08 Juni

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 141

Telephassa und Agenor treffen ihre toten Söhne. (Teil 2)

Chirons Frage trifft die beiden völlig unvorbereitet. Sie wissen selber nicht, warum sie winken. Die drei jungen Fährgäste kümmert das Gespräch nicht. Sie genießen das kalte Nass von Lethe und die Leichtigkeit des Vergessens.

Und als jetzt Chiron mit seinem Boot direkt an Telephassa und Agenor, dem ehemaligen Königspaar von Sidon, vorbeigleitet, schmunzelt er versonnen. Die Gäste im Hades wirken freudlos, aber auch frei von Hass und Neid. Sie schweben geradezu vor Gelassenheit.

„Hallo, ihr beiden, schön, dass ihr uns zugewunken habt. Die neuen Gäste bekommen so gleich ein heiteres Bild von unserer Welt, stimmt‘s?“

Telephassa versucht sich zu erinnern, auch Agenor denkt angestrengt nach. Aber es fällt ihnen nichts ein. Und die drei jungen Männer – draußen in der Menschenwelt hatten sie auch Namen gehabt: Kilix, Kadmos und Phoinix, Brüder von Europa – versuchen sich gerade an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Ihre Eltern, an denen sie gerade vorbei gerudert werden, erkennen sie nicht mehr.

„Wer waren denn die beiden?“ fragt Kadmos den Fährmann leise.

„Ach, die? Das sind zwei, die stehen oft hier um Neuankömmlinge zu begrüßen“, antwortet Chiron möglichst beiläufig.

„Kamen die euch nicht auch irgendwie bekannt vor?“ fragt Kilix seine Brüder; die Antwort des Fährmanns klang ihm nämlich wenig glaubwürdig. Doch die schütteln nur mit ihren Köpfen. Außerdem finden sie die vor ihnen liegende Gegend viel interessanter als diese beiden winkenden Leute. Nebelschwaden hängen wie zerfetzte Laken über dem schwarzen Wasser, das wie mit weißen Flecken bemalt wirkt, die von schwarzer Wasserfarbe wie in lauem Wind bewegt werden. Eine bleierne Stille schwebt über allem. Fahles Licht schimmert von irgendwoher auf das sich entfernende Fährboot. Telephassa und Agenor würden sich eigentlich jetzt gerne streiten, weil sie die Neuankömmlinge nicht nach ihren Namen gefragt haben. Aber eine wohlige Trägheit hindert sie daran. Und ihr Lächeln schwankt hin und her zwischen schelmisch und wehmütig. Die Gefühle dazu sind ihnen aber auch nicht mehr deutlich.

„Komm, gehen wir.“

„Wohin denn?“

„Egal. Hauptsache wir gehen.“

„Hör mal, wo ist eigentlich unser Schiff, mit dem wir hier angekommen sind?“

„Sind wir mit einem Schiff angekommen?“

„Keine Ahnung. Mir ist gerade nur keine andere Frage eingefallen.“

„Ich bin müde.“

„Ich auch.“

30 Mai

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 140

Telephassa und Agenor begegnen sich im Hades. (Teil 1)

Zwielicht. Nebelschwaden. Raunen und Murmeln. Auf Felsbrocken sitzen sie, an stehenden Gewässern lassen sie ihre Beine ins Wasser baumeln. Leere Blicke, fahrige Gesten.

Und über den bleigrauen, schwärzlichen Fluss stakt gerade der greise Chiron die nächste Fuhre in seinem Boot. Hinter ihm – am anderen Ufer des Acheron – verhallt gerade das Gebell von Cerberus, dem dreiköpfigen Wachhund, der keine Lebenden hinein lässt und keine Toten hinaus.

„Mh, wohin soll ich euch denn hin bringen, euch drei Brüder, mh? Sollen wir in den Styx abbiegen oder wollt ihr doch lieber von Lethes Wasser kosten?“

Eigentlich hatte er die Frage nicht wirklich an seine drei Fahrgäste gerichtet. Die sitzen nämlich völlig apathisch in seiner Fähre, kopfschüttelnd in einem fort. Sie hätten gerne den Wunsch ihres Vaters Agenor erfüllt und ihre Schwester Europa gefunden. Dass sie alle drei bei ihrer Suche so jung schon sterben mussten, hätten sie nicht für möglich gehalten – zumal doch Poseidon der Vater ihres Vaters war. Jetzt möchten sie nur noch vergessen, vergessen.

Als habe Chiron ihr Wünschen belauscht, gibt er sich dann selbst die Antwort auf seine eigene Frage:

„Klar, ihr wollt vergessen. Also zu Lethe, kein Problem.“

Und schon biegt er ab. Lethe ist viel schmaler als der Acheron und kälter. Die drei fahlgesichtigen Brüder lassen ihre Hände ins eiskalte Wasser gleiten. Sie spüren die Kälte nicht, ihnen entgeht auch, dass am steinigen Ufer zwei winkende Gestalten stehen, die aus Leibeskräften lautlos rufen und rufen. Mit den Händen schöpfen die drei Fährgäste nun das kalte Nass und trinken es lustlos und selbstvergessen, bis gar nichts mehr in ihren Erinnerungen übrig bleibt. Gar nichts. So erkennen sie auch nicht ihre Eltern, die da zufällig aufeinander stoßen und winkend stehen und inzwischen vergessen haben, dass die drei Neuen ja auch Namen hatten.

„Warum winkst du so hektisch“, fragt Agenor die Fremde, seine Frau, „was gehen dich diese jungen Männer da im Boot denn an?“

„Es war mir, als hätte ich sie schon einmal gesehen!“ erwidert Telephassa vom Winken müde geworden.

„Was wohl unsere Kinder in Sidon – oder wo war es gewesen – jetzt machen?“ fragt sie leise.

„Kinder, welche Kinder? Ich würde lieber diesem Unhold von König Ufroras von Assyrien ein zweites Mal begegnen, damit ich ihn…!“

„Was redest du denn da? Mein Mann, der König, hat mich umgebracht. Frag doch lieber Chiron, wer seine neuen Fahrgästen sind!“

„Frag doch selber!“ zischt Agenor zurück.

„He, ihr zwei, was winkt ihr denn so unbeholfen um die Wette, hä?“ ruft da Chiron im Vorüberfahren, während die drei Brüder weiter das kalte Wasser schlürfen und völlig uninteressiert ins Leere starren.

23 Mai

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 139

Der Abend vor dem großen Fest auf Kreta.

Europas Puls geht doch viel schneller als sie gedacht hatte. Sie hatten heute eine Generalprobe mit allen Höhen und Tiefen.

„Das ist auch gut so!“ hatte Chandaraissa die Pannen, die den Tänzerinnen unterliefen, kommentiert.

„Auch das Wetter wird wohl gut werden, morgen“, mischt sich Belursa kleinlaut ein; sie ist voller Schuldgefühle, war sie doch unglücklich über ihr Gewand gestolpert, als sie ihr Solo hatte.

„Belursa, du wirst morgen schöner und besser sein als je, da bin ich ganz sicher“, erwidert mit strahlendem Gesicht Europa. Kichernd zieht Sarsa, ihre Freundin, sie zur Seite, beide knallrot vor Verlegenheit und Freude.

„Kommt, gehen wir alle zusammen in den Innenhof. Da versammeln sich gerade die Ratsherren und Archaikos vor dem Altar der großen Göttin. Sie wollen sie für das große Ereignis gewogen machen, kommt!“ ruft Chandaraissa in die Runde der tratschenden Priesterinnen, „kommt!“

Die Abendsonne wirft lange Schatten über den Platz, den hohe Säulen nach allen drei Seiten begrenzen, während die vierte Seite, die Fassade des Tempels, noch golden angestrahlt wird.

Der Minos von Kreta hat drei Priester vom Zeustempel mitgebracht, die gerade mit Weihrauchschalen den Altar murmelnd umschreiten. Die alten Ratsherren auf den Knien mit vorgebeugtem Oberkörper – so gut sie das noch in ihrem hohen Alter hin bekommen – murmeln ebenfalls Gebete vor sich hin. Vielleicht auch Flüche auf Archaikos oder die Hohepriesterin. Jedenfalls geben sie sich Mühe, so etwas wie Harmonie zu signalisieren. Das Feuer im flachen Feuertopf auf dem Altar lodert jetzt hoch, als ein Priester Gewürze hinein streut. Oben am Rand der Fassade sitzen wie immer die Raben, tippeln jetzt nervös hin und her, weil da unten so viele Menschen versammelt sind. Dann fliegen sie in lautem Geschrei und wie auf Kommando auf und in großem Bogen über den Platz Richtung mehr.

Überrascht blicken alle nach oben. Viele von ihnen werden jetzt denken: das ist ein Zeichen der Göttin, sie meint es gut mit der Insel. Viele aber werden auch ängstlich dagegen halten: das ist ein schlechtes Zeichen, die Götter schicken uns ein warnendes Zeichen. Was braut sich da vielleicht über Nacht zusammen, was wird der morgige Tag bringen, mit diesem unbekannten Festtanz, über den nun schon seit Wochen geredet, gemunkelt und orakelt wird.

Auch die jungen Priesterinnen waren erschrocken zusammen gefahren, als die Vogelschar so laut krächzend abhob. Sie werfen sich gegenseitig ängstliche Blicke zu. Steht ihr Tanz vielleicht doch nicht unter einem guten Stern? Nur Europa strahlt Hoffnung und Zuversicht aus. Die letzten Sonnenstrahlen spiegeln sich vielfarbig in ihren lachenden Augen. Endlich ist es so weit, endlich, denkt sie dankbar und stolz zugleich.