30 Mai

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 162

Europa will das Orakel des Baal in Sidon befragen.

Chandaraissa ist noch immer verwirrt: Wer waren die beiden fremden Männer? Was sollten diese Schmeicheleien?

„Europa, was meinst du zu den beiden? Meinst du, dass sie wirklich aus Phönizien gekommen sind?“

„Chandaraissa, mir gehen gerade so viele Gedanken fast gleichzeitig durch den Kopf, dass ich gar nicht sagen kann, was ich davon halten soll.“

Die beiden Freundinnen reden lange miteinander. Als sie sich ermüdet endlich trennen wollen, meldet ihnen eine der jungen Priesterinnen einen Boten, der dringende Botschaften aus Sidon habe.

„Ein Bote aus Sidon?“ Europa hat kein gutes Gefühl, als sie es hört. Aber Chandaraissa drängt sie, den Boten zu empfangen.

Fast bis zum Boden verbeugt er sich, sein langes, wallendes Haar verdeckt dabei völlig sein Gesicht. Die beiden Freundinnen können ein Lachen kaum unterdrücken.

„Nun, Bote, was führt euch zu mir?“ fragt Europa streng.

Und als dieser sich nun erhebt und die beiden Frauen unterwürfig anschaut, kommt Europa völlig überraschend die Idee, Athanama rufen zu lassen. Vielleicht kennt sie ja den Boten.

„Ich komme vom Tempel des Baal in Sidon. Das Orakel dort erwartet euch. Es habe wichtige Botschaften für euch und eure Söhne.“

Fast wie ein wirklicher Schmerz fährt es ihr da durch Mark und Bein. Sie hält die Luft an, dreht sich zu Chandaraissa und flüstert ihr ins Ohr:

„Liebe Freundin, lass schnell Athanama rufen – vielleicht kennt sie den Boten. Vielleicht ist es eine Falle!“

Die Hohepriesterin lächelt den Boten freundlich an, damit der keinen Verdacht schöpft. Mit einladender Geste wendet sie sich dann an den fremden Mann aus Sidon:

„Du musst müde und erschöpft sein – nach der langen Seereise. Folge uns doch in den innenhof, dort werde ich für dich Speisen und Getränke auftischen lassen. Dann hören wir gerne mehr von deiner Botschaft, komm!“

Breit grinsend lässt sich der Bote das nicht zweimal sagen und folgt den beiden Freundinnen zum Innenhof vor dem Tempel der großen Göttin. Unterwegs gibt Chandaraissa den neugierigen Priesterinnen leise Anweisungen, und als sie nun im Schatten eines großen Sonnensegels auf weichen Kissen Platz nehmen, bringen junge Frauen bereits große und

kleine Gefäße, Platten mit frischem Brot, Krüge zum Trinken und stellen alles vor die drei auf einem kleinen Teppich ab. Die Hohepriesterin lädt den Boten ein sich zu setzen, was der natürlich nur zu gerne tut. Wie zufällig stehen die jungen Priesterinnen hinter den dicken Säulen, die den Innenhof umgeben, und tun so, als seien sie in wichtige Gespräche mit ihren Freundinnen vertieft. Manchmal weht eine kühle Brise ihr Kichern über den Hof, es mutet völlig normal an, obwohl alle ziemlich gespannt sind, was der Bote noch alles zu sagen hat.

„Da eure Eltern verstorben und eure Brüder verschollen sind…“ lautes Tuscheln macht da die Runde zwischen den Säulen, der Bote macht eine bedeutsame Pause, um das Gesagte so richtig wirken zu lassen.

Als Europa das hört, verschlägt es ihr die Sprache: Woher weiß er das alles?

Chandaraissa legt tröstend eine Hand auf Europas Schulter, da hören die beiden aber auch schon, wie der Bote fortfährt:

„habe Baal, der große Gott von Sidon mit seiner Frau, der Göttin Astarte, ihre schützenden Hände über die Waise gelegt und über das Orakel sagen lassen:

„Europa, komm her zu uns, wir wollen dir helfen!“

Da kommt Athanama gelaufen. Sie ist nicht im Bilde, was hier gerade vor sich geht, sie kennt noch nicht den Grund, warum die Hohepriesterin sie hat rufen lassen. Aber sie erkennt sofort den Fremden, lässt es sich aber nicht anmerken. Europa winkt sie zu sich und lädt sie ein, Platz zu nehmen. Für die jungen Priesterinnen hinter den Säulen wird es ein immer spannenderer Abend; doch da erhebt sich die Hohepriesterin und ruft laut in den Hof hinein:

„Ab in eure Schlafzellen, verrichtet eure Gebete und ruht euch aus, ab!“ Dabei klatscht sie laut in die Hände. Wie eine Schar aufgeregter Gänse flattern sie in ihren wallenden Gewändern schmollend davon. Schade aber auch! Was hätte es da noch alles zu hören gegeben!

Flüsternd erzählt Chandaraissa Athanama, was der Bote gerade zu Europa gesagt hat und Athanama verrät der Hohenpriesterin, dass sie den Boten aus Sidon kennt.

Wie von einem Blitz getroffen ist Europa plötzlich wieder hellwach und hat auch schon eine Entscheidung getroffen, von der sie nicht einmal weiß, wie sie in ihr zustande gekommen sein könnte.

„Ich danke dir!“ antwortet Europa dem Boten schließlich, „Ich werde noch in dieser Woche mit meinen beiden Söhnen nach Sidon aufbrechen.“

06 Mai

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 161

Drei fremden Gestalten mischen sich ein.

„Wir dürfen nicht länger zaudern!“ grummelt Gromdas vor sich hin, als sich die Ratsherren nach Europas Rede fluchtartig in Richtung Ratssaal begeben, um die nächsten Schritte zu besprechen.

„Bin völlig deiner Meinung“, kommentiert Zygmontis leise den Aufruf seines Ratskollegen.

Pass doch auf, du Trottel!“ faucht da Berberdus einen älteren Herrn an, der ihn fast zum Stolpern gebracht hätte.

„Verzeih, Berberdus, aber ich möchte mit dir reden!“

Berberdus schaut verdutzt den fremden, alten Mann von der Seite an. Sollte ich den kennen? Ein ungutes Gefühl geht ihm dabei durch Mark und Bein. Wer weiß, wo für der aufdringliche Kerl nützlich sein kann, geht es ihm kurz durch den Kopf, wer weiß.

„Gut, gut – was kann ich denn für dich tun?“ geht er breit lächelnd auf Zeus ein. Die Ratsherren verschwinden schon im Ratssaal, Berberdus aber bleibt stehen und schaut erwartungsvoll auf den fremden Alten.

„Die beiden Frauen werden mächtiger und mächtiger. Das tut Kreta gar nicht gut – oder?“

Berberdus verschlägt es die Sprache. Genau dieser Gedanken war ihm selbst gerade durch den Kopf gegangen. Flüsternd kommen sie dem Eingang zum Ratssaal näher und näher. Der Fremde drängt ihn hinein und kommt einfach hinterher, bleibt hinter einer Säule stehen und hört zu, was Pallnemvus gerade sagt, während auch Berberdus seinem angestammten Sitzplatz zustrebt. Er ist völlig verwirrt. Wer ist dieser Mann? Warum habe ich ihm den Eintritt nicht verwehrt? Was hat er vor? Ist es vielleicht ein Attentäter?

„Werte Ratsherren“, beginnt gerade Collchades die Runde zu eröffnen, „jeder Tag, den wir tatenlos verstreichen lassen, schwächt unsere Position, das wisst ihr so gut wie ich!“

Er macht eine längere Pause, schaut dabei mit finsterem Blick in die Runde, und fährt dann fort:

„Wir hätten gar nicht erst zulassen dürfen, dass sie mit der Fackel den Katafalk entflammt, niemals. Für die Kreter ist sie jetzt die Herrin über die Insel!“

Zeus, der hinter der Säule alles gut mithören kann, fast sich ein Herz und tritt aus seiner Deckung hervor:

„Und sie wird es von Tag zu Tag noch mehr werden!“

Die alten Männer drehen sich erschrocken um. Wer ist das? Wer hat ihn herein gelassen? Was will der? Für Augenblicke sind die Ratsherren völlig sprachlos, dann ergreift Berberdus das Wort:

„Fremde haben keine Zutritt zu Sitzungen des Rates. Und wer bist du, dass du so sprichst?“

Die Ratskollegen nicken, sie sind nun erst recht neugierig, wer da so mutig ihre eigenen Gedanken laut ausspricht.

Zeus ist klar, dass jetzt seine Pläne doch noch zum Zuge kommen könnten, wenn er diese Männer für sich gewinnen sollte.

„Ich weiß, ich weiß. Ich bin neulich mit dem Schiff des Chaturo aus Sidon gekommen, hatte dort das Orakel im Tempel des Baal befragt. Der Tod des Minos stünde vor der Tür, so ließ es sich hören, und danach gäbe es Streit, den eine Frau gewinnen würde, wenn die Männer es zulassen.“

Es wird leichenstill im Saal. Hektisches Geflüster, hektische Gesten, während Zeus weiter nach vorne kommt. Alle starren ihn an. Neben einem Grausen wächst gleichzeitig ein wütender Wille in ihnen, als sie die Worte des Fremden auf sich wirken lassen.

„Und gab das Orakel einen Hinweis, wie wir das verhindern könnten?“ fragt Zygmontis und gibt so Zeus das nächste Stichwort zu seinem Plan (Insgeheim denkt er noch – hoffentlich sind meine beiden Brüder bei Europa und der Hohepriesterin genauso erfolgreich wie ich):

„Ein Bote aus Sidon, wo Europa ja herkommt, sollte ihr einreden, dass sie unbedingt das Orakel des Baal befragen muss. Und auf der Reise dorthin könnte es ja ein unvorhersehbares Unglück geben – Sturm, Schiffbruch, Untergang.“

Kreidebleich die Ratsherren. Stille, Grabesstille. Und bevor die Ratsherren weiter in ihn dringen, wendet sich Zeus wortlos zum Ausgang und lässt die alten Männer ratlos zurück. Ratlos? Nein. Sie wissen zwar nicht, wer dieser Fremde aus Sidon eigentlich ist, aber sie wissen nun, wie sie Gutes für Kreta tun können. Wie sie diese anmaßenden Frauen aus dem Palast und dem Tempel der großen Göttin vertreiben könnten – ohne dass sie als die Verursacher dastehen werden.

Später sieht man drei alte Männer im Hafen auf den zusammengerollten Netzen der Fischer sitzen. Sie scheinen gute Laune zu haben, sie lachen viel, klopfen sich gegenseitig auf die Schultern, sie haben sich anscheinend viel zu erzählen, denn auch Poseidon und Hades waren bei Europa und Chandaraissa, der Hohepriesterin, wichtigtuerisch zu Gange gewesen.

25 Apr.

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 160

Ein großes Feuer für den Minos von Kreta.

„Vater, Vater, hast du es schon gehört? Der Minos von Kreta ist gestorben!“ Tochter Athena ist es, die es in die Runde ruft. Die Familie sitzt mal wieder gelangweilt auf dem Olymp in ihren Ohrensesseln und schlürfen ihr Nektar und Ambrosia. Zeus, der gerade dabei ist, nach dem üppigen Essen erschöpft wegzudämmern, fährt erschrocken hoch:

„Was hast du gerade gesagt, Tochter?“

„Der Minos von Kreta, Archaikos, ist tot.“

„Ja und? Die Sterblichen pflegen nun mal eben auch zu sterben.“

Zeus findet seinen spontanen Beitrag richtig klug und weise – und so denkt er gleichzeitig selbstzufrieden: Da habe ich meiner dreimal klugen Tochter mal wieder zeigen können, warum ich hier oben der Obergott bin. Ein unterdrücktes Prusten geht durch den sonnenhellen Palastraum.

„Warst du da nicht erst neulich mit deinen zwei tollen Brüdern?“ hakt Athena nach.

Zeus antwortet zuerst einmal nicht. Natürlich hat er diesen letzten und erfolglosen Besuch auf Kreta noch bestens in Erinnerung, natürlich. Und gleich hat er auch wieder schlechte Laune, aber er will sich nichts anmerken lassen, seine Tochter darf auf gar keinen Fall dahinter kommen, dass er neulich erst eine Affäre mit dieser phönizischen Prinzessin Europa hatte und die ihn…Schnell lenkt er seine Gedanken auf andere Themen, zu tief sitzt noch der gekränkte Männerstolz in seinen Adern, zu tief.

Später – Hera, seine eifersüchtige Gemahlin, kümmert sich gerade um die Zusammensetzung der Speisefolgen für das Festessen, das bald auf dem Olymp stattfinden soll – sitzt er mit Poseidon und Hades in der Olympia-Bar. Er will sie überreden, mit ihm zusammen noch einmal nach Kreta – und selbstverständlich inkognito – zu reisen, um an der Trauerfeier teilzunehmen. Denn jetzt, wo diese miese Europa Witwe ist – von wem wohl die Zwillinge sind? Zeus will es gar nicht wissen – jetzt ist die Situation sicher günstig, ihr ordentlich zu schaden. Zeus will gar nicht mehr an die Abfuhr erinnert werden, die ihm Hades verabreicht hat. Als wenn ein schönes Erdbeben samt üppiger Flutwelle so eine große Sache wär!

Als hätten auch die Götter Trauerkleider angezogen, denkt Chandaraissa, die Hohepriesterin, als sie jetzt vor dem großen Scheiterhaufen steht, den sie gleich entzünden muss, denn die tief hängenden, grauschwarzen Wolken dämpfen das Tageslicht, als stünde die große Trauergemeinde in einem unterirdischen Gewölbe, dem Licht ein Fremdwort ist.

Von nah und fern sind sie gekommen, die Kreter, um von ihrem Minos Abschied zu nehmen. Das große Oval vor dem Palast ist eine einzige schwarze Woge, die langsam hin und her schwankt und aus der der eintönige Singsang des Trauerchors quillt wie ein lähmender Dauerton unsäglicher Schmerzen, noch und noch. Und auf einem großen Holzgerüst stehen die alten Ratsherren und vor ihnen in der Mitte Europa mit ihren Zwillingssöhnen.

Und gleich neben dem Gerüst haben sich unter die Trauernden auch drei Gestalten gemischt, die ihre schwarzen Kapuzen weit über die Stirn in ihre Gesichter gezogen haben – es scheinen drei Brüder zu sein, die auch pflichtbewusst mit seufzen und stöhnen, die aber niemand zu kennen scheint. Fremde eben.

Jetzt hebt Europa eine Hand und nach und nach verebben die Trauergesänge. Sie ist jetzt die mächtigste Frau auf der Insel, Vormund der beiden Nachfolger und gehasst von den Ratsherren, die sich übergangen fühlen.

Die drei fremden Gestalten tuscheln leise mit einander:

„Was wird sie denn noch zu sagen haben, jetzt?“

„Sie will doch nur zeigen, dass sie jetzt das Sagen hat!“

„Also, mir kommt sie so vor wie eine trauernde Ehefrau, was sie ja auch ist!“

In die nun sich schleichend ausbreitende Stille fahren als erstes tiefe Fanfarentöne – sie gehen durch Mark und Bein. Viele weinen in aller Stille. Dann ist Europas Stimme – fest und klar – zu hören:

„Mitbürger, Trauernde, Kreter!

Unser Minos ist von uns gegangen. Er geht zu den Vätern, Vorvätern. Er hat Kreta groß und mächtig gemacht. Er gibt uns Zuversicht für die Zukunft. Auch den Göttern und der großen Göttin fühlte er sich stets verpflichtet. Wir wünschen ihm eine glückliche Fahrt hinüber in die andere Welt!“

Nun lässt sich die Hohepriesterin ihre Fackel anzünden, dann dreht sie sich zu dem hohen Katafalk um und entzündet ihn. Gleich jagen spitzzüngige Flammen durchs dicke Gebälk, Rauch steigt auf, hüllt für einen Augenblick den oben aufgebahrten Körper des Minos völlig ein, dann züngeln die Flammen hoch zu ihm erfassen die Leichentücher, mit denen Archaikos umwickelt ist, setzen sie wild in Flammen, fressen sie auf. Bald ist der der große Scheiterhaufen ein einziger, glühender Feuerball, aus dem der Minos aufsteigt wie ein lichter Vogel, der mit seinem durchsichtigen Federwerk federleicht im düsteren Wolkengebirge davonfliegt, schneller und schneller, weiter und weiter.

Wie eine wärmende Flut legt sich nun die Hitze des großen Feuerwerks auf die Trauernden, die jetzt wieder mit ihren monotonen Gesängen hin und her wiegen, als wären sie ein verblühtes und verkohltes Ährenfeld, das in einer sanften Brise wellenartig hin und her zu wogen scheint.

Hinterher, als sich nach und nach die schwarz gewandeten Menschen heimwärts wenden, mischen sich die drei fremden Gestalten unter die tuschelnden alten Ratsherren, denn Zeus möchte unbedingt wissen, was diese Greise vorhaben, um Europa und ihren Söhnen zu schaden, sie vielleicht sogar ganz aus dem Weg zu räumen – denn das wäre dann ja ganz in seinem Sinne – als erfolgreiches Ende eines so stümperhaft geführten Rachefeldzugs.