22 Feb.

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 171

Als hätte die große Göttin sie in einen Traum entführt.

Der Oberpriester hebt beide Arme hoch, weit streckt er sie auseinander, die Handflächen nach oben:

„Holde Göttin, Aphrodite, segne unsere Gäste und schütze mit uns ihre Pläne, damit sie an ihr Ziel gelangen und die Antworten hören, die sie suchen!“

Kaum hat er seinen Bittspruch beendet, setzt ein hohes Summen ein. Die jungen Priesterinnen wollen den Fremden zeigen, wie gewaltig ihr Ton in dieser Tempelhalle schwingt und die Zuhörer mitreißt. Und wirklich: Europa ist tief bewegt, genauso wie ihre beiden Söhne, wie Athanama und Chaturo und die wenigen Seeleute, die den schlimmen Schiffbruch überlegt hatten. Ergriffen stehen sie da, schauen wie benommen auf die große Marmorfigur, die fast bis zur Decke reicht, und sind voller Dankbarkeit, dass sie so freundlich aufgenommen worden sind.

Denn nachdem Athanama und Chaturo den anderen von der Quelle berichtet hatten, die sie vor lauter Liebesgier fast übersehen hätten, waren sie gestärkt weiter Richtung Nordosten gewandert, hatten schließlich Hirten getroffen, die ihnen sagen konnten, wie sie zum Tempel der Aphrodite finden würden. Und nun feiern sie mit den Inselbewohnern ein gastliches Fest. Weihrauch wird im Tempel angezündet, Gebete, Gesänge und ein fast unwirklich wirkender Tanz der Priesterinnen als Abschluss im Tempel: Europa fühlt sich stark an ihr eigenes großes Tanzfest erinnert, das so wirkungsvoll Männer wie Frauen verzaubert hatte. Jenseits jedweder Gewalt waren aus ihnen die stärksten Gefühle hervorgequollen und hatte sie übermäßig überschwemmt. Alle waren sie liebend dem großen Gefühl erlegen und hatten es genossen wie noch nie. Ihre große Göttin hatte sie alle verzaubert und in ihnen eine Botschaft verankert, die von liebender Zuwendung, von Achtung, Würde und sinnlicher Leidenschaft spricht.

Also auch hier, denkt Europa glücklich, auch hier wird die fast schon vergessene Botschaft vom Glück im Tanz beschworen. Die bunten Gewänder der Priesterinnen wehen bei den ausladenden Bewegungen wie Flügel um sie herum. Körperformen betonend oder wieder verdeckend und die nackten Füße klatschen dabei heftig auf die glatten Steinplatten. Parsephon, Sadamanthys und Chaturo vergessen vor Begeisterung fast zu atmen, auch die Seeleute stehen da mit klopfenden Herzen und gierigen Blicken, als sich die Tanzenden nun zu Flötentönen und Tamburinschlägen langsam Richtung Ausgang bewegen, die Gäste hinter dem Oberpriester als

kleine Prozession hinterher.

„Hast du die gesehen?“ flüstert Parsephon seinem Bruder ins Ohr, „ die sieht doch aus wie…!“

„Sei still!“ unterbricht ihn Sadamanthys barsch, obwohl er genau weiß, wen er meint oder vielleicht gerade deshalb.

Draußen blendet sie die warme Abendsonne, Lavendeldüfte schmeicheln ihnen ohnegleichen, während die Musiker und Tänzerinnen hinter dem Tempel verschwinden. Schade. Die beiden Brüder hätten nur zu gerne die Tänzerinnen aus der Nähe betrachtet, schade. Bald schon sitzen sie alle an einem langen, schmalen Tisch, auf dem Früchte, Brot, Wein und jede Menge Ziegenkäse ihnen entgegen lächelt.

„Lasst uns nun die Pokale erheben und auf das Wohl unserer Gäste trinken, die unsere Göttin gnädig aus höchster Seenot gerettet hat!“ ruft nun vom Kopf des langen, schmalen Tisches der Oberpriester, der längst sein Gewand gewechselt hat und nun in dunklem Gewand mit goldenen Armreifen und einem einfachen Goldreif im Haar vor ihnen steht und auf seine Gattin blickt, als er den Weinbecher erhebt. Alle greifen nun zu ihren Trinkgefäßen und genießen den herben Tropfen. Dann erhebt sich Europa und sagt:

„Werter Gastgeber, unser Retter! Wir sind tief ergriffen von dem, was wir gerade erleben mussten und nun erleben dürfen. Die große Göttin muss unser Anliegen wohl gutheißen, sonst stünden wir jetzt gewiss nicht hier. So aber bin ich mir völlig sicher, dass wir zurecht nach Sidon zum Orakel reisen sollen, um zu hören, was weiter mit uns und unseren beiden Söhnen geschehen soll. Und euch danken wir aus tiefem Herzen für eure Gastfreundschaft und dass ihr uns ein Schiff zur Verfügung stellen wollt, das uns ans Ziel bringen kann. Wir stehen tief in eurer Schuld und werden nie vergessen, was ihr uns Gutes tut! Auf euer Wohl, euer Glück und eure wunderbare Insel!“

Ihr Gastgeber fühlt sich sehr geschmeichelt, auch seine Gattin lächelt mild zu diesen wohlgesetzten Worten Europas. Dann wenden sich alle gierig den herrlichen Speisen zu, die reichlich auf dem langen, schmalen Tisch für sie bereit liegen.

Auf Kreta allerdings nutzt der Rat der Alten natürlich die längere Abwesenheit von Europa und ihren beiden Söhnen, den Thronanwärtern, um neue Fakten zu schaffen, die alle Pläne Europas über den Haufen werfen sollen.

31 Jan.

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 170

Athanama und Chaturo erliegen dem Zauber der Insel.

Europas Zwillinge, Sadamanthys und Parsephon, stürmen gleich los: Nach dem verheerenden Schiffbruch, der Todesangst, sind sie nun wieder in Abenteuerlust. Wäre doch gelacht, wenn wir auf dieser unbekannten Insel keine Quelle oder gar keinen Brunnen fänden, denken sie übermütig. Nach Norden – sie wissen selbst nicht, warum sie diese Richtung wählen, aber es fühlt sich gut an. Schroffe Felswände fallen steil zum Meer ab, von Menschen keine Spur. Schafköttel. „Na bitte, wenn es hier Schafe gibt, dann muss es hier auch Wasser und eigentlich auch Bauern geben“, ruft Parsephon seinem Bruder hinterher. „Klar, sag ich doch!“

Auch Athanama und Chaturo machen sich auf den Weg. Europa aber ist zu erschöpft. Sie will zur Göttin beten. Hoffnungsvoll schaut sie den beiden hinterher. Sie ist so müde und ratlos. War es falsch, zum Orakel nach Sidon zu wollen? Doch da überrascht sie ein finsterer Gedanke: Wie, wenn der Bote gar kein Bote aus Sidon war, sondern ein Dämon, der sie in den Tod locken sollte? Geschickt von, von…Sie will den Gedanken gar nicht zu Ende denken.

Chaturo klettert gerade einen steilen Pfad hoch, als er eine kleine windgeschützte Wiese vor sich hat. Sie sind schon eine ganze Weile unterwegs. Durstig, müde.

„Athanama, komm, hier können wir einen Pause machen“, ruft er schwer nach Luft schnappend.

Athanama schaut hoch zu ihm: Was für eine kraftvolle Gestalt, was für eine Ausstrahlung! Sie ist mehr und mehr begeistert von ihm. Sie spürt, dass die große Göttin sie zusammenführen will. Gerne folgt sie der Aufforderung. Und als sie ihn jetzt vor sich im Gras liegen sieht, weiß sie, dass diese der Augenblick ist, von dem sie schon so lange geträumt hat. Chaturo liegt vor ihr mit geschlossenen Augen. Die Sonne glänzt auf seiner schwitzenden Haut. Gelassen lässt sie ihr Gewand fallen, steht nun breitbeinig über ihm. Ihr Herz klopft heftig und schön, ein lustvolles Lachen schmückt ihr Gesicht. Und als Chaturo den Schatten, der über ihn fällt, spürt, öffnet er sofort seine Augen: er kann es nicht fassen, es muss ein Traum sein. Aber da beugt sie sich schon über ihn, wickelt ihn aus seinen Kleidern kniet sich und lässt sein längst steil aufgerichtetes Glied in sich gleiten. Ihr Stöhnen nimmt der Seewind mit auf seine Reise über die Insel. Lange können sie nicht von sich lassen, lange lassen sie sich einfach wollüstig gehen. Ein Bildersturm fegt durch ihre Köpfe, Gänsehaut fast überall, schwerer Atem.

Währenddessen laufen die Zwillinge weiter Wasser suchend Richtung Norden. Keine Schafe, keine Hütten, nichts. Nur Gras, Felsen, windschiefe Kiefern, verkrüppelte. Und eine eigenartige Stille über all dem. Dann bleiben sie beide unvermittelt stehen. Denn vor ihnen – gleich auf der übernächsten Anhöhe – strahlt ihnen ein kleiner Tempel entgegen. Atemlos bleiben sie stehen, staunen. Träumen sie? Wollen sie diesen Tempel einfach nur sehen oder sehen sie ihn wirklich?

„Vielleicht ein Quellheiligtum?“ fragt Sadamanthys seinen Bruder.

„Hä?“ ist alles, was er zur Antwort bekommt, dann aber laufen sie um die Wette los, sie sind ja so durstig, so erschöpft. Hoffentlich ist es ein Quellheiligtum betet Parsephon stumm in sich hinein, hoffentlich. Und als sie nun die alte Holztüre aufstoßen, sind sie beide völlig sprachlos. Mitten im düsteren Raum erkennen sie auf eine Quaderstein eine tanzende Figur. Ein nackter Faun. Beide Arme streckt er in die Höhe und im Näher Treten erkennen sie auch das lüsterne Grinsen in seinem alten Gesicht. Sein übergroße Gemächt zwischen den krummen Beinen scheint ihn fast mächtig zu Boden zu ziehen.Ratlos schauen sich die beiden Brüder an, dann müssen sie laut lachen. Und dieses Gelächter bleibt hallend im zwielichtigen Tempelraum gefangen.

„Von wegen Quellheiligtum!“ ist alles, was Parsephon schließlich raus bekommt. Sadamanthys nickt enttäuscht, denn der Durst lässt einfach nicht nach.

„Aber wenn hier so ein Tempel steht, dann müssten eigentlich auch Menschen auf dieser Insel sein und wenn Menschen da sind, muss es auch Wasser geben“, beschließt Parsephon seine erlösende Schlussfolgerung.

Und schon wenden sie dem geilen Faun und seinem Tempel verächtlich den Rücken, laufen einfach weiter, denn sie müssen ja auch den gesamten Weg wieder zurück, zur Mutter, laufen, heute!

Stumm liegen die beiden Liebenden nebeneinander im Gras, das Glitzern der Schweißperlen auf ihrer Haut erzählt scheinbar noch einmal von der Fülle und Pracht ihres glücklichen Augenblicks, eben. Vollkommene Stille umgibt sie, und die warme Sonne trocknet die vielen bunten Perlen auf ihrer immer noch zitternden Haut.

„Hörst du es auch?“ fragt Chaturo leise.

„Was?“ fragt Athanama.

„Das Tropfen.“

24 Jan.

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 169

Ohne Wasser und Brot gestrandet, allein.

Chaturos Stimme holt Europa aus ihrem Alptraum, in dem sie gerade fest hing. Sie versucht ihre von Sand und Salz verklebten Augen zu öffnen. Vielleicht bilde ich mir die Stimme auch nur ein, denkt sie verzweifelt. Aber da hebt Chaturo schon vorsichtig ihren Kopf hoch und redet eindringlich auf sei ein:

„Europa, mach die Augen auf! Komm! Wir haben überlebt!“

Nach und nach schaffen es ihre Lider, Licht in ihre grünen Augen fallen zu lassen. Stöhnend und von Angstschüben geschüttelt starrt sie nun in das freundliche Gesicht des Kapitäns.

„Wo sind wir, wo sind die anderen, was ist aus dem Schiff geworden?“ flüstert sie zwischen ihren aufgesprungenen Lippen heraus. Chaturo lacht.

„Na, wenn du so viele Fragen auf einmal stellen kannst, bist du ja richtig lebendig, trotz allem!“

Europa versucht zu lächeln. Aber es will ihr nicht gelingen. Zu groß ist die Angst, dass ihre Söhne, dass Atawima ertrunken sein könnten. Schwer geht ihr Atem, Chaturo hilft ihr, sich in eine Sitzstellung zu bewegen. Dabei brennt ihnen die Sonne auf die Haut, trocknet ihre Gewänder. Dazu ein warmer Wind, der sie zu streicheln scheint.

„Bitte, sag, sag, was los ist, bitte!“ ist alles, was sie zustande bekommt.

Wenn sie Chaturo zugehört hätte, hätte sie verstanden, dass alle überlebt haben, aber sie hatte nur die Stimme gehört, hatte nicht auf die Worte geachtet.

„Komm, Europa, komm, ich bringe dich zu ihnen. Sie sind ganz in der Nähe.“

Europa meint, unendlich müde zu sein. Ihre Beine bleischwer, ihr Herz noch schwerer. Chaturo hilft ihr hoch, hält sie mit einem Arm um ihre Hüfte halbwegs aufrecht. Und so stolpern sie zwischen Felsbrocken, Binsenbüschen und Sandmulden – mit der brennenden Sonne nun im Rücken – in die Richtung, in die Chaturo gezeigt hatte. Das Licht, das Licht, die Göttin. Europa bekommt keinen klaren Gedanken zusammen.

Jetzt sieht sie vor sich jemand winken. Wer ist das?

„Europa, Europa, Freundin, wir leben!“ ruft Atawima ihr entgegen. Europa gelingt nur ein gequältes Lächeln. Wo sind ihre Söhne? Diese unbeantwortete Frage sprengt ihr fast das Hirn. Wo? Die Angst in ihr lässt es nicht zu, die Frage zu stellen.

„Sadamanthys und Parsephon sind gerade unterwegs, sie suchen Wasser!“ ist das nächste, was sie hört und sie endlich erlöst: Sie leben! Oh, große Göttin, du hast deine Hand über uns gehalten, uns gerettet, betet sie still.

„Chaturo, wo sind deine Leute?“

Während Atawima Europa hilft, sich in den warmen Sand zu setzen, breitet Chaturo verzweifelt seine Arme aus, schüttelt den Kopf, seufzt tief auf:

„Ach, Europa, die Guten, die Tapferen! Sie haben versucht, die Borea vor dem Sinken zu retten. Dabei sind sie alle mit untergegangen, alle!“

Europa weint, Atawima auch, selbst Chaturo kommen die Tränen. Was für ein Schicksalsschlag für sie alle, was für ein Unglück!

„Mutter, Mutter!“ Europa hört Parsephons Stimme und winkt erleichtert in seine Richtung. Die Zwillinge kommen auf sie zu, knien nieder, umarmen Europa. Aber auch sie sind völlig erschöpft, durstig, hungrig, müde.

„Habt ihr kein Wasser gefunden?“ fragt Chaturo in das einsetzende Schweigen hinein. Die beiden schütteln nur ihre Köpfe.

„Wo sind wir denn überhaupt an Land gespült worden?“ fragt Atawima Chaturo.

„Ich bin mir nicht ganz sicher, aber es könnte die Insel der Aphrodite sein!“

„Dann lasst uns zu ihr beten, bevor wir uns auf die Suche nach Wasser oder einer kleinen Siedlung machen!“ will Atawima den Verzweifelnden Mut machen. Chaturo hat schon öfter an der Insel Halt gemacht, aber er weiß auch, dass hier im untersten Südwesten der Insel niemand wohnt, niemand.

Hätten wir doch nicht zu dem Orakel nach Sidon reisen sollen, fragt sich insgeheim Europa, hätten wir einfach mutig…Da spricht sie Parsephon leise von der Seite an:

„Mutter, hast du dich nie gefragt, ob dieser Bote aus Sidon vielleicht gar keine Bote aus Sidon war?“

Europa zuckt zusammen. Doch ganz kurz hatte sie auch diesen Gedanken gehabt, ihn aber gleich wieder verworfen. Sie wollte es einfach glauben, sie wollte zurück in ihre Geburtsstadt. Jetzt wird sie vielleicht für diese eigensinnige Entscheidung bestraft. Warum hat die große Göttin denn ihre Hand von mir zurückgezogen, warum? Wie soll sie denn jetzt ihrem Sohn antworten?

„Wir müssen unbedingt eine Wasserstelle finden, wir verdursten sonst!“ erwidert sie Parsephon. Der ist völlig überrascht. Warum beantwortet sie nicht seine Frage? Hätte sie sie vielleicht mit ja beantworten müssen?

„Du hast Recht, Mutter, wir müssen unbedingt eine Wasserstelle finden“, antwortet er ihr und schließt wieder zu seinem Bruder Sadamanthys auf.