20 Sep

Autobiographische Blätter – Neue Versuche – # 50 – Leseprobe

Über Anmut und Gracie – Teil I

Je länger er darüber nachdenkt, desto klarer scheint ihm zu sein, dass die Bilder der Wirklichkeit, die er sich macht, unablässig in Bewegung sind: unscharf werden, weg driften, verwandelt wieder zurückkehren und eine scheinbar völlig neue Geschichte erzählen, einfach so.

Was für ein Fest der Sinne, was für eine Vielfalt, was für Überraschungen!

Aber die Augenblicke in den Armen der Kunst sind demgegenüber stets Augenblicke des völligen Bei-Sich-Seins, der Wahrheit. Kleist, der Sprachfetischist, hat es geahnt, hat es immer wieder thematisiert und gespürt, dass man ihn eher für überspannt, für verirrt, für verloren hielt als für einen Spurenleser, einen Menschenfreund, der Hände ringend seine Botschaft anbietet. Aber niemand will ihm zuhören. Denn jeder scheint zu spüren, dass damit die Stunde der Wahrheit angesagt wäre, der Entscheidung, lieber alt vertraute Pfade blind und taub weiter zu stapfen oder barfuß im Fließsand sich zu bewegen. Verunsichert, ängstlich und auf die Hilfe anderer angewiesen.

Thomas Hettche scheint in seinem neuen Roman „Herzfaden“ (was für ein genialer Titel!) genau diesen Pfad schreibend zu begehen und den Leser einzuladen, ihm vorsichtig und fasziniert zugleich zu folgen.

Und für jeden ähnelt der Weg dem des anderen seit jeher:

Am Anfang sind es die Wärme und die Flüstertöne, mit denen die neuen Erdenbürger in den Schlaf geredet oder gesungen werden. Aber schon hier bilden sich die ersten Bilder heller und dunkler Phantasien, die dem Nesthocker die Angst nehmen können, aus dem Nest zu fallen, allein gelassen zu werden. Oder eben auch nicht. Dann wächst die Angst und wird zunehmend die Bilderwälder verdüstern und durchbeben.

Dann beginnt die Zeit der Geschichtenerzähler. Und wieder werden Wörter gelernt und Bilder dazu gemalt und umgekehrt. Der kleine Mensch malt sich die Welt groß und fremd, aber auch voller Abenteuer und Riesen und sich selbst als Teil davon. Schließlich verwischen sich die Bedeutungen und schmelzen in das, was gut und böse bedeuten soll, und die Ängste kichern wild dazu ihren Albtraumreigen. Wo soll es hingehen, wer kann helfen, wer lehrt mich das fürchten?

Allmählich verfestigen sich die Erzählungen zu eingebildeten Wahrheiten, werden Wegweiser auf den Reisen, die nötig sind, um sich aus dem alten Bildervorrat zu lösen. Die Narrative wachsen und wachsen, der Heranwachsende sieht sich umstellt von zu vielen Angeboten im Dauerregen der zauberhaften Flimmerwelten, die wie Sirenen Tag und Nacht ihr Lied singen von Glück und Erfolg. Wer ihnen erliegt, ist verloren für sich und seinen eigenen Weg.

Denn das Herz braucht stets einen schier unzerreißbaren Faden, der es hält und über alle Unbill des Lebens trägt, als wären die Gefahren nur eingebildet und nicht wirklich. Anmut und Gracie? Wo? Wie? Warum?

17 Sep

Europa – Meditation # 218

Ich denke; also bin ich, denke ich – frei nach Descartes

(Kein philosophisches Märchen, Teil II)

Und wenn dem so wäre, dann fallen alle die Genauigkeits-Gebirge lautlos in sich zusammen, und die Musen beginnen von Neuem ihren wohltuenden Tanz.

Denn die scheinbaren Sicherheiten, die uns als solche schon so lange erscheinen, sind es ja nur geworden, weil wir sie immer und immer wieder wiederholt und unser Handeln dann daran orientiert haben. Und wie oft schon mussten die Erdlinge erleben, dass sie sich getäuscht hatten, dass ihre genauen Entwürfe Makulatur wurden, weil neue Denker neue Sehweisen anboten.

So auch jetzt vielleicht.

Die Leidenschaft, mit der wir der Musik lauschen – in welchem Modus auch immer – die Begeisterung, mit der wir Literatur lesen – von welchem Autor auch immer und aus welchen Zeiten ebenso – und das große Staunen, mit dem wir – jenseits der Fotografie – Gemälde nicht müde werden anzuschauen, weil sie in Farbe und Linie dem Augen immer wieder ein Schnippchen schlagen und wir nicht aufhören, darüber zu streiten, was wir „eigentlich“ zu sehen meinen, und die Sprachlosigkeit, mit der wir fasziniert dem Geschehen auf einer Bühne folgen, wohl wissend, dass es Theater ist, aber dennoch im Erleben für wahr halten – wie nach einem guten Film, in den wir eingestiegen waren und am Ende erschrocken feststellen, es war doch „nur“ ein Film – in all diesen künstlichen Welten fühlen wir uns so, als kämen wir nach Haus.

Demgegenüber lässt uns die „Welt der Zahlen“ kalt und unbefriedigt zurück, obwohl sie doch so sehr um unsere Anerkennung ringt.

Das ist wohl der Grund, warum die Faszination dieses cartesianischen Weltgebäudes in sich zusammenstürzt wie ein eiltes Kartenhaus, in dem clevere Bluffer hinter vorgehaltener Hand ihre falschen Trümpfe zusammenhalten, auf dass niemand ihnen in die Karten schaut und das Trugbild entlarvt als das, was es ist: eine EINBILDUNG.

Und so wie wir Europäer zu Beginn der sogenannten Neuzeit uns hinter Descartes in Reihe aufstellten um im Gleichschritt in die Zukunft zu marschieren und dabei wenig zimperlich waren mit allen, die den Schuss nicht hören wollten, so können wir nun endlich – völlig erschöpft, irritiert und außer Atem – einhalten, den großen Irrtum eingestehen, dessen Folgen so viel Unglück und so viel Natur zerstört hat, die wir doch zum Atmen und Leben so nötig haben, und anfangen wahrzunehmen, wie irreführend unsere Wahrnehmung sein kann und wie vorsichtig wir damit umgehen sollten und wie sehr wir einander brauchen – jenseits der Sachen – um in diesem Lebenslabyrinth zumindest vorläufig so etwas wie Verstehen, Liebe und Geborgenheit erleben zu können, bevor uns die Natur wieder aus dem Rennen nimmt.

16 Sep

Autobiographische Blätter – Neue Versuche – Leseprobe # 49

Cogito ergo sum – ich denke, also bin ich, denke ich!

(ein philosophisches Märchen, Teil I)

Vor langer, langer Zeit – genau genommen vor fünfundsiebzig Jahren – kam elendig schreiend ein kleines Kind zur Welt – umgeben von sechs Schutzengeln, besser bekannt als die Dämonen der Angst.

In dem düsteren Raum – im offenen Kamin prasselte ein nur wenig wärmendes Feuer – lag die Wöchnerin schwer krank auf einem Notbett, ihr Mann – auch er vor Angst kaum bei Sinnen – half nach Kräften. Aber sie hatten wenig Hoffnung, dass der schreiende Junge die nächsten Stunden überleben würde. Wenigstens hatten sie ihn gemeinsam zur Welt gebracht.

„Wo bleibt nur der Arzt?“ keuschte sie unter schlimmen Schmerzen.

„Der! Der traut sich doch nicht, der hat bestimmt Angst.“

„Und die Hebamme, warum ist sie nicht gekommen?“ ächzte die Mutter.

„Ach die! Die hat sicher andere Sorgen, als uns zu helfen“, stöhnte der Vater mit Händen voller Blut.

Und tief in den Ecken des dunklen Zimmers hörten schweigend die Dämonen zu. Sie nickten. Zurecht waren sie gekommen. Leise schlichen sie sich zu den dreien hin und flüsterten dem elenden Schreihals unentwegt ins winzige Ohr:

„Wir werden für dich da sein, keine Angst!“

Ob er es hören konnte? Sie waren sicher zu leise. Aber es war eine schier endlose Litanei.

„Wir werden für dich da sein, keine Angst!“

So wurde die Angst sein verlässlicher Begleiter von Anfang an.

Die ganze Welt um ihn herum versank ja auch gerade in Angst und Schrecken. Der große Krieg lag in den letzten Zügen und suchte, wen er noch alles mitreißen konnte.

Aber das Unheimliche an diesem Schrecken und dieser Angst war, dass sie die Menschen packten, diese aber stumm blieben. So hörte auch das Neugeborene nach und nach auf zu schreien. Aber es fing nicht an zu trinken, es wurde immer weniger, immer stiller.

Die kranke Mutter betete zu ihrer Göttin, ihr doch in ihrer Not zu helfen. Und sie wurde wohl erhört. Eine Nachbarin tat täglich das Nötigste, um das neue Menschenkind am Leben zu erhalten. Sie kam jeden Tag. Die Mutter, in ihren Fieberträumen, bekam es kaum mit.

Auch der lange große Krieg schlidderte zappelnd in sein Ende. Doch noch mussten junge Männer an den Galgen, wenn sie nicht mehr kämpfen wollten. Man hängte ihnen Pappschilder um den Hals, worauf geschrieben stand: Deserteur oder Verräter oder Feigling. Und stolze Offizier unterschrieben eiskalt Todesurteile, viele. Voller Angst und schweigend sahen die Überlebenden zu. Schweigen und Angst, das waren die beiden Portalfiguren des kleinen Jungen, der dennoch leben wollte.