Was meinst du damit?“

„Nun, zum Beispiel Streit zwischen Brüdern oder mit der Mutter. Das würden sie gerne sehen wollen, um doch noch ihre eigenen Pläne umsetzen zu können. Du weißt, die Leute lassen sich schnell beeindrucken von den Reden des Rates. Wir dürfen ihnen einfach kein Futter dafür liefern.“

Radamanthys nickt nur. Der frische Seewind fährt ihm von hinten durchs lange Haar, fast wir ein brennender Helm wirkt dieses wirre Wehen vor der untergehenden Sonne um seinen Kopf herum. Später kommt Sarpedon noch dazu. Die frische Luft tut ihnen gut. Sie kommen gut voran.

„Wer als erster die Berge sieht, darf auch als erster an Land gehen!“ ruft Radamanthys in den auffrischenden Wind. Sie lachen. Europa ist ja so stolz auf ihre beiden großen Söhne.

Dann – die Sonne versinkt fast schon im Meer vor ihnen – ist es Sarpedon, der als erster Land sieht und damit gewonnen hat.

Als sie später im Hafen anlegen, wundert sich Europa, dass so viele gekommen sind, sie zu begrüßen. Woher wissen sie, dass wir heute zurückkehren? Chandaraissa schmunzelt:

„Unsere alten Herren haben ein sehr gut ausgebautes Nachrichtensystem zu Hand. Mich wundert das gar nicht.“

Und nicht nur das einfache Volk steht neugierig am Ufer, als sie anlegen, nein, auch der Rat der Alten ist vollzählig vom Palast herbei geeilt. Als Europa mit ihren Söhnen, Chandaraissa und Chaturo dann an Land gehen, empfängt sie eine eigenartige Stille. Die Menschen schauen ihnen freundlich aber stumm entgegen. Sie spüren wohl, dass ein Machtkampf unvermeidbar sein wird. Dass sie aber den Schiffbruch überlebt haben, halten die meisten für ein gutes Zeichen der Götter. Ganz anders dagegen der Rat der Alten: Wie ein Phalanx versteinerter alter Krieger, so stehen sie im Halbkreis auf dem Platz, wo früh morgens die Fischstände stehen und gehandelt wird. Und machen Gesichter, als wären es nicht Menschen aus Fleisch und Blut, die einem Unglück glücklich entronnen sind, die da an Land kommen, sondern Geister, Dämonen, denen der Eintritt in die Unterwelt verwehrt worden ist. Schließlich ist es Berberdus, der sich aus der Erstarrung löst, schief lächelnd auf Europa zugeht, sich verbeugt und dann spricht:

„Die Bürger Kretas und der Rat der Alten begrüßt euch erleichterten Herzens. Ihr habt nicht nur ein großes Unwetter überlebt, sondern bringt auch einen Orakelspruch aus Sidon mit, den ihr uns sicher morgen mitteilen werdet. Willkommen zu Haus!“

08 Jul

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 176

Der Geist des Archaikos, des Minos von Kreta, meldet sich zu Wort.

Als hätten die Götter der Winde besonders schwere Wolkenbänke herbei schieben wollen, dräut es über Kreta am nächsten Morgen düster und böig frisch. Die Fischer wissen nicht, ob sie heute nicht lieber Netze flicken sollen, statt sich aufs Meer zu wagen, so dunkel sind Hafen und Berge ihnen vor Augen. Ungewöhnlich, so denken sie, sehr ungewöhnlich zu dieser Jahreszeit. Hat das etwas zu bedeuten? Schlecht gelaunt tauschen sie im Hafenviertel ihre Meinungen aus, jeder weiß es besser, aber keiner kann den anderen überzeugen. Ob es mit dem Tod des Minos zusammenhängt? Oder mit dem Unglück, dass die Frau des toten Archaikos auf ihrer Fahrt nach Sidon zum Orakel ereilt hat? Gestern soll ein Eilbote angelandet sein. Hat der ihren Tod und den ihrer Söhne bestätigt? Aber warum ist es da oben im Palast so still? Und warum beginnt der Tag so wie ein nahendes Unwetter?

Aus dem Verlies des Minotaurus mitten im Park des Palastes dröhnt schon den ganzen Morgen wütendes Gebrüll. Was hat das zu bedeuten?

Chandaraissa, die Hohepriesterin, lässt die Magier rufen. Sie sollen deuten, was die Götter und die große Göttin den Kretern sagen wollen. Auch die Ratsherren kommen erneut zusammen. Sie wissen, dass die Botschaft aus Sidon ihren Plänen zuwider läuft. Was tun? Denn wenn Europa mit ihren beiden Söhnen lebend zurückkehrt, sind die Hoffnungen der Männer der Ratsrunde nicht mehr zu verwirklichen. Dennoch müssen sie die Worte der Magier abwarten.

Die drei Greise – hoch geachtet von allen – sitzen stundenlang im großen Tempel der Göttin, lassen sich immer wieder von Weihrauch umgeben, schweigen lange, flüstern manchmal, nicken oder schütteln mit ihren Köpfen, während die jungen Priesterinnen in den Seitenschiffen hinter den hohen Säulen neugierig alles genau beobachten und kommentieren. Schließlich erheben sich die drei sehr alten und gebrechlichen Männer, winken nach Chandaraissa und eröffnen ihr, was ihnen geoffenbart worden ist.

In Windeseile schwirrt auf den Straßen, den Gassen, zwischen den Häusern unten am Hafen und oben jenseits des Palastes ein Gerücht nach dem anderen durch den dämmrigen Tag, der den Kretern nach wir vor große Angst einflößt. Was werden die Magier zu sagen haben?

Jetzt sehen sie, wie die Hohepriesterin mit zwei ihrer Gefährtinnen zum Palast eilt. Das große Tor öffnet sich schnell und schließt sich noch schneller. Drinnen warten die Ratsherren in der Ratshalle auf Chandaraissa. Als sie angekündigt wird, verstummen die leisen Gespräche der Männer. Es ist dann Berberdus, der Vorsitzende des Rates, der mit großer Geste und kleiner Verbeugung die Hohepriesterin nach vorne bittet. Da wird es ganz still im Saal. Nur die Raben oben im Gebälk machen weiter ihren Flatterlärm, sonst aber warten alle gespannt auf das, was gleich zu hören sein wird.

„Hohepriesterin! Lasst uns hören, was die Magier im Tempel von unseren Göttern vernommen haben, sprecht!“ säuselt Berberdus mit seiner tiefen Stimme. Die Ratsherren nicken zustimmend. Die Spannung spürt Chandaraissa überdeutlich. Dennoch lächelt sie leicht, holt noch einmal tief Luft und sagt dann leise und eher tonlos, als wollte sie so deutlich machen, dass sie nur Sprachrohr ist und nicht selbst Sprechende: „Eine neue Epoche bricht an. Hoffnungsvoll. Nicht nur das Orakel von Sidon, nein, auch die große Göttin und die Götter der Kreter stehen dem Neuanfang helfend zur Seite. Europas Plan, ihre beiden Söhne zur Herrschaft zu begleiten, findet nur ihr Lob.“

Als die Hohepriesterin die Botschaft der Magier verkündet, sieht sie, wie in den Gesichtern, die eben noch von gespieltem Wohlwollen nur so zu strahlen schienen, nun eine aschfahle Enttäuschung Platz nimmt. Die Augen verengen sich, die Mundwinkeln ziehen sich selbst hinunter, die Lippen formen sich zu schmollendem Protest. Das Einziehen der Luft durch die Nasen der alten Ratsherren klingt fast wie ein bedrohliches Rauschen. Zygmontis will es einfach nicht glauben. Dabei wäre er doch der richtige, nächste Minos von Kreta, denkt er empört.

„Und sonst, sonst haben sie nichts gesagt, die Magier?“ entfährt es ihm grollend.

„Nein, mein lieber Zygmontis, nein, das war alles, was sie als ihnen geoffenbart mir mitgeteilt haben.“

18 Jun

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 175

Die neue Botschaft ebnet sich ihren Weg auf Kreta.

Ein scheinbar ganz normaler Tag hier unten im Hafen, während oben im Palast des Minos die alten Ratsherren tagen und tagen. Geheim natürlich. Schließlich geht es um alles, um die Wahl des nächsten Minos, eine Wahl, die Europa und ihre Zwillinge in die Knie zwingen soll. Gerade wird ein Segler am Kai vertäut, der eben eingelaufen war. Nichts besonderes, scheinbar. Locker läuft ein junger Mann über die schmale Planke an Land, wendet sich zielstrebig Richtung Palast, von niemandem beachtet. Doch seine Botschaft wird da oben einschlagen wie ein Blitzschlag, wird die Ratsherren wie aufgescheuchte Hühner durcheinander wirbeln. Denn ihre Pläne werden zu Staub zerfallen, der clandestine Versuch einer Demütigung Europas und ihrer Zwillinge wird ihnen noch übel aufstoßen.

„Wer seid ihr, was wollt ihr? Ihr habt hier keinen Zutritt ohne Geleitbrief!“ schnauzt die Wache den Fremden an.

„Es ist dringend. Ich bringe Neuigkeiten aus Sidon, vom Tempel des Baal. Zieht nicht den Zorn dieses Gottes auf euch!“ erwidert drohend der Fremde.

Dem fährt es eiskalt unter die Haut, was er da hört: Sidon, Baal, Zorn Gottes! Dabei hat Berberdus ausdrücklich betont, niemanden herein zu lassen, niemanden. Der Rat treffe gerade wichtigste Entscheidungen. Doch da hört er sich selbst schon kleinlaut antworten:

„Warte hier, Fremder! Ich werde den Vorsitzenden des Rats fragen, ob ihr vorgelassen werdet!“

„Ja, ja, mach schon, die werden sich sicher freuen zu hören, was ich zu melden habe.“

Der verunsicherte Wächter läuft durch die düsteren Gänge, seine eigenen Schritten hallen wie Hohngelächter in seinen Ohren. Er hat Angst, bestraft zu werden. Diese alten Herren machen kurzen Prozess mit ihm, geht es ihm ätzend durch den Kopf. Warum hab ich den nicht einfach weggeschickt? Jetzt klopft er leise an die Tür des altehrwürdigen Ratssaals. Drinnen Stimmengewirr. Er muss noch einmal klopfen. Lauter.

„Was störst du uns? Du sollst Wache halten, sonst nichts!“ faucht ihn Gromdas an, von dem er weiß, dass er nicht nur bekannt ist für seine Intrigen – sondern auch für seine Quälereien.

„Herr, da ist ein Fremder am Tor, er sagt, er bringe wichtige Neuigkeiten aus Sidon, aus dem Tempel des Baal!“ Er verneigt sich tief, um nicht die Reaktion sehen zu müssen, die seine Nachricht vielleicht auslösen könnte. Ihm scheint es aber eine Ewigkeit zu sein, bis der Ratsherr ihm antwortet, eher flüsternd:

„Was, wie, wer? Bring ihn her, schnell!“

Er verbeugt sich noch tiefer, dreht sich um und rennt zurück. Das Knallen der Tür zum Ratssaal gibt ihm noch die Gewissheit mit auf den Weg durch die kalten, dunklen Gänge, dass seine Nachricht wohl nicht günstig aufgenommen worden ist.

„Los, komm, steh hier nicht so blöd rum!“ schnauzt er den Fremden an, der auch noch frech zu grinsen wagt.

Im Ratssaal allerdings herrscht bedrückende Stille. Verstörte Blicke gehen von Ratsherr zu Ratsherr. Keiner will als erster antworten auf diese ihnen gar nicht genehme Ankündigung. So klingt auch das erneute Pochen an die Tür viel lauter und drohender als das erste, jetzt, wo allen klar ist, dass vielleicht sich ihre wunderbaren Pläne in Nichts auflösen könnten. Erwartungsvoll schauen sie zur Tür, die Zygmontis, der sich schon als nächsten Minos gesehen hatte, jetzt aufreißt.

„Tretet ein, Fremder, wir wollen gerne die Neuigkeiten aus Sidon hören!“ empfängt er mit Säuselstimme den jungen Mann. Der hätte sich aber auch etwas Vernünftiges anziehen können, wenn er vor dem Rat der Alten auftritt, geht es Pallnemvus, dem reichsten Mann auf der Insel, durch den Kopf. Konziliant leitet er ihn nach vorne an den langen Beratungstisch, wo die anderen Ratsherren erwartungsvoll dem Mann aus Sidon entgegen blicken. Der Wächter hatte sich gleich wieder aus dem Staub gemacht. Der Fremde aber genießt seinen Auftritt, schaut schmunzelnd in die Runde, sagt eine ganze Weile gar nichts, nickt nur still vor sich hin, bevor er sich räuspert und dann sagt:

„Das Orakel in Sidon, im Tempel des Baal, hat Europa und den Zwillingen offenbart, dass sie eine neue Epoche auf Kreta einleiten werden, wenn sie wieder zurück sein werden.“