14 Sep

Europa – Meditation # 217

Bescheidene Fragen an Europa, die weitsichtige Frau.

Ist dir auch aufgefallen, dass viele Menschen – junge wie alte – in diesen Tagen in Europa einen eher erschöpften Eindruck machen?

Ich sehe es mit Sorge. Aber auch mit Hoffen.

Hoffen? Worauf denn hoffen?

Nun. War den Europäern nicht die Neugierde immer eine Kraft für Veränderungen?

Das stimmt. Aber diese Neugierde ist jetzt wohl verbraucht. Europa schaut voller Unbehagen auf China, Indien und Afrika. Wie wirkt das auf dich, Europa, du weitsichtige Frau?

Es ist die Gelegenheit, endlich den Blick auf sich selbst zu wenden, inne zu halten und den Windschatten der Geschichte zu nutzen, Atem zu holen, sich zu besinnen?

Aber worauf denn? Sind die globalen Bedrohungen denn nicht überwältigend?

Nur wenn man sie im eigenen Blick noch vergrößert. Sonst kann doch der nervende Dauerton der dümmlichen Werbeflimmerdusche oder der Dauerschleifen-Katastrophen-Bilderflut nur dazu führen, sich angewidert und gelangweilt abzuwenden.

Und dann?

Ja, dann, dann öffnet sich nach und nach der Blick auf das Naheliegende, das Vertraute. Das kann man nämlich nur langsam und mit Geduld wahrnehmen. Und schafft Zutrauen, Wärme, Geborgenheit.

Klingt verlockend, liebe Europa, ist aber wohl eher eine Utopie – oder?

Nein, überhaupt nicht – „sieh, das Gute liegt so nah!“ – wir Europäer müssen nur wagen, alte Muster, die wir vor langer Zeit uns selbst übergestülpt hatten, abzustreifen. Als würde man sich von einer schweren Last befreien.

Europa, was meinst du mit alten Mustern?

Nation, Staat, Individualismus pur, Genauigkeit, Tempo, Wachstum…

Moment, Moment, liebe Europa, weitsichtige Frau, willst du damit etwa sagen, wir Europäer sollten uns von unserem selbst erfundenen Fortschrittsglauben verabschieden?

Der eigentliche Fortschritt liegt im Überwinden dieses Fortschrittsglaubens. Wir haben zu lange auf die eine, kleine Karte gesetzt, die uns vorantrieb.

Und welche wäre das gewesen?

Alles in kleine Quadrate einzuteilen, diese genau auszumessen und alles und jeden darin zu verorten. Damit glaubten wir die Herren der Natur und der Welt werden zu können. Jetzt stolpert selbst der letzte über den Scherbenhaufen solcher Denkart und ist verdrossen.

Und du glaubst, liebe Europa, weitsichtige Frau, wir Europäer könnten uns aus dieser Verdrossenheit befreien?

Ja, das könnt ihr – aus eigener Kraft.

Du machst mir sehr neugierig, liebe Europa, weitsichtige Frau, erzähl!

Langsam, langsam. Eins nach dem anderen und morgen mehr davon.

13 Sep

Europa – Meditation # 216

Kleine Zwischen-Bilanz: Teil II

Verschwörungstheoretiker vs. Verschwörungspraktiker

Heimtückische Verschwörer? Nichts da. Die Praktiker von Verschwörungen in den letzten Jahren müssen sich gar nicht verbergen. Nein. Da nennt man es auch nicht Verschwörung, sondern viel unverfänglicher „interne Absprachen“. Sie fahren in schicken Autos, tragen gediegene, dunkle Anzüge, gehen sehr aufrecht durch das Bankenviertel und strahlen eine Aura des Erfolgs, des Gewinnens, des Besser Seins aus. Und machen Kohle ohne Ende. Wie machen die das? Die sind einfach nur schneller und cleverer als die Konkurrenz. Und blitzgescheit. So Volkes Stimme.

Es geht also alles mit rechten Dingen zu. Meint der neiderfüllte Zaungast. Aber er kennt die clandestinen Absprachen nicht, die diese Herren in ihren Sitzungen treffen. Clandestin? Da fängt es schon an. Benutzen wir doch einfach eine etwas abgehobenere Sprache, das imponiert den meisten. Von Derivaten ist die Rede, von Headhuntern, Hedgefonds und seit einiger Zeit kommen nun auch noch digitale Wortkapriolen dazu. Lauter feine Nebelkerzen, hinter denen sich kriminelle Tatbestände verbergen.

Wer erinnert sich denn noch an den ENRON-Konzern? Massive Bilanzfälschung brachte die 22000 Mitarbeiter um ihre Altersvorsorge, die cleveren Manager hatten sich da schon längst aus dem Staub gemacht, ihre Anteile noch gewinnbringend verkauft, bevor der Kurs in den Keller purzelte. Heimtückische Verschwörer? Nein.

Gut ausgebildete, vermögende Herren, mit guten Manieren, meist mit einer Vorzeigefamilie im Hintergrund und ohne Haftung für den Schaden.

Oder nehmen wir die Cum-Ex-Betrügereien. Wieder waren junge, dynamische Blender am Werk, die selbst ihre Kontrolleure hinters Licht zu führen wussten. Man kennt sich ja, trifft sich auf dem Golfplatz, wo auch en passent clandestine Absprachen getroffen werden können. Der gesamte Aufsichtsrat wird es nur noch absegnen müssen. Und der Staat wird in großem Stil betrogen. Die feinen Blender waren in den Medien nur als Erfolgstypen präsent, nicht als Kriminelle.

Heimtückische Verschwörer? Keine Spur! Schon vergessen? Der sogenannte Diesel-Skandal. In glänzenden Karossen fuhren die Herren durch die Lande, hinter vorgehaltener Hand raunte dann der Kumpel seinem kleinen Sohn ins Ohr: „Schau mal! Die haben es weit gebracht. Die führen den größten Autokonzern der Welt!“

„Wow!“ wird dann der Kleine antworten, „sind die cool!“

Dabei haben sie jahrelang ihre Käuferschaft betrogen mit einer raffinierten Masche. Intern hielt man sich sicher für super clever und nicht zu schlagen. Das kostet den Konzern jetzt 30 Milliarden Euro. Wenn man die stattdessen als Boni an die kompetente und redlich Steuer zahlende Belegschaft gezahlt hätte, würde von denen sicher niemand jetzt demonstrieren gehen und mit den Verlierern heulen. Die wären zu Bestleistungen aufgelaufen.

Oder Wirecard – was für eine Betrugsmaschinerie wurde da in Gang gesetzt! Der reine Bluff! Heimtückische Verschwörer? Nein. Erfolgsverwöhnte Typen, die an den angesagten Plätzen in London, München, Frankfurt und New York gern gesehene Gäste waren.

Vor lauter Nebelkerzen schwadronieren die verunsicherten Zeitgenossen lieber von gefährlichen Männerbünden à la Ku-Klux-Klan oder Hinterzimmerleuten von Parteien, denen die Wählerschaft wegbricht. Als wäre es ein Schicksalsschlag, der da den kleinen Mann erwischt, clandestine Mächte mit religiösem Brimborium, statt zu verstehen, dass – nicht zuletzt mit Hilfe digitaler Finessen – Betrug und Veruntreuung von Geldern inzwischen bei vielen Wohlhabenden zum guten Ton gehören.

Redlichkeit ist längst so etwas wie ein ausgestorbenes Kleintier, an das sich kaum jemand mehr erinnert. Man begegnet ihm ja auch nirgends mehr. Dafür liefern Verschwörungstheoretiker pausenlos Tiraden, hinter denen sich die Verschwörungspraktiker à la Winterkorn, Marsalek und Braun verstecken können,

und alle rufen im Chor: „Haltet den Dieb!“

12 Sep

Europa – Meditation # 215

Kleine Zwischenbilanz: Teil I

Verschwörungstheoretiker vs Verschwörungspraktiker

Die Medien sind in der Tat die vierte Gewalt im Lande.

Wieso?

Weil über sie die Narrative transportiert werden, die angesagt sind – oder besser: die deshalb als angesagt gelten.

Und die dürstenden Leser wollen ihren Durst stillen: Warum passiert gerade das, was passiert, und wer ist schuld? Gierig saugt er die Bilder, Dialoge, Texte in sich auf, als ginge es ums Überleben.

Wer da angenehme – sprich dem Leser passende – Antworten vorführen kann, der darf auch auf Zustimmung rechnen, auf Applaus. Und wer möchte nicht gelobt werden?

Und dass der Schlimmste immer der heimtückische, der verkleidete Strippenzieher ist, ist doch klar. Oder?

Heimlich, still und gar nicht leise verbreitet solch ein Miesling seine giftigen Botschaften und wie dem Rattenfänger laufen ihm die Ratlosen hinterher. Endlich ist eine praktische Antwort zur Hand, endlich!

Die einen Medien kann er als Multiplikator nutzen, die anderen Medien halten dagegen. Ergebnis: Es nieselt nur so vom Medienhimmel herab, die geheimen Botschaften verbreiten sich wie warmer Sommerregen, und hinter vorgehaltener Hand flüstern sie sich die „wirklichen Wahrheiten“ zu: Ist doch klar, wer an allem schuld ist.

Ein neues Narrativ schafft sich da Raum und geht auch scheinbar über Leichen.

Und um moralisch auf der richtigen Seite zu sein, werden die geheimen Machenschaften schön groß und gefährlich ausgemalt, damit man selbst umso reiner da steht und die anderen umso böser. Gründlicheres Recherchieren ist nicht nötig: Denn wenn Tag und Nacht und auf allen Kanälen so überwältigend bebildert und berichtet wird, erübrigt sich doch wirklich mühsames Klein-Klein und nerviges Nachhaken.

Lauter Geheimbünde, Finsterlinge, Teufelskreise, gesichtslose Kapuzenmonster, Giftmischer und Bösewichter sind am Werk – die Ergebnisse sprechen für sich – oder? Und die Politiker sind doch nur Marionetten von denen…

Und dann die daraus aufleuchtende „Gewissheit“: Die anderen haben einfach nicht den Schuss gehört und tippeln wie die Lemminge hinter diesen Weltuntergangspropheten hinterher und sind zu jedem aberwitzigen Beschwörungsritual bereit: Etwa Masken zu tragen, auf Abstand zu gehen, jede Menschenansammlung strikt zu meiden und und und. Man selbst ist natürlich jenseits solcher lächerlichen Beschwörungsritualen auf der sicheren Seite, weil man ja durchschaut hat, dass alles nur von heimtückischen Verschwörern angezettelt ist, um den freien, unabhängigen Zeitgenossen zu gängeln.