21 Jan

Europa – Meditation # 8

Sommermärchen war gestern, Wintermärchen ist heute. Teil zwei.

Selbst im Englischen gibt es einige Wörter aus dem Deutschen, die nicht übersetzt werden müssen, so deutsch sind sie eben…wie „Kindergarten“…oder „Götterdämmerung“ oder „Hausfrau“ oder „Hamburger“ oder „Autobahn“ oder „Gemütlichkeit“ oder „raus“…oder andere. Ähnlich könnte es mit dem Wort Märchen sein, das dem Deutschen beim Benutzen wie Marzipan auf der Zunge zergeht. Da ist Sommer-Märchen natürlich auch eine süße Kombo. Aber warum spricht man eigentlich seit 2006 von einem Sommermärchen und nicht von einem Sommertanz oder Sommerball oder Sommerglück oder Hammersommer? Gehört doch das Märchen schon immer in die Welt des Vorgestellten, des Fiktionalen. Zwar ist es in der Literatur eher eine kleine Gattung, scheint aber in der Wirkung dennoch bleibend übergroß zu sein – bei jung und alt. Und was 2006 geschah, war wohl eine echte Überraschung für die Zeitgenossen in Mitteleuropa, aber beileibe keine bloße Vorstellung, Einbildung. Nein. Dieses völlig neue Lebensgefühl wurde binnen einiger Wochen zu d e r überraschenden Alltagserfahrung. Da gab es zwar noch nicht den präsidialen Satz vom Islam, der zu Deutschland gehöre, aber bunt war die Welt an Rhein, Weser und Oder auch damals schon. Man hatte sich zwar immer brav auf Distanz wahrgenommen, schätzte sich jedoch eher nicht. Bis, ja bis eben 2006 auf einmal auf den Straßen – bisweilen sogar mit Glanz in den Augen – über „unsere Jungs“ gefachsimpelt wurde, in Hochdeutsch, Dialekt und auch fließend falsch. Plötzlich hatte man ein gemeinsames Thema, identifizierte sich mit den gleichen Leuten, dem gleichen Spiel, den gleichen Hoffnungen, dem gleichen Stolz und stellte wohl unausgesprochen fest: Eigentlich sind wir doch alle gar nicht so verschieden, wie wir immer tun – trotz aller Unterschiede. Und 2010 und erst recht 2014 wurde dieses frische Blümchen weiter ordentlich begossen, dass es blühe und gedeihe, was es auch überbordend tat. Es ist also gar kein Märchen, es sind wirkliche Gefühle, wirkliche Erfahrungen und wirkliche Erlebnisse. Vielleicht war und ist es einfach nur die alte Angst vor dem Fremden, die da nicht nachgeben will und wollte. Und dann kam auch noch der siebte Januar 2015 über Paris! Wasser auf die Mühlen dieser Ängste, klar. Und schon stecken wir plötzlich in einem Wintermärchen. Schon wieder Märchen? Nein, danke. Es ist kalt, die europäische Vielfalt muss sich kalte Fragen gefallen lassen. Wie aus einem schönen Traum scheint man aufgewacht zu sein und starrt auf eine Wirklichkeit, die alles andere als märchenhaft erscheint. Und viele neigen vielleicht dazu, unangenehme Erfahrungen und Wahrnehmungen so zu deuten, dass beim Gegenüber der Hase im Pfeffer liegt. Früher – also vor der Zeit der drei Sommer-Märchen – hatte man höchstens am Tresen oder vor dem eigenen Fernseher oder in der Mittagspause über Politik geschimpft oder gerechtet und zumeist waren fremde Faktoren ausschlaggebend für ein vernichtendes Urteil, das man solidarisch fällen wollte. Denn vor lauter Maloche blieb ja gar keine Zeit für Aufläufe. Bis, ja bis einige eben einfach anfingen auf die Straße zu gehen, um ganz öffentlich zu sagen, was man denkt – wie früher eben im Sommer auch. Gut, damals ging es um Sport, jetzt geht es um Politik. Aber wir müssen einfach öffentlich darüber reden, woher wir eigentlich kommen, wer wir sind und wohin wir gehen wollen. Was meinen wir eigentlich, wenn wir mit glänzenden Augen (auch nicht immer!) von Europa reden als unserem Kulturraum, als unserer Lebenswelt, die wir schätzen und zu kennen glauben? Diese historische Vielfalt macht einen ja eher ganz schwindlig. Da beschränkt man sich lieber auf die regionalen Gegebenheiten. Warum auch nicht? Denn sie sind alle vernetzt miteinander durch Zeit und Raum in der europäischen Geschichte, von den Anfängen bis heute. Das müssen wir uns nur wieder klar machen. Nach und nach sich besinnen auf das oft schmerzhafte Werden dieser kulturellen Buntheit, Gegensätzlichkeit und Andersartigkeit. Der kulturelle Stolz hat seine Fundamente stets im Besonderen, im Einzigartigen – in den Gemeinschaften wie in den einzelnen Individuen. Drum ein kleiner Rat zum Abschluss: Lassen wir doch gerne die Leute auf die Straße gehen und öffentlich sagen und zeigen, was sie fürchten, was sie mögen, was sie politisch eint! Wie könnte man sich das denn vorstellen? Achtundzwanzig breite Alleen führen sternförmig auf den riesigen europäischen Marktplatz der Meinungsbildung, wo diese verschiedenen Ängste und Hoffnungen zusammenfinden, sich zuhören, aufeinander eingehen und dann in fair ausgehandelten Kompromissen Grundpfeiler für eine friedliche, gemeinsame, europäische Zukunft zu bauen. Das wäre dann in der Tat märchenhaft schön. Der Anfang ist bereits gemacht. In aller Öffentlichkeit.

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