Arnulf,
Bischof im ehemaligen Dividorum, zeigt, wie man Gefolgschaft
schafft
– 2. Reise
Pippa und Pippin hatten sich nach ihrer „kleinen Reise“ zu den Knochenbergen, wie sie es immer wieder erschauernd nennen, oft gefragt, was der Bischof wirklich mit ihnen vorhat. Will er sie fördern oder will er sie klein halten? Aber warum?
Der
Winter in diesem Jahr hatte mild begonnen. Aber jetzt will er wohl
noch einmal zeigen, was er kann. Es ist eiskalt. Pippa und Pippin
frieren erbärmlich. Nachts liegen sie eng aneinander geschmiegt in
Pippins windschiefer Hütte und frieren trotzdem. Lutetia scheint im
Winterschlaf erstarrt. Die Einwohner verlassen kaum ihre ärmlichen
Behausungen, nur im steinernen Palast des Königs hält in der
großen Halle ein Feuer die Leute halbwegs bei Laune.
Gerüchte
sirren durch den Bau. Chlotar hat Brunichild in seiner Gewalt. Man
hat fürchterliches Geschrei aus der Folterkammer gehört. Was hat er
mit ihr vor? Sie ist eine alte, gebrochene Frau. Lange war sie stolze
Königin und Vormund am Königshof in Burgund gewesen, hatte viele
Kriege für ihre Söhne und Enkelkinder führen lassen. Alles
umsonst. Jetzt ist sie am Ende. Chlotars Macht wächst Tag um Tag. Er
ist getaufter Christ, er könnte sie in ein Kloster schicken. Er
könnte. Jetzt ist der Arnulf, der Bischof von Dividorum, bei ihm.
Sie reden. Die Wachen hängen übermüdet in ihren Matten. Auch sie
frieren um die Wette. Manche flüstern, die Kälte habe auch das Herz
des Königs und des Bischofs erfrieren lassen. Draußen liegen
Erfrorene am Ufer des zugefrorenen Flusses. Sie kleben am Eis. Man
kann sie nicht einmal wegschaffen, geschweige denn in der gefrorenen
Erde beerdigen. Ist die Kälte die neue Pest? So wie vor zwei
Generationen unter Kaiser Justinian, Belisar und Narses die letzte?
Jetzt
kommt Bewegung in den großen Steinbau. Ein Herold sattelt sein
Pferd. Schon steht er auf dem leeren Marktplatz, er hat einen
Soldaten an seiner Seite, der mit zwei Trommeln einen Wirbel nach dem
anderen trommelt. Die Leute von Lutetia wissen, was das bedeutet. Der
König braucht wieder ein Publikum.
„Euer
Herr und König, Chlotar der zweite, lässt hiermit wissen und tut
kund, dass heute, wenn die Sonne im Mittag steht, alle hier zusammen
kommen müssen. Der König will zu Gericht sitzen und alle sollen es
hören und sehen!“
Dreimal
Trommelwirbel, dreimal die gleiche Ansage. Nach und nach waren die
frierenden Lutetianer aus ihren Hütten gekrochen, hatten sich
wortlos die Ankündigung des Herolds angehört und waren wortlos
wieder gegangen. Die Nachricht wird sich – trotz fahlen Lichts,
trotz klirrender Kälte – schnell in der Stadt verbreiten. Sie
wissen, wer nicht erscheint, muss mit harten Strafen rechnen. Ihr
Herr König ist ein strenger Herr. Auch Pippa und Pippin wissen, dass
sie da sein müssen. Diesmal wird die Reise nicht weit gehen.
Nur
bis zum Marktplatz. Aber sie spüren bereits, dass am Ziel auch
dieser Reise ein großes Erschrecken stehen wird. Sie spüren es
einfach, können es sich nicht erklären, aber sie spüren es. Pippa
zittert und hat wieder Tränen in den Augen. Aber es sind keine
Tränen der Traurigkeit, nein, es sind Tränen des Zorns, der sie
sogar ein bisschen wenigstens zu wärmen scheint. Pippin ahnt nicht,
was in ihr vorgeht. Er glaubt, sie habe einfach nur Angst und sei
eben eine schwache Frau. Die Stunden bis Mittag verbringen sie mit
vor sich Hinstarren, mit Hände warm Reiben, mit Atmen, mit Angst,
die sie einfach nicht mehr los werden. Der kleine Raum – düster
und eisig – schützt sie nicht vor dieser Angst. Das Stück Brot,
das sie runter würgen, ist fast so hart wie ein Stein. Einen Schluck
Wasser haben sie im kleinen Topf über der kleinen Feuerstelle aus
dem Eisstück heraus getaut, das den verbeulten Napf ausfüllt.
Dann
gehen sie los. Um Füße und Hände und Kopf haben sie sich
schmutzige Lappen drapiert. Ihre Mäntel schützen sie nur schlecht
vor der Kälte, die sie empfängt. Auch aus den anderen Hütten
schleichen Menschen Richtung Marktplatz. Man spricht nicht, man
schaut zu Boden. Viele beten, dass es schnell vorbei sein möge, was
ihr König da vor ihren Augen vorführen wird: Er will zu Gericht
sitzen. Es geht um die Burgunderin. Das ist allen klar. Klar ist
ihnen auch, was sie erwartet.
Und
als jetzt die Lutetianer wie ein verlorenes Völkchen auf dem
Marktplatz herum stehen – jeder mit einem kleinen hellen Wölkchen
vor dem Mund – , sehen sie die Prozession vom Palast kommen. Wieder
Trommelwirbel, diesmal aber nur eintönig und mit großen Pausen.
Vorneweg gehen die Wachen. Alle tragen schwarze, lange Mäntel, ihre
eisernen Helme blinken kaum im spärlichen Licht dieses eiskalten
Wintertages, dann folgt ein Fuhrwerk – ein Ochse zieht den Karren –
und oben liegt etwas unter filzigen Decken, das sich kaum bewegt. Das
muss die Burgunderin sein. Dahinter dann hoch zu Pferd Chlotar und
gleich hinter ihm Bischof Arnulf. Dann zu Fuß der gesamte Hof: In
Rüstung und unter Waffen, auch sie haben alle schwarze Mäntel
übergezogen. Ein Trauerzug. Nein, kein Trauerzug, ein Zug hagerer
Männer, die sich aufs Töten verstehen. Und dahinter ein Mann, der
sich mit vier Pferden abmüht – ohne Sattelzeug trotten sie vor
sich hin. Sie wären sicher lieber heute im Stall geblieben.
Schließlich
erreicht der traurige Zug den Marktplatz. Die frierenden Leute haben
ihre kleinen Kinder unter ihre löchrigen Umhänge gezogen, das wird
zwar kaum gegen die Kälte helfen, aber vielleicht wenigstens gegen
den Anblick, den sie alle nun über sich ergehen lassen müssen. Es
ist sehr still. Nur das Schnauben der Pferde hallt laut über den
Richtplatz.
Wieder
ein Trommelwirbel. Diesmal lang und immer schneller werdend, dann
bricht er ab. Chlotar gibt seinen Wächtern ein Zeichen. Sie holen
die Burgunderin vom Karren. Sie gibt keinen Laut von sich, kann sich
ohne das Zupacken der Wächter gar nicht mehr bewegen. Sie ist
zerbrochen.
Sie
ist eine Frau von fast siebzig Jahren. Alt und gebrochen. Keiner will
das sehen müssen. Aber sie alle müssen es sehen. Dann ist es der
Bischof, der das Wort ergreift – Chlotar hatte auch ihm ein Zeichen
gegeben. Er räuspert sich, steigt in die Steigbügel, richtet sich
hoch auf:
„Euer
Herr und König, Chlotar, hat erfolgreich den Krieg gegen die
Burgunder beendet. Brunichild, die feindliche Burgunderin, ist durch
Gottes Hand in seiner Gewalt. Er hat sie verhören lassen, sie hat
alles gestanden und ist bereit zu sterben. Wegen der teuflischen
Anschläge, die sie gegen euren Herrn und König, Chlotar,
ausgeheckt hat, soll sie als Strafe auch einen bösen Tod sterben.“
Arnulf
fällt zurück in seinen Sattel, der König blickt zufrieden zu ihm
herüber und gibt das Zeichen zum Vollzug. Erneuter Trommelwirbel,
lange, sehr lange. Währenddessen nehmen die Wächter die vier
Pferde, binden jeweils einen Strick an Beinen und Armen der
Burgunderin fest und versuchen gleichzeitig die Tiere zu beruhigen,
die unruhig hin und her tippeln.
Pippa
und Pippin wissen, was jetzt passieren wird. Sie wollen es nicht
sehen, müssen aber. Pippa ist sehr wütend. Unter ihrem Mantel
faltet sie ihre Hände und schickt ein Bittgebet zu ihrer großen
Göttin.
„Bitte,
große Göttin, lass diese böse Tat den Tätern auf die Füße
fallen, lass sie dafür büßen. Und wenn du mich dafür benutzen
willst, ich werde alles tun, was du mir aufträgst, alles.“
Pippin
spürt das Zittern, das bei diesem Stoßgebet durch Pippa wallt, ganz
deutlich, aber er denkt nur wieder, sie hat eben Angst. Er darf keine
Angst zeigen, denn jetzt sieht er auch, wie Arnulf auf ihn schaut und
fast unmerklich lächelt und nickt. Das ist wohl die zweite Prüfung,
die ich noch bestehen muss. Pippin ist sich ganz sicher, dass Arnulf
ihn auch durch diese Teilnahme an der Hinrichtung der Burgunderin zu
einem harten Krieger erziehen will. Meinetwegen, denkt er trotzig,
meinetwegen.
Als
Pippa und Pippin hinterher nach Hause schleichen, reden sie in
Wortfetzen mit sich, es will einfach kein Gespräch werden:
„Die
Leute, die Leute, hast du gehört, wie…“
„Arnulf
hat die ganze Zeit zu uns geschaut…“
„Warum
hat sie keinen Ton von sich gegeben? Warum hat sie…?“
„Die
Pferde, die Pferde waren aufgebracht, sie haben gewiehert, als
wenn..“
„Sie
hat nicht geschrien. Warum?“
„Chlotar
hat ganz woanders hin geschaut, die Memme…“
„Oder
war sie schon tot?“
„Bei
der Folterung hat sie sicher so laut geschrien, dass ihre Stimme hin
war.“
„Ist
das dein neues Christentum, ja?“
„Was
hast du gerade gesagt…?“