25 Feb.

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 153

Europas List, den Rat der Alten zu umgehen.

„Mutter, ich verstehe überhaupt nicht, was du meinst!“ bricht es aus Parsephon hervor. Europa geht zur Flügeltür, schaut sich nach möglichen Lauschern um und schließt sie geräuschvoll. Ihre beiden Söhne stehen ratlos da und warten zitternd auf eine klärende Antwort.

„Nie hätte ich gedacht, dass so etwas nötig sein könnte. Aber das ungewisse Ende eures Vaters zwingt uns zum Handeln.“

Europa sitzt nun zwischen Samadanthys und Parsephon auf den Stufen des kleinen Hausaltars. Sie wundert sich über sich selbst: Wo kommen meine Worte, meine Ideen gerade her?

„Ich werde Pallnemvus bitten, das Volk umgehend vor dem Palast zusammenzurufen. Dort soll dann für die Dauer der Krankheit des Minos eine Übergangslösung vorgestellt werden, die mit Archaikos und mir abgesprochen sei.“

Europa macht eine Pause, sie holt tief Luft, während die Zwillinge vor Neugierde nicht ein noch aus wissen. Dann fährt sie leise fort:

„Bis der neue Minos bekannt gegeben wird, soll ich als eurer Vormund und Schützerin der Insel euch beiden zur Seite stehen, sodass gewissermaßen ein Triumvirat – von der großen Göttin geweiht – so lange gemeinsam herrscht, bis der Tag der Inthronisation gekommen sein wird.“ Bewusst vermeidet Europa vom Sterben des Minos zu sprechen.

Den Zwillingen verschlägt es die Sprache. Ihre Mutter als ihr Vormund? Das hat es noch nie auf Kreta gegeben. Wie werden der Rat der Alten, wie wird das Volk reagieren?

Als das Schweigen nicht mehr auszuhalten ist, legt Europa ihre Arme um ihre beiden Kinder und sagt:

„Beten. Wir müssen gemeinsam zur großen Göttin beten. Die Hohepriesterin wird uns segnen. Es muss jetzt ganz schnell gehen. Wir müssen Berberdus, dem Vorsitzenden Ratsherrn, zuvorkommen.“

Ohne Antworten der Zwillingen abzuwarten, steht Europa auf und wendet sich wortlos zum Gehen. Mit einer kleinen Geste fordert sie Parsephon und Sadamanthys auf, ihr zu folgen. Zum Tempel der großen Göttin.

Laut hallen ihre Schritte in den langen Gängen wider, das Flattern der Vögel über dem großen Atrium des Palastes wirkt wie das erregte Geflüster der überraschten Menschen, die noch am gleichen Tag erfahren werden, dass erstmals eine Frau als Vormund zusammen mit ihren Söhne die Vollmachten des Minos von Kreta übernehmen wird.

02 Feb.

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 152

Europas Zwillinge im Wirbelsturm der Machtkämpfe.

Als nun Europa die Tür zu den Räumen der Zwillinge aufstößt, bleibt sie – wie zu einer Salzsäule erstarrt – stehen. Ihr fehlen die Worte. Parsephon und Samadanthys am Boden, wild aufeinander einschlagend, schreiend, fluchend.

„Hört sofort auf, sofort!“ Europas Stimme überschlägt sich. Ihre beiden Söhne lassen unwillig voneinander ab, rappeln sich auf, atmen schwer, während ihre Augen weiter Blitze gegeneinander auszusenden scheinen.

Obwohl sie inzwischen junge Männer sind, ist ihre Mutter ihnen immer noch eine mächtige Autorität. Europa läuft aufgeregt vor ihnen hin und her. Sie ringt mit sich. Wie kann sie die beiden bändigen? Schließlich bleibt sie abrupt stehen, atmet tief durch und sagt dann:

„Archaikos liegt im Sterben, der Rat der Alten mauschelt unheilvoll vor sich hin, und ihr vergeudet eure Kräfte in kleinlichem Gerangel?“

Die beiden schauen sich nur verlegen an. Dann versucht Samadanthys ruhig zu antworten:

„Mutter, es tut uns leid. Sag, was du jetzt von uns erwartest, wir werden es tun.“ Dabei schaut er Hilfe suchend seinen Zwillingsbruder Parsephon an. Der nickt nur.

Europa ist erleichtert. Da ist sie wohl gerade im richtigen Augenblick dazwischen gekommen. Wer weiß, wie sich der Streit zwischen den beiden sonst entwickelt hätte.

„Setzt euch und hört mir zu. Die Zeit drängt.“

Im Stillen schickt sie ein Stoßgebet zur großen Göttin – gib mir jetzt die richtigen Worte ein, bitte, Göttin, bitte – die fast schon vergessene Botschaft vom Glück muss doch weitergegeben werden.

Erwartungsvoll schauen die Zwillinge ihre Mutter an. Denn anstatt sie – wie sie es verdient hätten – zurecht zu weisen, behandelt sie die beiden, als wären sie ergraute Ratsherren, mit denen sie eine Krise erörtern muss.

„Ich hatte heute ein sehr unangenehmes Gespräch mit Berberdus, dem Vorsitzenden des Rates der Alten.“

Warum kommt sie nicht gleich zur Sache, denkt Parsephon noch mehr verunsichert. Planen die vielleicht sogar einen Umsturz? Ist unser Leben in Gefahr? Wie in einem hohen Angstturm türmen sich nun die Ängste um die Fragen. Seine Hände zittern. Europa sieht es, geht aber nicht darauf ein.

„Es gibt unter ihnen eine Gruppe, die wollen unsere Familie vom Thron stoßen!“

„Nein, Mutter, nein, das dürfen wir nicht zulassen!“ unterbricht sie Samadanthys, als wäre er noch der kleine Junge, der trotzig seiner Mutter widerspricht.

Europa lächelt, obwohl ihr gar nicht zum Lachen zumute ist.

„Und Archaikos hat immer noch nicht sein Testament schriftlich aufgesetzt.“

Die Zwillinge können es nicht fassen.

„Was? Was sagst du da? Unser Vater, der Minos von Kreta, hat noch nicht…“

Europa unterbricht Parsephon:

„Der Schwächeanfall hat ihn völlig überraschend getroffen. Er hat bisher einfach nicht ans Sterben denken wollen. Jetzt hat er keine Zeit mehr zu zörgern. Und die Ratsherren versuchen ihn Tag für Tag zu beeinflussen. Er fiebert. Ich erreiche ihn kaum noch – als wäre er schon…“ hier bricht Europa ab. Ihr kommen die Tränen. Aber genau das möchte sie jetzt nicht. Vor ihren Kindern will sie stark scheinen. Stark.

Am liebsten würde sie ihren beiden Söhnen von ihrem Traum erzählen, den sie gestern Nacht geträumt hat. Aber sie ist sich nicht sicher, ob das gut wäre. Immerhin hatte sie sich in diesem Traum als Minos gesehen, als die Nachfolgerin von Archaikos, sie die fremde Prinzessin – zwar schon lange die Gattin des Minos, aber eben keine gebürtige Kreterin.

„Mutter, wir müssen handeln. Sofort. Sonst kommen die uns zuvor.“

Schon immer schwankt sie in ihrem Herzen, wer ihr lieber sei, aber jedesmal richtet sie streng über sich: Es gibt keine Unterschiede der Mutterliebe! Und jetzt spürt sie wieder, wie sehr Samadanthys in ihrem Herzen mitten drin wohnt, mittendrin.

„Das sehe ich genauso, Samadanthys. Aber der Rat der Alten wird niemals zustimmen, dass einer von euch beiden jetzt schon der Minos wird – ihr habt die Weihe zum Mann noch vor euch.“

Die Zwillinge schweigen zornig. So ein lächerliches Verfahren. Wir sind doch längst Männer, denken sie beide. Diese Weihe ist doch nur ein Ritual, nur…

„Aber wie sollte denn dann unser Handeln aussehen, wenn unser Vater…“da bricht Parsephon ab. Er will es nicht aussprechen.

„Eine Übergangslösung könnte alle überraschen. Ein Triumvirat sozusagen.“

Die Zwillinge halten die Luft an. Ein Triumvirat. Was denn für ein Triumvirat? Europa ist dieser Gedanken selber gerade erst in diesem Augenblick gekommen.

07 Jan.

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 151

Europa am Vorabend großer Entscheidungen.

Es ist Herbst. Warm immer noch die Luft, hell die Nachmittagssonne. Europa steht oben im Palast des Minos zwischen zwei Säulen und lässt ihren Blick sehnsüchtig übers Meer gleiten. Dunst lässt den Horizont milchig verschwimmen. Wenn doch nur endlich ein Bote heimkehrte! Jeden Morgen betet sie in aller Frühe im Tempel der großen Göttin:

„Omana, Omana, Omana! Schick mir einen Traum oder lass bald einen Boten zurückkehren! Seit Jahren warten wir hier auf ein Lebenszeichen unserer Priesterinnen, die wir in deinem Namen in alle Welt geschickt hatten, die Botschaft vom Glück zu verkünden. Du hast es so gewollt, wir haben dir gehorcht. Was ist aus ihnen geworden?“

Und wenn Europa dann mit geschlossenen Augen dasteht und auf Antwort wartet, dringt nur das Geräusch des Flatterns der Vögel oben im Gesims zu ihr herab. Sonst nichts.

Ihre Söhne sind gewachsen in all den Jahren. Junge Männer jetzt. Archaikos ist alt geworden. Er liegt im Sterben. Jeden Tag kniet sie an seinem Lager, kühlt ihm die heiße Stirn, spricht auf ihn ein:

„Mein geliebter Mann, Minos, Vater unserer Söhne, du musst dem Rat der Alten deinen Willen verkünden. Die Nachfolge muss unbedingt geregelt werden.“

Aber Archaikos scheint es nicht hören zu wollen. Er schweigt, atmet schwer, öffnet seine Augen nicht, hält aber auch ihre Hand fest in der seinen. Was soll nur werden? Seufzend erhebt sie sich. Vielleicht kommt ja heute ein Bote, der wenigstens von einer der Priesterinnen berichten kann. Als sie durch die langen, düsteren Gänge eilt, kommt ihr ein Wächter entgegen. Er verbeugt sich hastig, will seine Botschaft möglichst schnell los werden:

„Herrin! Collschades schickt mich. Er wird den Rat einberufen. Die alten Ratsherren wollen nicht länger im Ungewissen bleiben. Sie wünschen deine Anwesenheit dabei.“

Und noch bevor Europa ihm danken kann, hat er sich wieder verbeugt und ist davon geeilt.

Ich muss mit meinen Söhnen reden. Es darf jetzt keinen Streit, keinen Machtkampf geben. Wie Pfeile fliegen die Gedanken durch ihren Kopf, sie kann ihnen kaum folgen. Was plant dieser Collchades hinter ihrem Rücken?

Als ihr die Wächter vor ihren Gemächern das Tor öffnen, hört sie schon die lauten Stimmen ihrer Zwillinge. Was geht da vor? Warum streiten sie?