29 Jan.

Historischer Roman II – YRRLANTH – Leseprobe – Blatt 188

Pippa mit Sumil auf der Flucht nach Mons Relaxus.

„Wo bist du?“, war der erste Satz gewesen, den Pippa zitternd hervorbrachte, als sie früh morgens in der hohen Höhle der vielen Götter aus dem Schlaf fuhr. Der Platz neben ihr: leer. Julianus spurlos verschwunden.

Das ist aber schon Tage her. Seitdem bangend vor neuen Überfällen unterwegs. Richtung Westen. Richtung Mons Relaxus. Somythall hatte ihr die wichtigsten Orte der Rückreise nach Hibernia genannt. Dass sie allerdings in Augusta Treverorum ihren Tod finden würde, hatte Somythall natürlich nicht gedacht. Und dass Julianus Pippa mit seiner Truppe bis nach Bynnchaer bringen wollte, hätte sie sich auch nicht träumen lassen. Und dass sie sogar gierig über einander herfallen würden – in der nach Weihrauch duftenden Götterhöhle – dass kommt ihr nach wie vor wie ein Traum vor.

Dennoch hat sie so viel Glück in ihrem Unglück gehabt: Die Hüterinnen und Hüter der Götterhöhle haben ihren Trupp mit weiteren Kämpfern verstärkt. Sie sind ortskundig und haben schon oft den weiten Weg nach Westen, nach Mons Relaxus, hinter sich gebracht. Aber was noch viel wunderbarer ist, dass noch drei junge Männer zu ihnen gestoßen sind, die ihr völlig fremd waren, die aber Somythall gut gekannt hätte, wenn…

Und wieder kommen ihr die Tränen. Sie tropfen auf die kleinen Bäckchen von Sumil, die sie einfach nur anlächelt. Pippa sitzt auf ihrem Pferd quer, hält Somythalls Tochter fest in ihren Armen und betet in einem fort zur großen Göttin Atawima: „Soju, toju, waltantaju…!“ Rochwyn, Sumils Vater: tot. Somythall, Sumils Mutter: tot!

Ich muss es schaffen! Mit diesem Gedanken wacht Pippa jeden Morgen auf. Mit jedem Morgen kommt ihr das Meer ein Stück entgegen: Mons Relaxus. Wird sie ein Schiff finden, dass sie nach Isca Dumnoniorum, nach Idomm, wie Somythall lachend den Zungenbrecher vereinfacht hatte, nach Idomm bringt? Die drei sind wirklich außergewöhnliche Männer, geht es ihr durch den Kopf. Jonas, David und Jakob. Rochwyn und Somythall hatten sie in Argentovaria getroffen. Damals wollten die drei nach Aquitania fliehen, aber die Götter hatten wohl anderes mit ihnen vor. Als Juden wurden sie überall gehänselt, bespuckt, mit Steinen beworfen. Schließlich, als die Franken sie gefangen nehmen wollten, waren sie einfach Richtung Westen geflohen, kopflos, völlig verängstigt. Und waren zufällig auf den eigenartigen Reitertrupp gestoßen, in dessen Mitte eine junge Frau mit

Kind auf den Armen mitritt. Und als sie erfuhren, dass die Kleine Somythalls Tochter ist, sahen sie in dieser unvorhersehbaren Begegnung ein Zeichen ihres alten Gottes, Jehova, denen zu helfen, um sich selbst zu helfen. Jetzt reiten sie stolz an der Spitze, Julianus Kämpfer hatten ihnen gerne den Vortritt gelassen. Die Verstärkung war ihnen nur sehr recht. Einem Boten, der von Mons Relaxus auf dem Weg nach Lutetia war, gaben sie ein Schreiben mit, damit ihr Herr (sie hatten natürlich keine Ahnung, dass dieser Herr gerade dabei war, Bischof von Dividorum, der blühende Stadt an der Musalla, zu werden) wusste, wo sie gerade sind und dass sie gut voran kommen. Schon in zwei Tagen werden sie in Mons Relaxus sein. Wenn nicht Wegelagerer sie überfallen.

Sumil beginnt zu weinen. Sie braucht eine Pause.

„Können wir halt machen?“ ruft Pippa nach vorne, wo Jonas, David und Jakob gerade über irgendetwas zu lachen scheinen. Wie an Fäden gezogen richten sie alle drei gleichzeitig ihren rechten Arm in die Höhe: „Halt!“ Schnaubend bleiben die Pferde stehen. Auch sie freuen sich über eine Pause.

„Bildet einen Kreis und haltet die Augen offen!“, ruft der Anführer der Truppe von Julianus in die Gruppe. Sie befinden sich gerade inmitten eines alten Buchenwaldes, wo sicher der Zauberer Merlin sein Unwesen treibt. Oder gerade mit Morgane in Liebesspielen schwelgt. Das Sonnenlicht dringt noch gut durch das junge Blättergrün der Bäume. Auf dem weiten Moosteppich glitzern Wassertropfen in allen Farben. Die Pferde suchen nach Grashalmen. Die Reiter vertreten sich die Füße, helfen Pippa mit Sumil vom Pferd. Gleich hört sie zu weinen auf.

„Ist es noch weit?“ fragt Pippa Jakob. Der schüttelt nur den Kopf, obwohl er gar nicht weiß, wie weit es noch ist. Er und seine Brüder, sie waren noch nie so weit im Westen wie jetzt. Sie kennen sich besser am Rhenus aus, aber da konnten sie ja nicht länger bleiben. Die Römer hatten sie geduldet, die Franken mit ihrem neuen Gott aber nicht. Ob sie nach ihrem Umweg über Hibernia doch noch zu ihren Verwandten in Aquitanien gelangen werden? Diese Frage wollen sie sich aber im Augenblick gar nicht erst stellen. Außerdem sind sie von Pippa und Sumil so begeistert, dass diese bangen Fragen um ihre Zukunft gerade gar keinen Platz haben in ihrem Gedächtnis.

Das Geschrei von zwei Greifvögeln über dem Buchenblätterdach geht Pippa durch und durch. Sind es Boten? Von wem? Welche Botschaft bringen sie? Auch Sumil schaut ängstlich nach da oben. Wer ist das?

28 Dez.

YRRLANTH – Blatt 186 – Historischer Roman II – Leseprobe

Boten aus Lutetia fragen nach dem Römer aus der Villa Marcellina.

„He, du, bist du der Römer Julianus?“

Obwohl fast geflüstert, wandert die Frage durch die dunkle Halle, als sollte es ein Zauberspruch sein. Die Schlafenden packen ihn mit in ihre letzten Traumbilder oder lassen sich davon zurück in den frühen Morgen holen. Wo bin ich, fragt sich Julianus, der gerade sanft an der Schulter berührt wird. Wo bin ich? Pippa neben sich – eng an ihn geschmiegt – schmunzelt und seufzt tief Atem holend vor sich hin. Sie will noch nicht wieder wach werden. Noch nicht. Denn das Eins Sein mit Julianus in dieser Nacht, das so überraschende, hält sie immer noch wie in einem Rausch gefangen.

„Bist du der Römer oder nicht?“

Jetzt ist die Frage schon etwas entschiedener und fordernder gestellt. Julianus schlägt seine Augen auf. Das Dämmerlicht verhindert, dass er den Frager erkennen kann. Aber trotzdem antwortet er jetzt leise:

„Ja, der bin ich. Warum fragst du – so früh am Morgen?“

Vorsichtig richtet Julianus sich auf, er will Pippa nicht wecken. Es muss einer von den Leuten sein, die sie gestern hierhin gebracht hatten.

„Der Kronrat aus Lutetia hat einen Boten geschickt. Die wollen dich sprechen dort.“

Julianus zuckt innerlich zusammen. Ist der Verdacht nun doch auf ihn gefallen, halten sie ihn für den Attentäter am König? Da kommt aber schon die nächste Bemerkung – in breitestem westgotischen Sprachfluss:

„Sie halten wohl dich und deine Familie für würdig, Teil des Kronrats zu werden – du sollst wohl mithelfen, den neuen König zu finden.“

Julianus meint für einen Augenblick zu träumen, dann steht er aber schnell auf, lässt sich von dem Fremden führen – er will auf keinen Fall, dass Pippa aufwacht, jetzt.

In den Nischen, an denen sie jetzt wieder vorbei kommen, liegen die Paare immer noch eng umschlungen beieinander, selig schlafend und sicher auch in sinnlichsten Träumen unterwegs. Auch an Julianus huschen die Erinnerungsbilder der letzten Nacht kurz und heftig vorbei. Er muss sie vertreiben, er muss nachdenken, was er tun soll. Bleiben, weiter reisen, nach Lutetia aufbrechen?

Kalte, klare Morgenluft empfängt ihn vor der olympischen Höhle. An einem Feuer stehen drei Männer und schauen ihm und dem Wecker entgegen.

„Du bist also dieser Römer Julianus – oder?“ fragt ihn nun der Älteste am Feuer, die beiden anderen mustern ihn neugierig von oben bis unten. Nach der feurigen Nacht mit Pippa sieht Julianus etwas zerzaust und mitgenommen aus. Er fährt sich mit beiden Händen durch sein langes Lockenhaar, räuspert sich vernehmlich, bevor er sagt, was er sich eben zurecht gelegt hat:

„Der bin ich in der Tat. Ich werde so schnell, wie ich kann, nach Lutetia reiten – habe aber kein Pferd…“

Die drei am Feuer und mit ihnen jetzt auch der Mann, der ihn geweckt hatte, grinsen breit.

„Ich habe ein Pferd mitgebracht, das wäre dann geregelt – oder?“

Jetzt erst wird Julianus klar, dass einer von den vier Männern ein Franke ist.

Julianus ist sprachlos. Hoffentlich ist das keine Falle, geht es ihm durch den Kopf, als er antwortet und sich seine Hände am Feuer zu wärmen versucht:

„Ich habe aber eine Bitte: Die Frau, der Säugling und die restliche Begleitung müssten zum Hafen im Westen gebracht werden, ich hatte ihnen nämlich versprochen, ihnen Schutz zu sichern auf ihrer Rückreise nach Yrrlanth.“

„Yrrlanth?“

Die vier Männer schauen sich verdutzt an. Als würde die Frau ans Ende der Welt reisen wollen, so kam es ihnen vor bei dem Namen Yrrlanth. Der Franke ergreift als erster das Wort:

„Nun, nun. Das ist nicht mein Auftrag, wir beide müssen so schnell wie möglich Richtung Osten, Richtung Sequana!“

Dabei betont er den lateinischen Namen besonders, um dem Römer deutlich zu machen, dass er ein gebildeter Mann ist. Erwartungsvoll schaut Julianus zu den beiden anderen am Feuer. Werden sie seine große Bitte erfüllen wollen?

Insgeheim wünscht er sich, dass er, ohne Pippa noch einmal in die Augen schauen zu müssen, sofort aufbrechen kann, denn er wäre sicher hin und her gerissen zwischen sie weiter begleiten wollen und zum Kronrat aufbrechen – schließlich könnte er so den Ruf der Marcellus-Familie weiter mehren .

„Da werden wir den Ältestenrat zusammenrufen müssen! Aber der wird sicher zustimmen.“

21 Dez.

YRRLANTH – Blatt 185 – Historischer Roman II – Leseprobe

Vielstimmiger Gesang in der hohen Halle der vielen Nischen.

Pippas Gefühle schwanken zwischen Todesangst und Seligkeit. Ist das jetzt hier in dieser Höhle das Ende meines Lebens? Hat mir die Alte in den Katakomben von Lutetia nur lauter Lügen eingeflüstert? Gleichzeitig versinken Pippas Blicke in denen von Julianus. Was hat dieser Blick zu bedeuten? Betrügt mich meine Todesangst nur, um mich in diesem letzten Augenblick stark zu machen? Auch Julianus ist völlig verwirrt. Denn hinter der großen Göttin in einer der vielen Nischen, die den kreisförmigen Raum begrenzen, erkennt er Diana, als wäre sie aus dem Tempel der Villa Marcellina hierher gekommen, um ihn zu trösten und aufzumuntern. Sumila seufzt im Schlaf vor ihm auf dem trockenen Stroh, das mit Moos gepolstert ist. Oder ist das alles jetzt nur ein Traum, der ihnen die Angst vor ihrem nahen Ende nehmen soll?

Das Flackern der Flammen in den Fackeln, die zwischen den Nischen aufgehängt sind, fluten den Moment zu einem Bad in milden Farben, die wie bunte Schlangenbänder an den Wänden auf und ab gleiten.

Jetzt beginnen die Frauen erneut ein vielstimmiges Summen. Mit geschlossenen Augen und erhobenen Armen schwanken sie genüsslich hin und her und verneigen sich lächelnd von den Götterbildnissen in den Nischen – dabei wandern sie sacht von einem Abbild zum nächsten, verneigen sich summend, jauchzen kurz und hell auf, um dann wieder weiter zu tanzen und zu summen. Völlig selbstvergessen. Die Fremden, die sie hierher geleitet hatten, haben sie längst sich selbst überlassen. Zu Füßen der großen Göttin entzünden nun zwei alte Priester kleines Geäst, das den Weihrauch in großen Schalen zum Schwitzen und Schmelzen bringt. Pippa und Julianus liegen dicht beieinander, jetzt umarmen sie sich, vereinen sich, bis die Erschöpfung nach solch einem langen Tag sie gnädig in tiefen Schlaf hinüber geleitet. Und in ihren Träumen wandeln sie noch einmal durch alte Bilder, in denen sie Somythall begegnen, die ihnen lachend entgegen winkt. Sol Invictus scheint mit Atawima in ein tiefes Gespräch vertieft – von Nische zu Nische – Juppiter Dolichenus philosophiert begeistert mit Mithras und Grannus macht überschwenglich Diana den Hof. Ein heimlicher Olymp unter der Erde. Die Götter und Göttinnen werfen dabei immer wieder wohlwollende Blicke auf das eng umschlungene junge Paar, das längst sich und alles um sie herum vergessen hat, so überschäumend haben Lust und Wonne sie verwöhnt und aufgehoben in eine Welt reinster Lebensfreude. Und erst Isis!