Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 177
Eine Phalanx versteinerter Gesichter stehen zum Empfang bereit.
Seit Tagen stahlblauer Himmel. Ein kräftiger Ostwind weht übers Meer. Die Reise von Sidon zurück nach Kreta verlief völlig reibungslos – ganz im Gegensatz zu der katastrophalen Hinfahrt. Aber dank der Hilfe des Königs auf der Insel der Göttin Aphrodite, dessen Untertanen Europa, ihre beiden Söhne, Chandaraissa und den Kapitän Chaturo ja nicht nur gerettet hatten, sondern ihnen auch ein großes Segelschiff samt erfahrener Mannschaft überlassen hatte, mit dem sie weiter reisen konnte: Zum Orakel nach Sidon und nun auch zurück nach Kreta.
„Was glaubst du, was uns zu Hause erwarten wird, Mutter?“ fragt gerade Radamanthys Europa. Sie stehen beide an der Reling, schauen auf die wellenbewegte Weite des Meeres vor sich und wissen beide nicht, ob sie Gutes oder Schlimmes erwartet. Aber Europa freut sich dennoch über seine Frage. Sie zeigt ihr, dass ihr junger Sohn bereits sehr wohl Sorgen mit sich trägt, die wahrlich nicht unbegründet sind. Eben erst hatte sie ein langes Gespräch mit ihrer Freundin, der Hohepriesterin Chandaraissa gehabt. Auch sie sprach lange über die Widerstände, die vom Rat der Alten zu fürchten sein werden – trotz des günstigen Orakelspruchs von Sidon. Aber Europa will ihrem Sohn Mut machen:
„Mein Lieber, dass die alten Männer auf Kreta das Orakel nicht akzeptieren wollen, ist uns beiden doch klar. Aber.“ Europa macht eine lange Pause, bevor sie weiterspricht.
„Aber sie werden es akzeptieren müssen. Und du und Sarpedon, ihr müsst sie einfach auf lange Sicht durch kluges Regieren mundtot machen. Wir dürfen ihnen keine Schwachstellen anbieten.“
„Schwachstellen? Was meinst du damit?“
„Nun, zum Beispiel Streit zwischen Brüdern oder mit der Mutter. Das würden sie gerne sehen wollen, um doch noch ihre eigenen Pläne umsetzen zu können. Du weißt, die Leute lassen sich schnell beeindrucken von den Reden des Rates. Wir dürfen ihnen einfach kein Futter dafür liefern.“
Radamanthys nickt nur. Der frische Seewind fährt ihm von hinten durchs lange Haar, fast wir ein brennender Helm wirkt dieses wirre Wehen vor der untergehenden Sonne um seinen Kopf herum. Später kommt Sarpedon noch dazu. Die frische Luft tut ihnen gut. Sie kommen gut voran.
„Wer als erster die Berge sieht, darf auch als erster an Land gehen!“ ruft Radamanthys in den auffrischenden Wind. Sie lachen. Europa ist ja so stolz auf ihre beiden großen Söhne.
Dann – die Sonne versinkt fast schon im Meer vor ihnen – ist es Sarpedon, der als erster Land sieht und damit gewonnen hat.
Als sie später im Hafen anlegen, wundert sich Europa, dass so viele gekommen sind, sie zu begrüßen. Woher wissen sie, dass wir heute zurückkehren? Chandaraissa schmunzelt:
„Unsere alten Herren haben ein sehr gut ausgebautes Nachrichtensystem zu Hand. Mich wundert das gar nicht.“
Und nicht nur das einfache Volk steht neugierig am Ufer, als sie anlegen, nein, auch der Rat der Alten ist vollzählig vom Palast herbei geeilt. Als Europa mit ihren Söhnen, Chandaraissa und Chaturo dann an Land gehen, empfängt sie eine eigenartige Stille. Die Menschen schauen ihnen freundlich aber stumm entgegen. Sie spüren wohl, dass ein Machtkampf unvermeidbar sein wird. Dass sie aber den Schiffbruch überlebt haben, halten die meisten für ein gutes Zeichen der Götter. Ganz anders dagegen der Rat der Alten: Wie ein Phalanx versteinerter alter Krieger, so stehen sie im Halbkreis auf dem Platz, wo früh morgens die Fischstände stehen und gehandelt wird. Und machen Gesichter, als wären es nicht Menschen aus Fleisch und Blut, die einem Unglück glücklich entronnen sind, die da an Land kommen, sondern Geister, Dämonen, denen der Eintritt in die Unterwelt verwehrt worden ist. Schließlich ist es Berberdus, der sich aus der Erstarrung löst, schief lächelnd auf Europa zugeht, sich verbeugt und dann spricht:
„Die Bürger Kretas und der Rat der Alten begrüßt euch erleichterten Herzens. Ihr habt nicht nur ein großes Unwetter überlebt, sondern bringt auch einen Orakelspruch aus Sidon mit, den ihr uns sicher morgen mitteilen werdet. Willkommen zu Haus!“