13 Apr

Europa – Meditation # 194

So könnte die Geschichte des Planeten auch erzählt werden.

Was sind denn jetzt diese hohlen Gebilde, die wir Moscheen, Synagogen oder Kirchen nennen, anderes als nach außen gestülpte, entleerte Geschwülste, die wie ausgetrocknete Eiterpickel aus der Erde gepresst werden? Die öde Stille und Leere in ihnen ist Ausdruck der leer laufenden Formeln ihrer Vorbeter. Was sonst?

1882 klang das dann etwa so: „Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unseren Messern verblutet – wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Größe der Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!“

Und schon auf der nächste Seite heißt es dann:

„Ein gefährlicher Entschluss. – der christliche Entschluss, die Welt hässlich und schlecht zu finden, hat die Welt hässlich und schlecht gemacht.“

Die Menschen meinten tatsächlich, sie seien die wahren Götter – Cartesianer eben – die nur noch nicht so recht zu ihrer Macht und Herrlichkeit zu stehen verstanden. Aber die Europäer waren lernfähig. Schnell und nachhaltig lernten sie ihr neues Credo umzusetzen: Macht euch die Erde untertan – nicht als Gottes Botschaft, sondern als die Botschaft des aufgeklärten, rationalen homo sapiens sapiens. Nach und nach eroberten sie die Welt und machten sich die fremden Wesen gefügig oder überflüssig. Bis jetzt. Nun scheint sie siech und ächzend. Die Erlösungs-Phantasien platzen wie billige Seifenblasen.

Noch einmal die Stimme aus dem 19. Jahrhundert:

„Wir haben uns eine Welt zurecht gemacht, in der wir leben können – mit der Annahme von Körpern, Linien, Flächen, Ursachen und Wirkungen, Bewegung und Ruhe, Gestalt und Inhalt; ohne diese Glaubensartikel hielte es jetzt keiner aus zu leben! Aber damit sind sie noch nichts Bewiesenes. Das Leben ist kein Argument; unter den Bedingungen des Lebens könnte der Irrtum sein.“

Das erleben die Cartesianer, die wir weltweit nun alle sein sollen, allzu hautnah in diesen Tagen: Mit klopfendem Herzen starren sie auf Statistiken, Tabellen, Kurven und Prozentwerte, als könnten die Zahlen uns die Antwort geben auf unsere Not. Dabei bleiben sie in Wirklichkeit immer nur im Vorhof des Lebens, wie ein Türabtreter lassen sie sich nutzen, doch über die Schwelle ins Leben und in den Tod wissen auch sie keine Antwort. Als kleine Provokation für offene Ohren deshalb hier ein Zitat von Novalis, ebenfalls aus dem 19. Jh.: „Die Poesie ist das echt absolut Reelle. Je poetischer, je wahrer.“ Habe Mut zu irren!

09 Apr

Leseprobe – Historischer Roman II Blatt # 109

Somythalls Träume

Während in Lutetia Pippa und Pippin Zeugen eines bestialischen Geschehens sein müssen, hat Duc Rochwyn Somythall längst wieder nach Luxovium zurückbringen lassen. Ihre Amme, Bruniguld, wird von den frommen Frauen gepflegt. Sie ist außer Lebensgefahr. Somythall lässt sich wieder in der feucht warmen Luft der alten Therme in ihre Tagträume treiben. Insgeheim wünscht sie sich, dass die alte Burgunderin, Brunichild,doch auch Atawima anbeten möge, wie sie. Eigenartig, denkt sie, warum muss ich jetzt gerade an sie denken. Später, wenn sie hört, was in Lutetia geschah, als sie im warmen Wasser an die Burgunderin denken musste, ist sie sich ganz sicher, dass sie Schwestern sind, dass sie die gleiche Botschaft weiter geben wollen. Dann rutscht sie in den Schlaf, weich gebetet auf einer hölzernen Liege. Und bald wandert sie in einem dämmrigen Traum in einen lichten Wald. Eichen und Buchen stehen friedlich und stumm beieinander. Sie tuscheln leise. Denn in einer kleinen Laubhütte beherbergen sie gerade ein stolzes Paar. Sie sind fast schon ein ganzes Jahr hier allein in diesem endlosen Wald. Sie mussten fliehen, denn ihre heimliche Liebe war entdeckt worden. Jetzt gerade schaut sie selig auf sein schlafendes Gesicht. Der Geliebte träumt und träumt. Sein langes, blondes Haar hat sich zu beiden Seiten seines Gesichts hingewellt wie ein goldenes Vlies. Mit der Macht all ihrer liebenden Gefühle überschüttet sie ihn in einem fort. Hier müssen sie keine Angst um sich und ihre Liebe haben. Hier sind sie zwar alleine, aber frei. Somythall spricht sie an:

„Sag mir, Liebe, wer seid ihr und warum weilt ihr hier? Kennen wir uns nicht?“

Da dreht sich die Liebende erstaunt um, nickt und bewegt dann ihre Lippen, aber Somythall kann sie nicht hören. „Bitte, sprich etwas lauter, bitte!“ fleht sie die Fremde neben dem schlafenden Mann an. Jetzt sieht sie auch, dass ein wehmütiger Zug auf seinem Gesicht ruht. Träumt er gerade einen traurigen Traum? Ein paar Sonnenstrahlen finden sogar den Weg herunter bis in die kleine Hütte. Lichtflecke zittern auf ihren Gesichtern. Da weiß Somythall, dass sie die beiden nicht stören soll. Sie zieht sich vorsichtig zurück, winkt. Mit einem glücklichen Lächeln im Gesicht winkt auch die fremde Frau ihr zurück. Der Wald. Der Wald. Wie komme ich hier wieder heraus? Somythall lehnt sich erschöpft an einen moosbewachsenen Stamm. Vor ihr eine Lichtung. Aber was ist mit der Sonne geschehen? Sie scheint nicht mehr. Eher wirkt das Licht wie Mondlicht, fahl, kalt, fremd. Und da kommt eine Frauengestalt, tritt in den matten Schein. Sie geht gebeugt, ein langer Umhang schützt ihren Leib, ihre schütteren Haare fallen über ihr Gesicht, dennoch glaubt Somythall jetzt erkennen zu können, wer es ist. Die Burgunderin. Jetzt winkt sie ihr müde zu. Was will sie sagen? Mit Herzschmerz wacht Somythall unversehens auf, Herzklopfen. Tränen laufen ihr über die Wangen. Was war das? „Ich muss es Bruniguld erzählen.“

08 Apr

Leseprobe – Historischer Roman II Blatt # 108

Arnulf, Bischof im ehemaligen Dividorum, zeigt, wie man Gefolgschaft

schafft – 2. Reise

Pippa und Pippin hatten sich nach ihrer „kleinen Reise“ zu den Knochenbergen, wie sie es immer wieder erschauernd nennen, oft gefragt, was der Bischof wirklich mit ihnen vorhat. Will er sie fördern oder will er sie klein halten? Aber warum?

Der Winter in diesem Jahr hatte mild begonnen. Aber jetzt will er wohl noch einmal zeigen, was er kann. Es ist eiskalt. Pippa und Pippin frieren erbärmlich. Nachts liegen sie eng aneinander geschmiegt in Pippins windschiefer Hütte und frieren trotzdem. Lutetia scheint im Winterschlaf erstarrt. Die Einwohner verlassen kaum ihre ärmlichen Behausungen, nur im steinernen Palast des Königs hält in der großen Halle ein Feuer die Leute halbwegs bei Laune.

Gerüchte sirren durch den Bau. Chlotar hat Brunichild in seiner Gewalt. Man hat fürchterliches Geschrei aus der Folterkammer gehört. Was hat er mit ihr vor? Sie ist eine alte, gebrochene Frau. Lange war sie stolze Königin und Vormund am Königshof in Burgund gewesen, hatte viele Kriege für ihre Söhne und Enkelkinder führen lassen. Alles umsonst. Jetzt ist sie am Ende. Chlotars Macht wächst Tag um Tag. Er ist getaufter Christ, er könnte sie in ein Kloster schicken. Er könnte. Jetzt ist der Arnulf, der Bischof von Dividorum, bei ihm. Sie reden. Die Wachen hängen übermüdet in ihren Matten. Auch sie frieren um die Wette. Manche flüstern, die Kälte habe auch das Herz des Königs und des Bischofs erfrieren lassen. Draußen liegen Erfrorene am Ufer des zugefrorenen Flusses. Sie kleben am Eis. Man kann sie nicht einmal wegschaffen, geschweige denn in der gefrorenen Erde beerdigen. Ist die Kälte die neue Pest? So wie vor zwei Generationen unter Kaiser Justinian, Belisar und Narses die letzte?

Jetzt kommt Bewegung in den großen Steinbau. Ein Herold sattelt sein Pferd. Schon steht er auf dem leeren Marktplatz, er hat einen Soldaten an seiner Seite, der mit zwei Trommeln einen Wirbel nach dem anderen trommelt. Die Leute von Lutetia wissen, was das bedeutet. Der König braucht wieder ein Publikum.

„Euer Herr und König, Chlotar der zweite, lässt hiermit wissen und tut kund, dass heute, wenn die Sonne im Mittag steht, alle hier zusammen kommen müssen. Der König will zu Gericht sitzen und alle sollen es hören und sehen!“

Dreimal Trommelwirbel, dreimal die gleiche Ansage. Nach und nach waren die frierenden Lutetianer aus ihren Hütten gekrochen, hatten sich wortlos die Ankündigung des Herolds angehört und waren wortlos wieder gegangen. Die Nachricht wird sich – trotz fahlen Lichts, trotz klirrender Kälte – schnell in der Stadt verbreiten. Sie wissen, wer nicht erscheint, muss mit harten Strafen rechnen. Ihr Herr König ist ein strenger Herr. Auch Pippa und Pippin wissen, dass sie da sein müssen. Diesmal wird die Reise nicht weit gehen.

Nur bis zum Marktplatz. Aber sie spüren bereits, dass am Ziel auch dieser Reise ein großes Erschrecken stehen wird. Sie spüren es einfach, können es sich nicht erklären, aber sie spüren es. Pippa zittert und hat wieder Tränen in den Augen. Aber es sind keine Tränen der Traurigkeit, nein, es sind Tränen des Zorns, der sie sogar ein bisschen wenigstens zu wärmen scheint. Pippin ahnt nicht, was in ihr vorgeht. Er glaubt, sie habe einfach nur Angst und sei eben eine schwache Frau. Die Stunden bis Mittag verbringen sie mit vor sich Hinstarren, mit Hände warm Reiben, mit Atmen, mit Angst, die sie einfach nicht mehr los werden. Der kleine Raum – düster und eisig – schützt sie nicht vor dieser Angst. Das Stück Brot, das sie runter würgen, ist fast so hart wie ein Stein. Einen Schluck Wasser haben sie im kleinen Topf über der kleinen Feuerstelle aus dem Eisstück heraus getaut, das den verbeulten Napf ausfüllt.

Dann gehen sie los. Um Füße und Hände und Kopf haben sie sich schmutzige Lappen drapiert. Ihre Mäntel schützen sie nur schlecht vor der Kälte, die sie empfängt. Auch aus den anderen Hütten schleichen Menschen Richtung Marktplatz. Man spricht nicht, man schaut zu Boden. Viele beten, dass es schnell vorbei sein möge, was ihr König da vor ihren Augen vorführen wird: Er will zu Gericht sitzen. Es geht um die Burgunderin. Das ist allen klar. Klar ist ihnen auch, was sie erwartet.

Und als jetzt die Lutetianer wie ein verlorenes Völkchen auf dem Marktplatz herum stehen – jeder mit einem kleinen hellen Wölkchen vor dem Mund – , sehen sie die Prozession vom Palast kommen. Wieder Trommelwirbel, diesmal aber nur eintönig und mit großen Pausen. Vorneweg gehen die Wachen. Alle tragen schwarze, lange Mäntel, ihre eisernen Helme blinken kaum im spärlichen Licht dieses eiskalten Wintertages, dann folgt ein Fuhrwerk – ein Ochse zieht den Karren – und oben liegt etwas unter filzigen Decken, das sich kaum bewegt. Das muss die Burgunderin sein. Dahinter dann hoch zu Pferd Chlotar und gleich hinter ihm Bischof Arnulf. Dann zu Fuß der gesamte Hof: In Rüstung und unter Waffen, auch sie haben alle schwarze Mäntel übergezogen. Ein Trauerzug. Nein, kein Trauerzug, ein Zug hagerer Männer, die sich aufs Töten verstehen. Und dahinter ein Mann, der sich mit vier Pferden abmüht – ohne Sattelzeug trotten sie vor sich hin. Sie wären sicher lieber heute im Stall geblieben.

Schließlich erreicht der traurige Zug den Marktplatz. Die frierenden Leute haben ihre kleinen Kinder unter ihre löchrigen Umhänge gezogen, das wird zwar kaum gegen die Kälte helfen, aber vielleicht wenigstens gegen den Anblick, den sie alle nun über sich ergehen lassen müssen. Es ist sehr still. Nur das Schnauben der Pferde hallt laut über den Richtplatz.

Wieder ein Trommelwirbel. Diesmal lang und immer schneller werdend, dann bricht er ab. Chlotar gibt seinen Wächtern ein Zeichen. Sie holen die Burgunderin vom Karren. Sie gibt keinen Laut von sich, kann sich ohne das Zupacken der Wächter gar nicht mehr bewegen. Sie ist zerbrochen.

Sie ist eine Frau von fast siebzig Jahren. Alt und gebrochen. Keiner will das sehen müssen. Aber sie alle müssen es sehen. Dann ist es der Bischof, der das Wort ergreift – Chlotar hatte auch ihm ein Zeichen gegeben. Er räuspert sich, steigt in die Steigbügel, richtet sich hoch auf:

„Euer Herr und König, Chlotar, hat erfolgreich den Krieg gegen die Burgunder beendet. Brunichild, die feindliche Burgunderin, ist durch Gottes Hand in seiner Gewalt. Er hat sie verhören lassen, sie hat alles gestanden und ist bereit zu sterben. Wegen der teuflischen Anschläge, die sie gegen euren Herrn und König, Chlotar, ausgeheckt hat, soll sie als Strafe auch einen bösen Tod sterben.“

Arnulf fällt zurück in seinen Sattel, der König blickt zufrieden zu ihm herüber und gibt das Zeichen zum Vollzug. Erneuter Trommelwirbel, lange, sehr lange. Währenddessen nehmen die Wächter die vier Pferde, binden jeweils einen Strick an Beinen und Armen der Burgunderin fest und versuchen gleichzeitig die Tiere zu beruhigen, die unruhig hin und her tippeln.

Pippa und Pippin wissen, was jetzt passieren wird. Sie wollen es nicht sehen, müssen aber. Pippa ist sehr wütend. Unter ihrem Mantel faltet sie ihre Hände und schickt ein Bittgebet zu ihrer großen Göttin.

„Bitte, große Göttin, lass diese böse Tat den Tätern auf die Füße fallen, lass sie dafür büßen. Und wenn du mich dafür benutzen willst, ich werde alles tun, was du mir aufträgst, alles.“

Pippin spürt das Zittern, das bei diesem Stoßgebet durch Pippa wallt, ganz deutlich, aber er denkt nur wieder, sie hat eben Angst. Er darf keine Angst zeigen, denn jetzt sieht er auch, wie Arnulf auf ihn schaut und fast unmerklich lächelt und nickt. Das ist wohl die zweite Prüfung, die ich noch bestehen muss. Pippin ist sich ganz sicher, dass Arnulf ihn auch durch diese Teilnahme an der Hinrichtung der Burgunderin zu einem harten Krieger erziehen will. Meinetwegen, denkt er trotzig, meinetwegen.

Als Pippa und Pippin hinterher nach Hause schleichen, reden sie in Wortfetzen mit sich, es will einfach kein Gespräch werden:

„Die Leute, die Leute, hast du gehört, wie…“

„Arnulf hat die ganze Zeit zu uns geschaut…“

„Warum hat sie keinen Ton von sich gegeben? Warum hat sie…?“

„Die Pferde, die Pferde waren aufgebracht, sie haben gewiehert, als wenn..“

„Sie hat nicht geschrien. Warum?“

„Chlotar hat ganz woanders hin geschaut, die Memme…“

„Oder war sie schon tot?“

„Bei der Folterung hat sie sicher so laut geschrien, dass ihre Stimme hin war.“

„Ist das dein neues Christentum, ja?“

„Was hast du gerade gesagt…?“