07 Apr

Leseprobe – Historischer Roman II – Blatt 107

Arnulf, Bischof im ehemaligen Dividorum, zeigt, wie man Gefolgschaft schafft – 1. Reise

Mitten im Winter? Der Bischof nickt. Mitten im Winter. Das ist die beste Zeit, dem Bösen ohne Schaden zu begegnen. Pippin macht große Augen, schaut kurz zu Pippa, die auch völlig ahnungslos vor sich hin starrt, und fragt dann leise:

„Warum im Winter?“

Bischof Arnulf kichert in sich hinein. Was für Angsthasen aber auch. Mit großer Geste weist er auf den zugefrorenen Fluss.

„Der Satan hasst die Kälte.“

Pippin atmet erleichtert auf.

„Ach so, das verstehe ich gut!“ und lacht dazu, als hätte der Bischof ihm gerade eine lustige Geschichte erzählt. Pippa ist das aber eher peinlich und verzieht keine Miene. Sie traut dem Bischof nicht über den Weg. Wenn der mit ihnen eine „kleine Reise“ machen will, dann kann das nur Schlimmes bedeuten. Sie fühlt es ganz genau, tief in sich, in ihren Eingeweiden. Als habe sie Steine verschluckt. Lutetia schläft aber noch. Keiner sieht, wie da drei Reiter die frierende Stadt verlassen. Arnulf führt die beiden nach Norden. Pippin hatte schon gedacht, sie müssten schon wieder zu seiner Lieblingsbaustelle kommen. Es vergeht ja auch kein Tag, dass Bischof Arnulf auf den Neubau zu Ehren des heiligen Dionysios zu sprechen kommt.

„Dort werden die fränkischen Könige ihre Grablege finden“ posaunt er immer wieder heraus. Pippin macht sich große Sorgen in diesen Tagen: Zwar hat er weiter den Auftrag, im Frühjahr die römische Villa des Marcellinus bei Cenabum zu vernichten, doch König Chlotar II ist gerade mit seinem Lieblingsfeind zugange, mit Königin Brunichild, der Burgunderin. Sie ist seine Gefangene, man munkelt schlimme Geschichten. Chlotar II hat sie immer gefürchtet. Sie hat klug taktiert, sich immer wieder aus jeder Schlinge heraus gewunden. Bis zuletzt. Ob die „kleine Reise“ damit zusammen hängt? Ihm ist gar nicht wohl. Und Pippa sieht auch nicht so aus, als wäre sie guter Dinge. Arnulf hält sein Pferd immer zwischen die beiden, so dass sie keine Gespräche führen können, ohne dass er mithört. Dann diese Kälte.

Inzwischen sind sie schon an drei Kommenden des Bischofs vorbei gekommen. Ohne Halt geht es jedoch weiter. Die Sonne schafft es heute nicht durch die tief hängende grau kalte Wolkendecke. Die Pferde scheuen immer wieder, weil ihre Hufe auf Eisflächen ins Rutschen geraten. Die Decken, die sie sich über gezogen haben, schützen auch nur wenig gegen die Kälte. Jetzt hält Arnulf an:

„ Wir haben es bald geschafft. Pippin, du weißt, ich halte große Stücke auf dich – wie der König ja auch – darum sollte nichts Böses dich überraschen können. Darum heute diese kleine Reise.“

Pippa und Pippin schauen sich ratlos an. Was soll das heißen?

Gerade kommen sie aus einem großen Waldstück wieder auf

eine freie Fläche. Der Bischof steigt vom Pferd. Pippa und Pippin tun es ihm gleich. Die Stille, das fahle Tageslicht, die leere Heidelandschaft vor ihnen, alles lässt ihnen den Augenblick als unwirklich, als schweren Traum erscheinen.

„Wir sind da.“ Pippa und Pippin schauen sich ratlos an. Arnulf genießt ihre Ahnungslosigkeit auf eine sehr erniedrigende Art und Weise. Er lächelt, macht Gesten, die so etwas wie Leichtigkeit andeuten sollen. Jetzt geht er voran, die beiden angespannt und voller Angst hinterher. Dann bleibt er wieder stehen. Es ist, als wären sie in einer stummen Vorhölle, so kommt den beiden dieser Ort vor – kein Leben, breit und weit. Frost, sonst nichts. Die kahlen Äste der Baumreihen, die den weiten Raum begrenzen, blinken in stumpfen Lichtflecken, die das Eis entlang des Geästs spiegeln. Dämonen, hier wohnen bestimmt Dämonen, geht es Pippin wie ein Blitz durch den Kopf. Vor Schreck drückt er Pippas Hand so fest, dass sie leise aufschreit. Arnulf dreht sich überrascht um zu ihnen.

„Habt ihr etwa Angst?“ Geringschätzung schwingt in der Frage mit.

„Kommt, schaut euch das an – danach werdet ihr bestimmt keine Angst mehr kennen!“

Mit seiner rechten Hand zeigt er nach unten. Das hatten sie gar nicht bemerkt. Vor ihnen öffnet sich ein tiefes und weites Erdloch, so groß wie eine Therme in Luxovium, denkt Pippin. Gleichzeitig muss er an das Blutbad im Mithras-Heiligtum denken, das er dort angerichtet hat. Denn jetzt sieht er auch warum. Pippa und Pippin schauen hinunter und können es nicht fassen. Da liegen unzählige fahl weiß schimmernde Gebeine, Schädelknochen. Der gesamte Boden ist übersät damit. Zum Teil sind sie sogar übereinander gestapelt. Pippa glaubt, dass diese Schädel sie direkt anstarren. Entsetzt fährt sie zurück. Pippin steht wie angewurzelt da, sein Unterkiefer zittert, sein Atem stockt.

„Was hat das zu bedeuten?“ presst er leise aus sich heraus. Pippa ist wortlos zurück zu den Pferden gelaufen. Jetzt steht sie dort, hält sich am Zaumzeug fest, streichelt das dampfende Fell ihres Pferdes und weint.

Vorne an der großen Grube hält der Bischof von Dividurum währenddessen einen Vortrag, in gemessenem Ton, als berichtete er über ein Kapitel aus dem Alten Testament.

„Hast du nie davon gehört, wie unter Kaiser Justinianus unser strenger Herr und Gott eine Seuche über uns alle schickte, um uns zu strafen, weil wir nicht fest genug an ihn glaubten. Mein Großvater, Gott habe ihn selig, der ja Bischof von Camaracum gewesen war, erzählte uns Enkelkinder immer wieder die Geschichte von Gottes Strafgericht. Die Menschen starben wie die Fliegen. Und weil sie nicht mehr zu beerdigen waren und keiner sie verbrennen wollte, weil sie den Rauch nicht einatmen wollten und dann auch elend zu sterben, brachten sie die Toten auf Karren zu solchen Gruben

wie dieser – weit weg von jeder Ansiedlung oder einem Kloster des Heiligen Benedikt.“

„Nie davon gehört“ stammelt Pippin, „wann war das denn? Unter welchem Kaiser hier im Imperium?

Arnulf schaut lange in sein Gesicht. Vielleicht ist Pippin doch nicht mein Mann, denkt er dabei. Aber er lächelt gönnerisch und legt väterlich seine kalte Hand auf Pippins Arm.

„Justinian herrschte damals im Osten, in Konstantinopel, seine Feldherrn führten erfolgreich Kriege hier im Westen, vernichteten die Ostgoten, drängten die Westgoten weiter zurück und besiegten auch die Vandalen. Hier gab es nur noch kleine Könige, keine römischen Kaiser mehr, das weißt du doch, oder?“

Pippin will auf keinen Fall als unwissend dastehen, das könnte ihm jetzt sehr schaden. Er nickt.

„Chlotars Vater, wird es wohl noch erlebt haben, denke ich.“

Bischof Arnulf schmunzelt und wiegt den Kopf hin und her. War das jetzt eine gute Antwort oder eher nicht? Pippin ist sich da gar nicht sicher. Aber er reckt sich jetzt, denn das kurze Gespräch hat etwas von dem Grauen weg gewischt, das ihn erfasst hatte. Durchatmen, keine Angst zeigen.

„Nun, Pippin, du bist mein Gefolgsmann, ich habe dir ein Gut kommendiert, du hast in Luxovium gute Arbeit geleistet und der König erwartet im Frühjahr eine weitere Glanzleistung von dir, in dem du uns diesen eitlen Römer nahe Cenabum aus dem Weg schaffst.“

Pippin versteht überhaupt nicht, was das alles mit dem hier zu tun haben soll. Doch zu fragen, traut er sich nicht.

„Da könnt ihr sicher sein, vollkommen“, erwidert Pippin mit wieder erstarkter Stimme. „Gut, gut. Das höre ich gern. Das ist auch der Grund, warum ich euch hier her geführt habe. Es ist mir wichtig, dass ihr seht, was unser strenger Gott mit uns macht, wenn wir nicht an ihn glauben und ihm nicht in allem dienen. Er kennt dann keine Gnade, zumal wir ja immer noch umgeben sind – hier und da zumindest – von ungläubigen Franken, geheimen Glaubensgruppen und unbelehrbaren Arianern. Vergesst also die Strafe nicht, die er über uns ausgießt, wenn wir ungehorsame Christen sind.“

„Ihr habt mich getauft, ich bin also Mitglied der Gemeinde der Christen und werde alles tun, dass Gott mit mir zufrieden ist.“

„Genau das wollte ich hören.“

Arnulf drückt mit seiner kalten Hand fest Pippins Arm, klopft ihm dann noch kurz auf die Schulter und wendet sich, ohne noch einen Blick in die Grube zu werfen, zurück zu den Pferden, wo Pippa immer noch zitternd steht und weint. Als Arnulf und Pippin näher kommen, wischt sie sich betroffen die Tränen aus dem Gesicht und blickt beschämt zu Boden. Doch die beiden Männer verlieren kein Wort, besteigen ihre Pferde und reiten einfach los. Pippa ist erleichtert und bedrückt zugleich. Hat sie versagt?

05 Apr

Europa – Meditation # 193

Am Anfang war der Gesang.

So könnte das Alte Testament auch angefangen haben. Hat es aber nicht. Denn es waren strenge, alte Priester, die dazumal Texte erfanden und aufschrieben – natürlich immer begeistert von ihrem Gott, der ihnen eingab, was aufzuschreiben sei. In Griechisch, später auch in Latein.

Dann nutzte ein römischer Kaiser den neuen „Sprech“ für sein eigenes Image und verhalf so der kleinen Sekte zu einigem Aufsehen. Die wurden unterdessen nicht müde, ihr eigenes Narrativ auf Vordermann zu bringen, verwarfen, verbannten uneinsichtige Abweichler und brachten schließlich mit knappen Mehrheiten die Endredaktion ihrer Bilder auf den Weg in mehreren Zusammenkünften in der heutigen Türkei: Körperfeindlich, aufs Jenseits bezogen und streng patriarchalisch. Ein verwandtes Schema erfand dann nicht viel später in Mekka und Medina ein zu unrecht unterschätzter Konkurrent, der inzwischen auf Augenhöhe mitmischt. Letztens meinte denn auch der Kölner Erzbbischof 1700 Jahre später sagen zu können, der Stifterwille Jesu gebe aber keine Vollmacht und Handhabe, Frauen zu weihen. Gut, dass er auf solch eine gesicherte Quellenlage zurück blicken kann – das Protokoll von damals lag ihm sicher vor Redaktionsschluss noch vor, das so kategorisch zu formulieren.. Wie schade aber auch. Aber da ist dann auch nichts zu machen!

Aus heutiger europäischer Sicht scheint es höchste Zeit, die Bevormundung durch diese alten Bilder aus dem Fokus zu nehmen, den Fetisch Sprache in seine Schranken zu weisen und sich selbst wieder zu öffnen für die Stimmen, die aus uns selber leise tönen: habe Mut dich deiner Gefühle zu bedienen, habe Mut den Gesang des Lebens neu anzustimmen, habe Mut das Tier in dir zu mögen und nicht länger im Zwinger unter Verschluss zu halten!

Denn die Sprache hat nach und nach das Bild der Wirklichkeit so eingetrübt, dass nur noch logisches Folgern zugelassen werden durfte, wenn man mitreden wollte. Politik, Wirtschaft und Religion: eine feste Burg. Nun steht Europa – von der restlichen Welt, die so nachhaltig von europäischer Bevormundung überformt wurde, ganz zu schweigen – vor einem Scherbenhaufen. Die Logik von Eigentum, Bereicherung und ununterbrochenem Produktions- und Konsumwachstum samt göttlicher Absegnung haben sich selbst ad absurdum und in die virale Krise geführt. Zwangsläufig und natürlich.

Was tun? Die Künste – und hier vor allem die Musik – haben den Erdlingen schon immer den Weg zu sich und der Welt geebnet. Halb träumend, halb schaffend waren sie die helfenden Kräfte, die Tag und Nacht dem ängstlichen Wesen Mensch zur Seite standen, ihn beflügelten, ihn zaubern ließen. Unvergleichliche Bilder von sich und dem Kosmos zu kreieren. Und die es sahen und hörten, stimmten ein in die Begeisterung im Loblied auf Welt, All und sich selbst.

Wenn so plötzlich und so leicht scheinbar natürliche Muster in sich zusammen fallen wie in diesen Tagen das kapitalistische Weltmodell, dann ist das ein unverhoffter Augenblick, den Selbstbetrug zu beenden und zu sich selbst zurück zu finden, anzuhalten und der Ungenauigkeit, dem ununterbrochenen Wandel von allem ein jubelndes Loblied anzustimmen. Es ist hohe Zeit.

04 Apr

Europa – Meditation # 192

Endlich darf der homo sapiens zu sich selbst finden.

Warum ist in der kurzen Kulturgeschichte des Menschen die Musik immer die Königin geblieben? Warum gibt es keine Kultur ohne Musik? Warum ist die Musik bei jungen Menschen heutzutage so zentral, warum lassen sie sich da so gehen? Warum? Weil sie in ihrer Wirkung so wunderschön ungenau und wahr zugleich ist. Das wahre Fest des Lebens.

Könnte es sein, dass am Anfang der Geschichte die Verlockung einfach zu groß war, sich selbst größer zu machen, als man wirklich war, in dem man sich einfach zu göttlichen Erfindern der Logik, der Klarheit, der Eindeutigkeit erklärte? Weil in diesem Kunstprodukt – Sprache als Fluchtraum vor fehlenden Grenzen – die Verlässlichkeit hinein gedacht und gelebt werden konnte, die das eigentliche Leben nicht hergab? Man musste nur die Sprache lernen, allen beibringen, üben und nachbeten, und schon war zumindest in diesem Bereich eine Sicherheit, eine Klarheit, eine Stimmigkeit zu finden, nach denen man sich doch so sehr sehnte.

Dann ging in der Erinnerung an den Trick am Anfang nach und nach verloren, dass es ein Trick ist, bzw. die Hüter der Sprache – anfangs die Zauberer, Priester, Druiden und Auguren – umgaben diesen wunderbaren Fortschritt (man war von sich selbst fortgeschritten) mit heiligem Ernst und Wunderglauben. Und da die Sprache auch Macht verlieh über andere, wurde nach und nach wahr, was eigentlich nur eine kluge Erfindung war, um die Unsicherheit der eigenen Existenz, die einen Tag und Nacht umschlich, aus seinem Bewusstsein auszusperren.

Aber die Wahrheit ließ sich dennoch nicht beseitigen. Immer wieder gab es diese geistigen Störenfriede, die daran erinnern wollten, dass die Stimmigkeit der Welt, wie wir sie in die Sprache gelernt haben zu bannen, ein schöner Traum – das Leben ein Traum – sei und dass die Besinnung auf die eigentliche Fehlerhaftigkeit unserer Wahrnehmung gleichermaßen eine Rückbesinnung sei auf unsere zerbrechliche Natur. Sie ist nun einmal doch nur so, wie sie ist: zerbrechlich, vorläufig, hinfällig, fehlerreich. Schon immer.

So mussten solche Querdenker an den Rand gedrängt werden, als Spielverderber gebrandmarkt, als gefährliche Aufrührer aus dem Spiel genommen werden. Aber sie waren und sind einfach nicht stumm zu kriegen. Wer denn, bitte schön?

Nun, um nur ein paar Europäer zu nennen: Heraklit, Lukrez, Montaigne, Sterne, Herder, Hölderlin, Kleist, Nietzsche…Sie hatten es nicht leicht mit sich und ihrem jeweiligen „Umfeld“. Warum? Weil sie – nicht zuletzt über die Musikalität ihrer Texte – die alte Kränkung thematisieren, zulassen, und die Risse und Brüche der glättenden Sprachmuster offen legen. Das macht sie natürlich zu Unruhe-Stiftern, zu Abweichlern, die man bemitleiden muss, weil sie nicht klar kommen in ihrem Leben. Wie auch, werden sie erwidern, wenn Klarheit nur den Göttern gegönnt ist – dazu wollten sich die Menschen gerne auch machen – gerade jetzt wäre Zeit, Bescheidenheit zu lernen.