23 Sep.

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 165

Das Floss der Boreia.

Der Sturm lässt nach. Die Wellenberge schrumpfen, das Tosen verebbt in gleichmäßigem Rauschen und Wogen. Aber die Boreia hängt zerborsten fest. Europa, Athanama klammern sich frierend und völlig durchnässt am Stumpf des abgebrochenen Mastes fest. Chaturo kriecht gerade über das, was einmal das Deck gewesen sein muss. Wo sind seine Leute? Alle ertrunken? Sadamanthys und Parsephon, Europas Söhne, winken verzweifelt vom Bug her. Alle in Angst, dass jeden Moment der Rest der Boreia versinken könnte. Das Schiff schwankt bei jeder Welle gefährlich hin und her. Was tun?

Chaturo, der verzweifelte Kapitän – sein schönes Schiff ist hin – , hält Ausschau nach Land. Aber selbst jetzt, wo sich die tiefhängenden Unwetterwolken davon machen, ist weit und breit nichts als Wasser, Wasser, Wasser zu sehen.

Da kommt ihm eine Idee. Wir müssen sofort aus den Resten des Schiffs ein Floß bauen und uns von der Strömung treiben lassen und hoffen, dass es uns an die Küste Phöniziens bringt.

„Sadamanthys, Parsephon, kommt hierher, zu mir!“

Europa und Athanama hören das Rufen, haben aber keine Ahnung, was Chaturo vorhat. Sie beten zu ihrer Göttin:

„Lass uns nicht zugrunde gehen, hilf uns!“ flehen sie inbrünstig. Dann sehen sie, wie die Männer vorne mit Äxten die Planken losschlagen und mit Tauen hantieren.

„Was haben die vor? Sie zerstören doch nur noch mehr das, was von der Boreia übrig geblieben ist!“

Athanama ist völlig verwirrt.

„Wir bauen ein Floß, wir müssen hier weg!“ ruft Chaturo zu ihnen herüber. Gleichzeitig sehen die beiden Frauen, wie drei Männer aus dem Inneren an Deck kriechen. Sie haben wohl unter Deck trotz der Katastrophe überlebt. Einer hinkt, einer hält sich die linke Hand, sie sind verletzt, aber am Leben. Wieder gerät die Boreia in Bewegung, alle fürchten, dass sie gleich versinken werden. Und keiner von ihnen kann schwimmen.

Hastig basteln die Männer unter Anleitung von Chaturo an dem Floß, das schon bald Gestalt annimmt. Nicht groß, aber doch mit genügend Platz für die wenigen, die das Unwetter überlebt haben. Parsephon schleppt noch ein Fass mit Trinkwasser herbei, dann kriechen alle zitternd auf das Gefährt, das sie retten soll. Chaturo schiebt es an und springt kühn hinterher.

14 Sep.

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 164

Schiffbruch an fremden Gestaden.

Alle Götter scheinen sich gegen Europa und ihr Schiff verschworen zu haben. Warum nur? Doch darüber nachzudenken, bleibt den seekranken und um ihr Leben kämpfenden Menschen an Bord nicht die Zeit. Brecher schütten immer wieder alles unter sich zu, und wenn sie wieder Atem holen können, jagen Todesangst noch einmal die Bilder des eigenen Lebens durch ihre Köpfe.

Chaturo hat längst die Kontrolle über die Boreia verloren, seine Schreie an die Mannschaft werden von Gischtwolken verschluckt. Verzweifelt suchen Europa, ihre beiden Söhne, Athanama Halt zu finden, aber umsonst. Das Schiff, das längst zum Spielball der Wellenberge geworden ist, scheint nur noch wie ein welkes Blatt auf dem schäumenden Wasser darauf zu warten, wehrlos in der Tiefe zu versinken, zu verschwinden, für immer.

Als wäre es bereits Nacht und sie stürzten gerade kopfüber in den Hades, so ist ihnen zumute.

Da gibt es einen mächtigen Schlag von unten gegen das Schiff. Wie kleine triefende Sandsäcke werden die Menschen gegen das Vorschiff geschleudert. Planken bersten. Angstschreie. Die Boreia bäumt sich noch einmal auf, um dann völlig auseinander zu brechen und zu sinken. Europa kann es nicht fassen: Soll ich so enden, ist das, was meine große Göttin für mich bestimmt hat? Verzweifelt versucht sie ihr Söhne in diesem Wasser und zersplitternden Holzgewirr zu erblicken. Aber da trifft sie schon die nächste Welle. Wütend stürmt sie über sie hin.

„Sadamanthys, Parsephon! Wo seid ihr?“ Sie schreit. Salzwasser füllt ihren Mund, ihre Nase, ihre Ohren. Sie bekommt ein Seil zu fassen. Doch als jetzt die Brecher ablaufen, steht das Schiff – oder das, was davon noch zu sehen ist – fest an der gleichen Stelle. Wir müssen an einem Riff festhängen, geht es dem Kapitän durch den Kopf. Dann muss auch Land in der Nähe sein. Aber wie das? Sie können doch noch gar nicht an der Küste von Sidon sein. Aber wo hat sie denn in den letzten Stunden der Sturm hingetrieben?

Oben im Olymp kichert Zeus zufrieden vor sich hin.

„Das hast du gut gemacht, Poseidon!“ plappert er leise vor sich hin und nippt an seinem Becher mit Nektar und Ambrosia. Nun ist er sich ganz sicher, dass diese stolze Prinzessin aus Phönizien, die er als weißer Stier nach Kreta entführt hatte, um sie dort in seiner Höhle…Nicht mehr dran denken, befiehlt er sich, nicht mehr dran denken. Jetzt hat sie ihre Strafe.

21 Juni

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 163

Die Seereise nach Sidon wird zum Albtraum.

Arglos trifft Europa ihre Vorbereitungen. Sie bespricht die Reise, zu der ihr der Fremde rät, weil das Orakel von Sidon anscheinend eine Botschaft für sie hat. Sie bespricht sich mit Chandaraissa, der Hohenpriesterin, dann auch mit Berberdus, dem Vorsitzenden des Rates der Alten. Alle unterstützen sie in ihrem Plan. Berberdus sicher, weil er hofft, dass ihm vielleicht das Meer hilft, sie los zu werden. Und Athanama, ihre neue alte Freundin, möchte sie begleiten. Und Chaturo, der Kapitän des schnellen Seglers, will Europa gerne sein Schiff zur Verfügung stellen. Nur ihre Söhne, die halten gar nichts von diesem Plan.

„Mutter, was, wenn dahinter böse Geister stehen, die dir schaden wollen?“

„Wie kommt ihr denn darauf?“ fragt Europa entgeistert. An so etwas hatte sie nun überhaupt nicht gedacht. Dann kommt ihr eine Idee, die sie noch sehr bereuen wird:

„Begleitet mich doch, dann könnt ihr mir ja beistehen, falls Böses droht!“

Samadanthys und Parsephon sind sprachlos. Kurz wechseln sie Blicke, dann kommt gleich ihre Antwort:

„Natürlich, Mutter, natürlich, das machen wir gerne!“

Abends, im Haus des Pallnemvus, sitzen einige der Ratsherren zusammen und sind in ein erregtes Gespräch verwickelt:

„Unser Mann in Sidon muss unbedingt benachrichtigt werden!“

„Habe ich schon in Gang gesetzt!“ antwortet Zygmontis Gromdas leise.

„Entweder wird der Meeresgott sich einmischen oder eben unser Mann in Sidon.“

Zustimmendes Gelächter. Der Glanz in den Augen der Ratsherren glimmt wie giftiges Feuer, das sich durch alles hindurch fressen will.

„Wir werden sie doch noch los werden, ohne dass heraus kommt, wer nachgeholfen hat!“

Die alten Ratsherren nicken bedächtig vor sich hin. Sie fühlen sich wichtig, mächtig und als treue Diener ihrer Insel.

Dass die große Göttin aber weiter dafür sorgen will, dass die fast schon vergessene Botschaft vom Glück weitergegeben wird, kann den drei listenreichen Olympiern genauso wenig Freude bereiten wie dem Rat der Kreter. Sie wähnen sich in ihren Racheplänen an Europa auf Erfolgskurs. Heftige Winde stürmen von Hesperien her Richtung Osten, wild wogen Wellenberge gegen die zerklüfteten Küstenstreifen. Im Hafen – geschützt von hohen Wellenbrechern – schwanken die Segler an ihren Leinen.

Schon eine Woche später gehen sie an Bord der Boreia: Chaturo, der Kapitän, war schon am Vorabend vor Ort, kümmerte sich um das Vertauen der Vorräte, ließ frisches Wasser in hohen Krügen verstauen. Und im Abendsonnenlicht warf auch Zeus einen Blick auf seine Lieblingsinsel, auf der nun Europa alle Fäden in Händen hält. Leichter Nebel liegt über dem weiten Hafenbecken, als Athanama zusammen mit ihrer Freundin Europa vom Palast herunter kommen. Ihre Dienerinnen tragen Kisten mit Kleidern, Geschenken hinterher. Europas beide Söhne freuen sich auf die Reise und sind gut gelaunt mit Seesäcken bepackt auch unterwegs zur Boreia. Und Chandaraissa, die Hohepriesterin, will die Abfahrt ihrer neuen Freundinnen auf keinen Fall verpassen. Sie hatte am frühen Morgen noch vor dem großen Bild der großen Göttin für sie gebetet: „Schütze sie, leite sie und bring sie uns heil zurück!“ Sie hatte besonders viel Weihrauch in die großen Schalen geworfen. Der Duft machte ihr wunderbar schwindlig. Und auch die jungen Priesterinnen, die sie unterstützen durften bei diesem morgendlichen Gebet, atmen das schwere Aroma lustvoll ein.

Chaturo, der gerade in der Kapitänskajüte Athanama leidenschaftlich umarmt und küsst – seit Tagen mussten sie aufeinander verzichten – hatte seinen Leuten bereits den Befehl zum Ablegen gegeben. Heimlich schauten einige der alten Ratsherren dem Losfahren des Seglers grinsend zu: Hoffen wir, dass wir dieses Schiff nie wiedersehen müssen, denken sie dabei.

Als die Boreia nun aus dem Schutz des Hafens ins offene Meer gleitet, spüren alle an Bord auch gleich den hohen Wellengang. Starker Wind bläst weiter kräftig aus Hesperien kommend und reißt den Segler ordentlich mit. Chaturo muss auf volle Besegelung verzichten, aber auch so kommt das Schiff schnell, sehr schnell voran. Es neigt sich dabei ächzend zur Seite, fast gehen die Wellen an backbord über die Reling. Aber alle an Bord vertrauen auf ihren Kapitän und die Stärke der Boreia.

Stunden später – eigentlich müsste die Sonne hoch oben am Himmel stehen – türmt sich schwarzes Gewölk über ihnen auf, der Wind steigert sich zum Sturm, Blitz und Donner kommen dazu. Nun macht sich nicht nur Europa Sorgen. Da reißt das Vordersegel. Chaturo schreit Befehle in das Tosen. Alle an Bord versuchen sich gegenseitig zu stützen und zu halten. Jetzt rollen sogar Brecher übers Boot. Für Augenblicke scheinen alle unter Wasser zu schweben, dann können sie wieder atmen, spucken, husten. Aber schon folgt der nächste Schwall. Europa bereut es, ihre Söhne mit an Bord genommen zu haben. Droht ihnen allen jämmerliches Ertrinken?