10 Apr.

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 135

Archaikos im Rat der Alten. Warum zürnen die Götter? (Teil 1)

Völlig atemlos und ratlos wanken die alten Ratsherren in den Sitzungssaal. Krähen sitzen wie immer gelangweilt oben in den Lichtschächten und schauen auf das hektische Treiben herab. Was denn jetzt schon wieder, scheinen sie kopfschüttelnd zu fragen. Ist doch nicht das erste Erdbeben hier auf der Insel. Und uns kann es sowieso egal sein, uns Bewohnern der endlosen Lüfte. Aber neugierig sind sie dennoch.

Da werden ächzend die Flügeltüren zum Palast des Minos geöffnet und mit forschem Schritt tritt er ein, Archaikos. Gerade hat ihm sein Lieblingssklave gemeldet, was mit dem Tempel der großen Göttin geschehen ist. Ob die Alten es als ein schlechtes Omen ansehen werden? Er wird sehr vorsichtig sein müssen.

„Der Minos von Kreta!“ verkündet theatralisch der diensttuende Wächter und klopft mit seinem Stab mehrmals auf die Marmorplatte, dass es nur so wummert.

Man erhebt sich mühsam, verbeugt sich mehr schlecht als recht und wartet auf das Zeichen des Minos Platz zu nehmen.

„Werte Ratsherren! Danke, dass ihr den beschwerlichen Weg hier herauf auf den Burgberg nicht gescheut habt, um mit mir zu beraten, was angesichts der Zerstörungen, die das Erdbeben angerichtet hat…“

Da unterbricht ihn sein Intimfeind Berberdus schroff:

„Zerstörungen? Wir wissen nichts von Zerstörungen. Meines erachtens ist lediglich der Tempel der großen Göttin zerstört – wahrscheinlich sind alle Priesterinnen, auch Chandaraissa, die Hohepriesterin, unter den Trümmern begraben!“

Unheilvolles Rauen geht durch den Saal. In den Köpfen des Ratsherren pocht die Angst wie Kopfschmerzen an die Schädeldecken. Warum schicken die Götter solch ein Unglück über die Insel, über den Tempel? Warum zürnen die Götter?

„Genau!“ Keltberias, der immer alles besser weiß, meldet sich ebenfalls zu Wort, noch bevor Archaikos Berberdus antworten kann.

„Es lastet wohl ein Fluch auf dem Tempel – wie sonst lässt sich sonst dieses grauenvolle Ereignis deuten?“

„Vielleicht missfällt dem Olymp ja die Absicht der Priesterinnen, ein wildes Tanzfest aufzuführen, wer weiß!“

Archaikos ist sprachlos. Dass auch Oreukos, den er bisher für einen treuen Gefolgsmann gehalten hatte, ins gleiche Horn bläst, beschleunigt seinen Puls.

„Meine Herren! Könnte es nicht auch ein bloßer Zufall sein? Hätte es nicht auch diesen Ratssaal treffen können oder die Markthallen unten im Hafen?“

Archaikos hatte seine Fragen mit lauter Stimme vorgetragen und mit einer Miene, die den alten Herren deutlich machen sollte, seht euch vor, seht euch vor, wir sind alle in den Händen der Götter!“

31 März

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 134

Talos übt Felsenbrocken-Weit-Wurf.

„Kommt, stellt euch so auf, wie wir es geübt haben!“ ruft Chandaraissa den jungen Priesterinnen zu. Die sind noch ganz außer Atem. Den Weg vom Tempel hier hinauf auf die Bergwiese sind sie nur gelaufen. Vor Freude. Die Hohepriesterin ist immer gut für eine Überraschung. Europa und Chandaraissa, ihre Freundin, nehmen Platz am Rande der grünen Fläche. Ein Hauch von zarten Farben scheint darüber zu schweben. Der Frühling bei seiner schönen Arbeit.

Und jetzt, als alle – wie schon so oft geübt – auf Lücke neben- und hintereinander stehen, scheint es ihnen so, als zitterten ihre Füße.

Gleichzeitig schieben die drei göttlichen Brüder den schwer betrunkenen bronzenen Riesen Talos vor die Höhle ins grelle Sonnenlicht.

„Na, dann mal los, zeig uns doch mal, was du so drauf hast!“ feuert ihn Poseidon grinsend an. Talos hört es zwar, es macht für ihn aber keinen Sinn, denn auf dem Meer vor ihm sieht er kein Piratenschiff, kein feindliches Kriegsschiff, das er sofort mit einem riesigen Felsbrocken vernichten würde. Das hat er schon oft genug bewiesen. Zeus ist sein Auftraggeber.

„Talos, was ist los mit dir?“ wendet sich nun der Olympier an ihn. „Stimmen vielleicht die Lobeshymnen überhaupt gar nicht, die man hier in Kreta auf dich singt, hä?“ Die beiden göttlichen Brüder Hephaistos und Poseidon kichern dazu um die Wette.

Talos schwankt bedenklich hin und her, die Konturen der Insel verschwimmen vor seinen Augen. Jetzt wird er aber richtig wütend. Zweifeln die vielleicht an seinem Können? Denen werde ich es jetzt aber mal zeigen, grummelt er sabbernd vor sich hin und greift sich einen besonders dicken Brocken. Und wirft ihn in hohem Bogen in die Luft Richtung Meer, meint er. Aber durch sein Schwanken nimmt der riesige Fels eine völlig andere Richtung. Es flimmert ihm vor seinen Augen. Da scheint etwas gewaltig zu Bruch zu gehen.

„Gut, Talos, gut, komm lass noch ein paar mehr runter donnern!“ grölen nun die drei Brüder vergnügt. Polyphem, der völlig verwirrt am Ausgang der Höhle stehen geblieben war, kann es überhaupt nicht fassen: Der wirft ja in die völlig falsche Richtung, denkt er beklommen und sieht, wie unten der Tempel der großen Göttin unter den felsigen Geschosse zusammenbricht. Und wieso lacht da sein Vater, Poseidon, auch noch dazu? Das ist doch eine zum Himmel schreiende Katastrophe. Jetzt spürt er auch ein Beben unter seinen Füßen. Dann sieht er, wie Talos, der gerade den fünften – oder war es sogar schon den sechsten – Fels losschickt, torkelnd zu Boden geht, sich übergibt,rülpst und in tiefen Schlaf fällt. Zeus, Poseidon und Hephaistos applaudieren Talos überschwenglich.

Europa spürt ein Beben und sieht es als erste: Der Tempel der großen Göttin bricht in einer großen Staubwolke gerade zusammen. Ein sehr großes Beben, denkt sie erschrocken.

Die jungen Priesterinnen schreien entsetzt auf, ihre Augen weit aufgerissen, den Zusammenbruch des Tempels überdeutlich vor Augen, wird ihnen sofort klar, dass sie alle tot wären, wären sie dort unten geblieben und nicht hier hoch zur Tanzprobe gelaufen.

Die Hohepriesterin, Chandaraissa, schüttelt nur stumm ihren Kopf. Keiner sagt ein Wort.

„Wir haben großes Glück gehabt“, beginnt sie dann zu sprechen. „Die große Göttin ist uns wohl besonders gewogen. Jetzt müssen wir erst recht das große Tanzfest aufführen – als Dank für unsere Rettung.“

Dem Zeus allerdings, der glaubte, einen besonders pfiffigen Plan ausgeheckt zu haben, um diese phönizische Prinzessin Europa doch noch zu bestrafen, ist gar nicht mehr zum Lachen zumute: Talos, sein Werkzeug für seinen schlimmen Plan, hat zwar den Tempel der großen Göttin prachtvoll zerstört (was ihn auch so ganz nebenbei noch richtig diebisch freut), aber die Frauen müssen gewarnt worden sein. Wie sonst soll er sich erklären, dass sie gerade in diesem Augenblick gar nicht im Tempel sind? Irgendjemand muss es ihnen heimlich zugespielt haben. Aber wer? Hat etwas seine Tochter Athene wieder ihre Hand im Spiel oder vielleicht dieser Stümper Polyphem, dieser missratene Sohn seines Bruders Poseidon? Warum versteckt der sich denn immer noch hinten in der Höhle? Der hat sicher ein schlechtes Gewissen. Bei nächster Gelegenheit soll der mir für diesen Fehlschlag aber ordentlich büßen. Ist mir doch egal, ob der der Sohn meines Bruders ist. Ein Unfall, ja, ein Unfall wird es sein.

20 März

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 133

Die Götter schicken ein schlimmes Beben.

Chandaraissa und Europa sitzen auf einer marmornen Bank vor dem großen Tempel der großen Göttin. Sie lachen. Eine kühle Brise weht vom Meer zu ihnen herauf. Sie können es einfach nicht glauben, dass ihre Idee vom Tanzfest so bald schon wirklich werden wird. Und Europa kann es noch immer nicht fassen, dass sie hier auf Kreta eine so wunderbare Freundin gefunden hat – nach dem völlig verunglückten Verführungsabenteuer mit diesem faszinierenden Fremden, damals in der Höhle. War es doch ein Gott gewesen?

„Du, Europa, ich hab eine Idee“, holt sie ihre Freundin aus ihren mulmigen Gedanken zurück zu ihr, „wir machen die Hauptprobe mit den jungen Tänzerinnen auf der großen Wiese am Fuße des Götterberges. Was hältst du davon?“

Europa ist froh, wieder mit anderen Gedanken beschäftigt zu werden. Sie nickt, strahlt vor Freude und Überraschung: „Das ist eine wirklich gute Idee. Die jungen Priesterinnen werden es genießen, es wird keine ungebetenen Zuschauer geben. Aber wann?“ Chandaraissas Antwort macht sie sprachlos:

„Heute, jetzt gleich.“ „Aber“, beginnt Europa, ohne zu wissen, was sie dazu sagen soll. „Kein aber“, fährt ihr zum Glück die Freundin gleich dazwischen und steht auf, „ich werde die Priesterinnen gleich zusammenrufen.“

Jauchzer schweben durch die Gänge, Kichern, Lachen, helle Stimmen sind zu hören. Dann sieht man auch schon die Frauen wie eine kleine Prozession vom Tempel Richtung Götterberg wandern.

Unsere drei göttlichen Brüder, Zeus, Poseidon und Hephaistos sitzen da schon längst mit dem bronzenen Riesen in dessen hohen Höhle und trinken um die Wette. Ihr Gegröle und Geschmatze hallt widerlich von den Wänden zurück. Talon fühlt sich mächtig wichtig. Noch nie waren die drei göttlichen Brüder bei ihm zu Gast. Zum Glück hatten sie Getränke vom Olymp mitgebracht, samt Mundschenk Polyphem. Die drei Brüder werfen sich gegenseitig verschwörerische Blicke zu. Was haben die vor, fragt sich Polyphem schon wieder. Dass er mittrinken darf, schmeichelt ihm.

„Talos, wir sind eigentlich gekommen, um dich zu loben. Stimmt‘s Brüder?“ fragt da Zeus in die Runde. Sie nicken eifrig, stoßen an, saufen weiter. Talos kommt das Lob doch etwas komisch vor. Was macht er denn schon besonderes? Er schützt Kreta vor Piratenschiffen oder anderen Kriegsschiffen. Er bewirft sie einfach mit Felsbrocken. Das ist seine Aufgabe. Zeus hatte ihn dazu verdonnert. Langweiliger Auftrag. Er rülpst.

„Trink, mein Lieber“, feuert ihn Zeus von neuem an, „trink!“

Was sie im Schilde führen, verraten sie natürlich nicht. Sie sind sich sicher, dass sich Talos hinterher an nichts mehr erinnern wird. Hauptsache, der Tempel und Europa versinken unter den riesigen Brocken. Ein Beben – werden die Menschen später erzählen. Der Götter Zorn. Aber warum?