08 Mai

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 138

Krisensitzung der Olympier auf Kreta.

Talos, der Riese, der Kreta eigentlich vor Piraten oder anderen feindlichen Kriegsschiffen schützen soll, liegt volltrunken im Gras. Er schnarcht, rülpst, furzt und grunzt abwechselnd vor sich hin. Ein jämmerliches Bild bietet sich den drei olympischen Brüdern. Ihr schöner Plan ist völlig daneben gegangen.

Zeus knurrt wie ein Tier vor sich hin. Seine Brüder schauen peinlich berührt ins Blaue.

„Was für ein Versager aber auch, dieser Mini-Riese!“ grummelt er vor sich hin. „Was für ein Versager!“

Hades geht für einen Augenblick der unschöne Gedanke durch den Kopf, dass eigentlich ein ganz anderer der „Versager“ zu sein hätte, eigentlich, aber blitzschnell verjagt er diesen kränkenden und peinlichen Gedanken aus seinem Kopf und sagt stattdessen:

„Mein lieber Bruder, wir sollten einfach die wichtigen Dinge nicht delegieren. Noch ist das Tanzfest, noch ist diese Europa ja noch nicht erfolgreich gewesen. Es bleibt uns immer noch genügend Zeit, unsere Macht den Frauen gegenüber unmissverständlich vorzuführen.

„Wenn die uns nicht mal vorführen!“

Wie ein Blitz aus der Hand des Bliltzeschleuderers huscht dieses Bild Poseidon durch sein Denken. Aber auch er verbietet sich sofort das Erinnern daran.

„Bruder, wir werden am Tag des Tanzfestes hier auf der Insel einfach als Pilger mit dabei sein und ohne viel Aufhebens Nägel mit Köpfen machen. Punkt.“

Poseidon ist erstaunt, dass er das gerade gesagt haben soll. Aber an der Reaktion seines Bruders sieht er, dass es wohl so wahr.

„Wie Recht ihr habt, ihr beiden. Genauso werden wir es machen.“

Dabei wirft Zeus noch einmal einen verächtlichen Blick auf den ächzenden Riesen, der da voller Krämpfe und Zucken seinen Rausch ausschläft.

„Kommt, verlassen wir diesen traurigen Ort. Wir sollten uns in der Bar auf dem Olymp einen ordentlichen Absacker gönnen. Den haben wir jetzt doch redlich verdient – oder?“

Die drei klatschen sich ab, lachen etwas verklemmt, und Zeus ärgert sich dabei über sich selbst, weil er schon wieder an diese Europa denken muss und die unglaubliche Nacht mit ihr in der Höhle hier oben.

03 Mai

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 137

Minos‘ Bote vor der Hohenpriesterin.

Wild klopfende Herzen, schwer gehender Atem, ratlose Blicke und alle auf den Knien im Gebet:

„Göttin, was müssen wir tun, um deinen Zorn zu beschwichtigen?“

Es ist die Hohepriesterin Chandaraissa, die mit zitternder Stimme spricht. Europa kniet neben ihr. Wie Nebelschwaden ziehen ihr undeutliche Bilder durch den Kopf. Sie hört zwar deutlich die Stimme Chandaraissas neben sich, aber ihre eigene innere Stimme flüstert ihr gleichzeitig ganz andere Sätze ins Ohr: Europa, siehst du denn nicht, dass er dir nach wie vor nachstellt? Der Riese war es, der dich treffen sollte, aber verfehlte. Der Riese.

Welcher Riese, denkt Europa. Dabei blickt sie hinunter zum Palast und zum Tempel – oder zu dem, was einmal der Tempel der großen Göttin war. Die Staubwolken haben sich aufgelöst, der Anblick ist fürchterlich. Wären sie nicht zur Probe hier oben gewesen, sie wären jetzt alle tot. Alle. Was für ein Glück im Unglück!

Als sich nun die verängstigten jungen Priesterinnen nach dem Gebet wieder erheben, starren sie alle auf den Pfad hinunter zur Stadt. Jemand läuft auf sie zu. Wer kann das sein? Was wird er wollen? Chandaraissa tritt vor und erwartet den Ankömmling, der vor ihr schwer atmend in die Knie geht:

„Hohepriesterin, Archaikos, der Minos von Kreta, schickt mich. Im Ratssaal haben die Ratsherren zusammen mit Archaikos beschlossen, trotz des Unglücks – oder besser, wegen des Unglücks – das von euch und Europa geplante Tanzfest trotz allem stattfinden zu lassen und es zugleich zu einem Opferfest für die olympischen Götter zu machen, um sie wieder zu versöhnen. Das soll ich euch melden.“

Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Die große Göttin schützt sie alle wirklich sehr.

„Steht auf, Bote! Meldet dem Minos von Kreta, dass wir alles tun werden, um das Fest zu einem Ereignis zu machen, an dem die Götter ihr Wohlgefallen finden können.“

Als der Bote sich wieder entfernt hat, fallen sich die jungen Frauen in die Arme. Trotz der Katastrophe keimt ein zartes Glücksgefühl in ihnen. Und Europa nimmt sich ein Herz und spricht zu allen:

„Ihr Lieben! Die große Göttin hat wohl Großes mit uns vor. So wollen wir sie nicht enttäuschen und werden von heute ab jeden Tag üben, üben, üben. Dann wird euer Tanz nicht nur Archaikos, den Ratsherren und allen Kretern gefallen, sondern auch ihr, der großen Göttin. Sie wird uns die Kraft geben, etwas besonderes, unvergessliches zu schaffen, über das noch nach vielen Generationen gesprochen werden wird. Wir sind dafür von ihr auserwählt worden. Was für ein Glück. Da kommen nicht nur ihr selbst, sondern auch den Priesterinnen und der Hohenpriesterin die Tränen. Glückstränen.

17 Apr.

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 136

Archaikos weiß die Ratsherren zu überlisten. (Teil 2)

Die Fragen, die der Minos von Kreta gerade seinen Ratsherren vorgetragen hatte, sorgen für eine unheimliche Stille im Saal. Nur die schwarzen Krähen oben an den Dachluken laufen hektisch hin und her, flattern mit den Flügeln und hämmern mit ihren Schnäbeln auf die Holzrahmen, dass es unten nur so hohl klopft und klopft.

Archaikos nutzt die Sprachlosigkeit der sonst so beredten alten Männer für einen Vorschlag. Wie aus heiterem Himmel ist ihm die Idee gerade zugeflogen:

„Wenn wir die Götter erzürnt haben sollten, müssen wir ihnen ein großes Opfer bringen, um sie wieder zu versöhnen. Wenn die Hohepriesterin und die Priesterinnen alle überlebt haben sollten, schlage ich vor, das geplante Tanzfest gleichzeitig als großes Opferfest für die Götter des Olymps zu veranstalten.“

Archaikos hält inne. Wie komme ich auf diese Idee, fragt er sich zitternd. Wer wird auf diesen Vorschlag antworten? Da ergreift Berberdus das Wort: „Und wenn sie alle tot sind? Was dann?“

Beifälliges Nicken in der Runde macht Archaikos nur zu deutlich, dass die Ratsherren nur zu gern hören würden, dass die Frauen und ihr Tempel für immer aus ihrem Leben verschwunden wären. Denn schon länger missfällt ihnen der zunehmende Einfluss der Großen Göttin und ihrer Priesterinnen. Und dann der Einfluss dieser fremden Frau, dieser Europa, die der Minos zu seiner Hauptfrau erkoren hat, ohne den Rat dazu befragt zu haben. Sollen sie doch alle dem Zorn der alten Götter zum Opfer fallen, sollen sie doch! Alle!

Da wird das schwere Tor zur Halle heftig aufgestoßen. Alle Blicke richten sich auf den Mann, der da im Gegenlicht schwer atmend steht, sich verbeugt, wartet. Ein Wink des Minos lässt ihn näher kommen.

„Was störst du unsere Beratung, Mann?“ fährt ihn Archaikos barsch an.

Der geht vor dem Thron in die Knie, verbeugt sich erneut, flach liegen seine zitternden Hände auf dem kalten Steinboden. Alle sind gespannt, was er zu sagen hat.

„Herr, großer Herr, Minos von Kreta, ich bringe Nachrichten von der großen Priesterin, Chandaraissa!“

„Mann, du weißt nicht, was du sagst. Sie und die Priesterinnen sind doch unter den Trümmern des Tempels begraben – oder weißt du es besser?“ Die Stimme von Archaikos ist leise, sehr leise, aber doch zugleich schneidend scharf.

„Beim Beben waren sie alle vor der Stadt zu einer Tanzprobe im Freien. Sie leben alle. Die Hohepriesterin hat mich geschickt, das zu sagen.“

Archaikos atmet tief durch. Die Götter sind mit ihm, denkt er erleichtert.

„Damit gilt mein Vorschlag – das Tanzfest wird zugleich Opferfest zu Ehren der Götter sein.“