19 Dez

Yrrlanth – Roman – Die fast schon vergessene Botschaft vom Glück – Blatt # 86 (Leseprobe)

Memoria – die Kraft des Erinnerns

Auch in der Villa Marcellina hat der Winter, wenn auch behutsam, seine Herrschaft übernommen: Die großen Scheunen sind gefüllt, die Keller unter den Häusern der Sklaven und Handwerker ebenso.

Aber der alte Senator und Herr der Villa, Marcellus, nutzt die noch frostfreie Zeit, um an seiner List zu arbeiten. Je eher, desto besser, denkt er, als er sich jetzt aufmacht an diesem milden Dezembertag, um die Fortschritte der Arbeiten draußen vor der Villa in Augenschein zu nehmen. Dabei denkt er an die Erzählungen, die ihm einst sein eigener Großvater abends in der Bibliothek vorgelesen hatte. Auf vielen Schriftrollen waren die Taten der Vorväter ausführlich beschrieben.

Sie sollen dir in deinem Leben Mut machen. Zeigen sie doch, dass wir Römer schon viele Krisen erfolgreich überwunden haben. Und du kannst sicher sein, es werden neue kommen, größere. Aber mit Hilfe der Erinnerung kannst du sie meistern. Lies sie also auch deinen Kindern wieder und wieder vor – es ist wie Nektar und Ambrosia. Und vergiss nie, den Göttern zu opfern.“ Dann musste er immer kichern und schmunzeln, der Großvater.

Marcellus hat es dann auch so  gemacht: Oft las er in diesen Erinnerungen der Familiengeschichte, die damals noch in Arelatum spielte, wo sein Großvater in der Provinzverwaltung die Steuereinnahmen zu kontrollieren hatte. Denn trotz des Hunneneinfalls von vor mehr als 150 Jahren war die Provinz Gallia intakt geblieben. Die Unterstützung durch die Westfranken und der Nachschub für Aetius hatten entscheidend mit dazu beigetragen, die große Schlacht südöstlich von Lutetia zu gewinnen. Wir Römer könnnen die Campi Catalauni also stolz in unserer Erinnerung bewahren. Der Hunnenkönig musste abziehen, der Einfall blieb Episode. Und was hat nicht alles der edle Syagrius danach noch für Rom hier in Gallien geleistet.

Auch die Franken, die ja jetzt die ehemalige Provinz Gallia Belgica verwalten wie ein Königreich, werden nicht ohne uns zurecht kommen. Die Oberpriester der Christen, die die Franken zu ihren Verbündeten machen, indem sie sich taufen lassen, sind schlechte Krieger. Da ist sich Marcellus völlig sicher. Aber die nächste Krise steht vor der Tür, vielleicht schon im kommenden Frühjahr. Also vorsorgen, aus den Erinnerungen lernen. Ja, Großvater, sagt Marcellus nun zu sich selber, du bist mir auch in meinem Alter noch eine große Hilfe mit deinen Ratschlägen. Sie geben mir Kraft.

Inzwischen ist Marcellus außerhalb des großen Anwesens, der Villa Marcellina, angekommen und bleibt zufrieden stehen: Seine Leute leisten gute Arbeit. Der tiefe Graben, den sie um die gesamte Anlage anlegen sollen, ist schon deutlich zu erkennen. Eine wunderbare Falle wird das werden. So wie damals in Alesia. Die Bilder in seinem Gedächtnis lassen ihn nicht allein. Das tut gut und gibt Zuversicht.

Lobend spricht er jetzt mit dem Vorarbeiter. Und er staunt nicht wenig, denn da kommt Julian, sein Sohn, schwitzend und lachend auf ihn zu:

Da staunst du, nicht wahr, Vater?“

Marcellus ist sprachlos. Jetzt ist er sich ganz sicher, dass er sich keine allzu großen Sorgen machen muss, wenn die nächste Krise wirklich kommen sollte.

27 Sep

Leseprobe aus dem zweiten Roman „Yrrlanth“

Blatt # 70 Arnulf, der Bischof, versinkt in seinem Lebensüberdruss

Eine dünne Schneedecke hat sich über Lutetia gelegt. Im kalten, gräulichen Dämmerlicht an diesem Wintertag wirken die vielen kleinen Rauchfahnen über den erbärmlichen Hütten am Ufer des Flusses wie kranke Würmer, die sich winden und wenden, als könnten sie so ihre Schmerzen los werden.

Auch das verfallende Amphitheater zeigt sich an diesem Abend ganz in weiß, als wäre der einst mühsam heranggeschleppte Marmor gerade erst verbaut worden.

Auch in den Katakomben ist es bitterkalt und nass. Schmelzwassertropfen glucksen in kleine und große Pfützen. Die Laune des Bischofs ist dementsprechend schlecht. Längst hat er kalte Füße. Die Lederlappen um seine Beine und Zehen triefen vor Nässe. Aber Arnulf weiß, dass Abhilfe bereits auf ihn wartet.

Jetzt betritt er gebeugt eine kleine Halle mit einer bunt bemalten Kuppel. Fackellicht wandert unruhig darüber hin. Als bewegten sich die Göttinnen und Nymphen lüstern hin und her, so kommt es ihm vor, als er zu ihnen jetzt aufschaut. Die Mitte der Therme bildet ein rundes Becken, aus dem wie feine Schleier Rauchwellen hochwandern und im Halbdunkel vergehen. Er kann zwei Köpfe erkennen. Frauenhaar. Langes. Sie warten auf ihn. Arnulf schält sich hastig aus seinen klammen Kleidern und stürzt sich kopfüber ins warme Wasser. Schrill und vergnügt quietschen die hohen Stimmen dazu ein lockendes Willkommen. Unter Wasser schwimmt er auf die wie Schlangen herab hängenden Beine zu, taucht schnaufend dazwischen auf und prustet wohlig Luft und Wasser heraus.

So soll es sein, so soll es sein, denkt er zufrieden. Seine Hände arbeiten sich schmeichelnd auf nasser Haut hoch, wandern über Brüste, die sich ihm gerne anzubieten scheinen. Vergessen ist in diesem Augenblick der ganze Ärger des Tages, die misslichen Botschaften aus dem Lager des Königs, die schlechten Ergebnisse, die seine Pächter vorlegten, die bösen Blicke der Neider bei der Audienz vor dem König. Aber Pippin. Ja, das ist so etwas wie ein Lichtblick in dieser Düsternis. Den will er zu seinem willigen Werkzeug machen. Er hat ihn ganz in seiner Hand, die gerade lustvoll auf einem haarigen Hügel ausruht, unter Wasser.

Die Römer wussten wirklich, das Leben zu genießen. Wir, als ihre siegreichen Nachfahren, sehen dagegen ziemlich klein und unfähig aus, das muss Arnulf zugeben. Ich werde die beiden mitnehmen, hinterher, da kommen mir bestimmt hilfreiche Gedanken, wie wir das, was die Römer geschaffen haben, noch übertreffen könnten. Aber nicht jetzt. Jetzt nichts als Lust, reine Lust. Bichöfliche Lust. Er muss lachen. Das freut die beiden jungen Gefährtinnen, denn sie kennen die Launen des Bischofs nur zu gut. Sie werden sich ordentlich Mühe geben, ihm zu Willen zu sein, dann drohen heute auch keine Schläge oder Schlimmeres gar.

Und oben tanzen weiter schattenreich die schlanken Nymphen um die Göttinnen des Olymps herum, als wären Götter und Menschen friedlich vereint.

06 Sep

Leseprobe aus dem zweiten historischen Roman – Blatt # 85

GESANG UND GÖTTERBERG IM SCHNEE

Unruhig hockt die alte Eule auf dem dicken Ast der Blutbuche. Was sie sieht und hört, gefällt ihr nicht. Weder die tanzenden Schneeflocken, noch das flackernde Licht, das von einigen Feuerstellen herrühren muss. Das ist ihr Berg. Weder Kälte, noch Menschenstimmen behagen ihr, aber sie nimmt es hin. Wie immer.

Somythall muss nicht frieren. Sie ist in Felldecken gehüllt. Ihr Atem zaubert wunderbare Luftgebilde in die Nacht. Ihre Augen sind geschlossen. Sie träumt. Rochwyn hat sie in einer Sänfte hierher tragen lassen. Seine Leute murrten vergeblich.

Es ist Wintersonnenwende, Leute!“ hatte er gezischt.

Wir müssen unseren Göttern huldigen, dass sie uns im kommenden Jahr gewogen sein mögen“, schiebt er noch hinterher.

Jetzt stehen sie in der Höhle, die schon so lange den Waldgöttern geweiht ist, und beten und summen ihre alten Melodien. Nur wenige Fackeln beleuchten das heimliche Fest der Gläubigen. Rochwyn erinnert sich an bessere Tage, an denen sein Vater ihm von diesem fernen Götterberg erzählt hatte, damals in Arelatum. Dort steigen sie auf und ab – zur Sommersonnenwende wie zur Wintersommerwende – hatte er gesagt. Und die Menschen bringen ihnen Opfergaben, schon immer. Ganz gleich, ob es Römer, Sklaven, Franken oder Yren sind. Sie alle spüren, dass sie von den Göttern beobachtet werden. So sein Vater. Und er als kleiner Junge hatte gebannt gelauscht und sich gewünscht, auch einmal an solch einem Fest dort teilnehmen zu dürfen. Dass er nun hier neben seiner Göttin, Somythall, steht, sie schützt und mit ihr den uralten Göttern huldigt, erscheint ihm wie ein Traum.

Gleichzeitig betet unten in der kleinen Klosterkirche Bruder Benedikt mit seinen Mitbrüdern zu seinem Gott, der über Syrien und Yrrlanth seinen Weg hierher gefunden hat:

Herr, mein Herr, lass uns nicht zuschanden werden! Wir feiern heute deinen Geburtstag. Aber wir sind umgeben von gewaltbereiten Ungläubigen, die sich einfach nicht taufen lassen wollen oder an den falschen Christus glauben! Drum lasset uns singen: Herr, erbarme dich und verlasse uns nicht!“ Benedikt reckt die Arme hoch und stimmt den Sermon an.

Und gleich beginnen die Mitbrüder singend zu antworten. Sie frieren. Die Öllämpchen spenden nur spärlich Licht. Es ist bitter kalt in ihrem kleinen Gotteshaus. Ihre Hände vergraben sie unter dreckigen Stoffbahnen.

Währenddessen schneit es weiter lautlos Flocken vom Himmel. Und auf der anderen Seite des Götterbergs, im Schutz des dichten Buchenwalds beten alte Männer, alles ehemalige Krieger, in der Ruine ihres Gottes zu Sol Invictus. Finster blicken sie am Geburtstag ihres Gottes auf das zerborstene Standbild und murmeln übelste Flüche gegen all ihre Feinde, die sie gerne tot sähen. „Hilf uns, sie zu töten!“ beten sie inbrünstig, „hilf uns!“