05 Jan

Europa – Meditation # 78

Geborgenheit in vertrautem Gebiet

Der Alltag hat die feiernden Gemeinden Europas wieder eingeholt. Aufbruchstimmung ist angesagt. In wohlbekannten Mustern soll neuer Wein aus alten Schläuchen fließen. Aber die Denkgewohnheiten, die Sprechmuster, selbst Gestik und Mimik, sie alle bleiben sich in fataler Weise gleich: Weiter wird von der EU geredet, wenn man Europa meint, weiter wird von drohenden Exits gemunkelt, wenn man von Regionen spricht, die mehr Eigenverantwortung für sich beanspruchen wollen.

So kommt die große Vision eines geeinten Europas nicht von der Stelle. Immer sollen erst die Sachzwänge der Ökonomie und der Verteidigung geklärt werden. Wie ein Damoklesschwert scheinen die Interessen der europäischen Konkurrenten (von den Weltkonkurrenten ganz zu schweigen!) alles in Frage zu stellen. Die Muster sind alt und überstark.

Und wenn nun Island hingeht und tatsächlich für gleiche Arbeit gleichen Lohn Frauen wie Männern zahlen wird, dann wird freundlichst abgewunken: Nun, Island ist ein kleines, ein sehr kleines Land. Da kann man das vielleicht machen. Haben die etwa einen Dienstleistungsapparat wie wir, eine Autoindustrie, eine Pharmazeutische Industrie in der Größenordnung Deutschlands? Nein. Na also. Wo ist hier eigentlich das überzeugende ALSO-Argument? Außer mit der Größe – also einer bloßen Quantität – kann hier gar nicht gepunktet werden. Im Gegenteil: Wäre es nicht viel sinnvoller, das überschaubar Island etwas genauer zu betrachten, statt mit Totschlagargumenten der Sachdiskussion auszuweichen?

Vielleicht stecken in der Vision eines gemeinsamen Europas sechzig bis siebzig Island-Modelle, die wir in unserem starren Blick auf die EU einfach nur nicht sehen wollen/können. Nach dem Sommermärchen in Deutschland gab es ein Islandmärchen, das man gerne bis heute in ganz Europa nacherzählt, weil es so gut tut, weil es so einfach ist, weil alle mitmachen können. So ein Erlebnis erzeugt ein Gefühl von Geborgenheit, von Überschaubarkeit und Nähe. Da können die Isländer oder Basken noch so anders sein, trotzdem fühlen sich die anderen mit ihnen verwandt. Weil sie sich etwas trauen, was in der riesigen Menge eben untergeht: Das Zusammengehörigkeitsgefühl. Das ist zwar ein Monsterwort, aber die Bedeutung ist sehr, sehr einfach: Nähe, Vertrauen, Glaubwürdigkeit.

Und zum Schluss noch einmal als Erinnerung: Landauf, landab wird gebetsmühlenartig wiederholt, dass gleicher Lohn für gleiche Arbeit aus mindestens zweiunddreißig Gründen unrealistisch sei. Wie sollen sich das die Frauen geborgen fühlen? Sie müssen sich doch verraten und verkauft vorkommen. Nur weil es bisher so war, muss es nicht auch weiter so sein – siehe Island.

Das gleiche gilt übrigens für Europa – nach dem Zweiten Weltkrieg musste es auch nicht so weiter gehen wie bisher: Kriege, Kriege, Kriege. Also schlug man in Europa ein neues Kapitel auf. Seit mehr als siebzig Jahren Frieden in Europa. Und nun steht schlicht das nächste Kapitel an: EWG, EU das war der erste Schritt (bei dem uns die Amerikaner nicht ganz selbstlos ordentlich halfen), nun sind wir erwachsen und stark genug, nun können wir uns selbser helfen und den nächsten Schritt tun (ohne Amerika, ohne Russland, ohne China): In überschaubaren Regionen Europas gemeinsam Selbstverwaltung installieren – wohl vernetzt mit allen Regionen – und da, wo es Not tut (zum Beispiel in der Verteidigung der Europäischen Grenzen), einen überregionalen Pakt miteinander schließen, um die Selbstständigkeit der Regionen nachhaltig zu sichern. Sonst eben einfach Austausch und Zusammenarbeit und natürlich gleicher Lohn für gleiche Arbeit für Frau wie Mann. Wie ja schon in Island seit 2018.

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