12 Apr.

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 159

Der Minos ist tot, es lebe der Minos!

Unheimlich und bedrohlich schwebt der wummernde dunkle Ton über der Stadt. Schlag auf Schlag. Nur zu diesem Ereignis wird der große Gong auf das flache Dach des Palastes geschleppt und dort von einem der Wächter des Minos von Kreta geschlagen. Immer wieder. Und bei jedem Schlag fliegen die aufgeregten Elstern empört davon und kehren nach einer großen Kehre über dem Meer zu ihrem Zuhause zurück, das sich so fürchterlich lärmend gebärdet. Immer wieder.

Auch den Menschen geht der tiefe Ton durch Mark und Bein. Immer wieder. Und man weiß Bescheid. Flüsternd und in beschwörendem Ton beantworten die Alten den kleine Kindern ihre bange Frage: „Warum dröhnt es so, warum macht der Minos das?“

„Die Götter holen ihn gerade ab!“

„Aber warum denn und wie?“

„Mit einem Wolkenwagen.“

Die Kinder verstehen es nicht. Doch die großen Augen der Eltern und der beschwörende Ton macht ihnen Angst.

Als die Dämmerung über der Insel Einzug hält, verebbt auch der düstere Ton über der Stadt. Ihre Einwohner kommen jetzt in schwarze Gewänder gehüllt aus ihren Häusern. Mit Fackeln in der einen und dem Kind an der anderen Hand gehen sie wortlos zum Platz vor dem Palast.

Später erscheinen auf dem Balkon drei Gestalten – um sie herum Fackelträger und Posaunenbläser. Da wird es still unter den Zuschauern. Ihre Fackeln sind fast abgebrannt. Die Kinder staunen, die Eltern geben keine Antworten auf ihre Flüsterfragen. Pst!

Schwarzes Tuch wird jetzt über die Brüstung des Balkons ausgerollt. Schlaff fällt es tief nach unten. Als wäre plötzlich dort der dunkle Eingang in eine geheimnisvolle Höhle. Wer wird hinein gehen, wer kommt heraus? Wenn doch jemand die bangen Fragen der Kinder beantworten würde!

Jetzt öffnen sich die großen Flügeltore. Fast lautlos treten die alten Ratsherren heraus. Sie bleiben unter dem lichtlosen, schwarzen Tuch, das sich nicht bewegt, schließlich stehen.

Posaunenton. Einer, dann noch einer, dann alle.

Europa hebt eine Hand hoch in den düsteren Himmel. Neben ihr die Zwillinge. Dann spricht sie langsam und mit fester Stimme:

„Archaikos, der Minos von Kreta, ist nicht mehr.“

Ein schmerzvolles Stöhnen geht durch die Menge, alle verneigen sich leise

seufzend und bald beginnt ein tiefes Summen, das rhythmisch aus ihren Kehlen kommt. Das haben die Kinder noch nie erlebt. Haben die das vorher geübt? Dann erhebt oben auf dem Balkon Europa, die Frau des Minos, ihre beiden Arme in den dunklen Abendhimmel und ruft mit lauter und bebender Stimme:

„Mitbürger! Wir werden ihn nach alter Sitte beisetzen.“

Dann macht sie eine lange Pause, lässt ihre Arme sinken und schickt dann den von allen mit Spannung erwarteten Satz hinterher:

„Bis die Zwillinge die Nachfolge antreten können, bin ich als ihr Vormund- so der letzte Wille des Minos – für euch die Stellvertreterin, Schützerin und Richterin.“

Die Stille ist fast unheimlich. Die alten Ratsherren, die gerne Protestschreie gehört hätten, Wutgeheul, können selbst vor Zorn kaum an sich halten. Aber sie müssen. Das Volk stimmt mit seinem Schweigen zu. So müssen sich die Alten fügen.

10 Apr.

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 158

Europa und Archaikos sprechen mit den Zwillingen.

Mit vielen Kissen im Rücken sitzt der Minos von Kreta in seinem breiten Bett und versucht zu lächeln. Europa, seine wunderbare Frau, und die beiden Söhne, Parsephon und Samadanthys, um ihn geschart, halb stehend, halb kniend, halb am Bettrand abgestützt, versuchen zu verstehen, was Archaikos gerade stotternd flüstert:

„Der Traum, der Traum hat mich…“ er muss heiser husten, schließt die Augen, schüttelt den Kopf, während seine Hand die von Europa sucht, zitternd.

„Schone dich, mein geliebter Mann, schone dich!“ versucht Europa tröstend beizuspringen.

„Vater, was soll geschehen, wenn es soweit ist?“ Parsephon stellt die entscheidende Frage. Erschrockene Blicke gegen hin und her. Sollen sie jetzt den Sterbenden so bedrängen? Bringen sie so nicht nur das Ende noch schneller herbei? Oder ist es doch richtig, jetzt diese Frage zu stellen? Archaikos erlöst die Verunsicherten:

„Lasst Europa euer Vormund sein, bis eure Zeit gekommen ist. Und dann…“

Wieder versagt dem Minos seine Stimme. Aber er öffnet doch erneut seine Augen, tränenschwer, und fährt dann so fort:

„Parsephon, Samadanthys – teilt euch das hohe Amt. Zu zweit werdet ihr die bösen Absichten des Rats der Alten abwehren können, zu zweit seid ihr doppelt so stark. Das wünsche ich mir.“

Die Zwillinge sind sprachlos. Zusammen? Das hat es noch nie gegeben. Sofort gehen ihnen viele Einwände durch den Kopf. Aber jetzt dem Vater widersprechen? Nein, das können sie nicht. Auch Europa ist völlig ergriffen von diesem entscheidenden Moment. Sie und Archaikos hatten oft lachend so einen Plan erwogen – schon vor Jahren – aber es blieb immer offen, wie ernst sie es denn damit nehmen würden, wenn es ansteht. Und jetzt steht es an und Archaikos hat es klar ausgesprochen: Eine Doppelspitze soll es sein.

Und schon kommt der Augenblick, den sie alle fürchten: Archaikos holt noch einmal tief Luft, wirft einen Blick in die Höhe – was sucht er da? – und sackt dann langsam in sich zusammen. Eine Atem raubende Stille erfasst Europa und ihre beiden Söhne. Tränenschwer ringen sie um Fassung. Umsonst.

„Es ist soweit.“ Europa steht als erste auf. Sie weiß, dass die nächsten Stunden für sie und die Zwilligen entscheidend sein werden.

18 März

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 157

Das geheime Treffen der Ratsherren (Teil 3)

Was für eine Niederlage! Im Ratssaal überwiegen bei weitem die lauten Töne:

„Nur weil sie die Frau des Minos ist, meint diese Europa, sie können ohne uns regieren!“

„Ein böser Dämon ist sie, war mir immer schon klar!“

„Die bringt den bestimmt noch um!“

„Nee, glaub ich nicht, die möchte doch möglichst lange Vormund sein!“

Höhnisches Gelächter.

Die alten Ratsherren sind kaum wieder zu erkennen.

„Pallnemvus, verlang doch einfach vom Hof das geliehene Geld zurück! Dann werde die sofort mit uns reden, da kannst du sicher sein.“

„Mh, tja, das ist eine gute Idee, Gromdas, aber ich warte lieber, bis meine Schiffe aus Luxor zurück sind, dann sind die Kassen wieder voll und wir können den Leuten ein Fest schenken und dabei für uns werben.“

Gromdas ärgert sich. Dieser Pallnemvus kann einfach nicht den Hals voll kriegen. Ich sollte vielleicht die Hohepriesterin zu gewinnen versuchen, ihr ein paar üble Geschichten über diese Europa erzählen. Vielleicht schwenkt sie dann auf Seiten der Ratsherren um. Vielleicht, denkt Keltberias. Er wird versuchen, noch heute eine Audienz bei Archaikos zu ergattern. Er muss sich selbst ein Bild vom Krankheitszustand des Minos machen. Vielleicht wird er ja sogar wieder ganz gesund. Dann ist diese miese Vormundschaftsgeschichte sowie so im Nu nichts zerronnen.

„He, Collchades, was haben denn deine Spitzel herausbekommen?“ fragt hinter vorgehaltener Hand Berberdus, der Vorsitzende. Der zieht nur ratlos die Schultern hoch. Das soll wohl heißen: Nichts Neues.

Da klopft Berberdus mit seinem kleinen Hämmerchen auf sein Rednerpult und bittet die Ratsherren, Platz zu nehmen. Geraune, Gerenne, Stühle Rücken, Gemurmel, erwartungsvolle Blicke. Zwei alte Sklaven schließen die Doppeltür zum Saal. Es wird schließlich still.

„Der Vorfall sucht seines gleichen“, beginnt Berberdus. Gleich wird er von einem Zwischenruf unterbrochen:

„Es ist eine beispiellose Anmaßung einer Frau!“

„Bitte, wir sollten jetzt nicht den Kopf verlieren, bitte, meine Herren! Collchades. lass im ehemaligen Saal der Ölkrüge in den alten Schriftrollen nachschauen, ob ein ähnlicher Fall überliefert wird. Ich jedenfalls kenne keinen.!“

„Berberdus, es ist jetzt keine Zeit für lange Suchaktionen in alten Texten, es ist höchste Zeit, dass der Rat der Alten den Kretern vorführt, was es bedeutet, wenn man alte Gepflogenheiten einfach übergeht: Dann macht man sich schuldig – selbst die Höchststrafe – dem Minotaurus zum Frass vorgeworfen zu werden – ist da eine angemessene Antwort. Dem müsste dann selbst der sterbende Archaikos zustimmen.“

Einen Augenblick ist es leichenstill im Saal. Dann springen die ersten begeistert auf, Stühle kippen um, dröhnend schlagen sie auf dem Marmorboden auf. Zwischenrufe. Berberdus, der Vorsitzende, versucht die Kontrolle zurück zu gewinnen. Aber vergeblich. Die Ratsherren schütteln sich bereits die Hände, jubeln. Aus ihrer Sicht ist gerade per Akklamation eine Zustimmung erteilt worden, Europa zu bestrafen. Strengstens. Der hohe Saal hallt wider von den aufgeregten, wütenden und wild entschlossenen Ausrufen dieser alten Männer, die sich plötzlich wieder stark und wichtig fühlen. Sie werden ihre Macht nicht aus ihren Händen geben, erst recht nicht an eine fremde Frau.

Schließlich, bevor die ersten Ratsherren begeistert den Saal verlassen, erhebt Berberdus noch einmal die Stimme:

„Meine Herren, ich muss wohl nicht betonen, dass völliges Stillschweigen über unseren radikalen Entscheid selbst verständlich ist. Ich werde allerdings sofort alle notwendigen Maßnahmen einleiten.“

Da breitet sich eine selbstgefällige Zufriedenheit über die alten Gesichter aus: Gut so, Berberdus, gut so, du kannst dich auf uns voll verlassen, sollen Gesten und Mimik wohl zum Ausdruck bringen.

Dann wird es ungewöhnlich still im Palast des Minos von Kreta.

Nur oben, auf dem Gesims des hohen Palastgebäudes, hocken weise, alte Vögel, krächzen dann und wann leise, tippeln hin und her oder fliegen noch eine Runde über der weitläufigen Anlage. Sie kennen diese Stille über dem Gemäuer nur zu gut: jedes Mal gab es Ärger, großen Ärger unter den Menschen – danach, nach dieser trügerischen Stille.