17 Jan

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 110

Die Göttin begegnet ihrer treuen Priesterin.

Athene hatte in der Höhle, in der einst ihr Vater als kleiner Junge gehaust hatte, viele Träume gehabt. Als sie jetzt wieder aufwacht, erinnert sie sich an keinen davon. Überhaupt ist die scharf denkende Göttin ziemlich enttäuscht über sich selbst: Warum zerlaufen ihr gerade alle Pläne zwischen den Finger, bekommt das eigene Unbehagen nicht in den Griff und spürt nur, dass ihr Vater, Zeus, mit all dem etwas zu tun haben muss. Aber was?

Am späten Vormittag macht sie sich wieder auf zum Palast und zum Tempel. Vielleicht bekomme ich ja doch noch heute Antworten auf meine lästigen Fragen.

Eigenartig dass ich schnurstracks nach Kreta bin, denkt Athene. Da steckt doch bestimmt ein Hintergedanke mit dabei. Sie hat sich der Mode der Insel angepasst und fällt so gar nicht auf, als sie jetzt auf dem weiten Platz vor dem großen Tempel der alten Göttin einen schattigen Platz sucht. Zum Glück gibt es einen kleinen steingefassten Wasserlauf, der das weite Viereck umfließt und so etwas Kühle herbeizaubert. Drei jungen Priesterinnen sitzen tuschelnd auf einer Bank ganz in ihrer Nähe. Sie will gar nicht hören, was da Geheimnisvolles getratscht wird. Sie versucht gerade zu spüren, wo ihr Vater und seine beiden Brüder jetzt stecken könnten. Bald wird ihr klar: nicht auf dieser Insel. Athene schmunzelt. Sie hat sich getäuscht. Soll vorkommen. Auch bei einer Göttin.

Dann bemerkt sie, wie plötzlich das Getuschel der jungen Frauen abrupt abbricht. Denn aus dem Schatten des hohen Tempels tritt gerade eine Priesterin. Die Priesterin. Athene kennt sie aus Erzählungen ihres Vaters Zeus. Sie ist unter Menschen und Göttern wohl bekannt. Chandaraissa heißt sie. Und dann tritt eine weitere Priesterin aus dem Schatten hervor. Groß wie Chandaraissa, aber Kleid und Haare völlig anders als hier üblich auf Kreta. Eine Fremde also. Aber die beiden Frauen scheinen sich nicht fremd zu sein. Athene spürt förmlich ihre Nähe zueinander. Aber wer ist die Fremde?

„Europa“, sagt jetzt Chandaraissa zu der Fremden, „du musst dich schonen. Lass mich doch die nächsten Tanzproben übernehmen, während du dich ausruhst und Kräfte sammelst. Du weißt, eine Geburt ist eine große Sache für jede Frau. Und es sollte ja alles gut laufen, damit Archaikos zufrieden ist und seine Herrschaft gefestigt werden kann.“

Das Lachen von Europa fährt selbst Athene durch alle Glieder. Was für eine Stimme. Tief und voll und weich zugleich. Wie eine Verlockung. Athene ist beeindruckt und nimmt sich vor, die dritte im Bunde dieser beiden Frauen werden zu wollen. Aber wie? Die Blicke, die die beiden Frauen jetzt tauschen, lachend, sind so voller Hingabe und Vertrauen, dass selbst Athene so etwas wie Eifersucht zu spüren meint.

So wendet sie sich schnell ab, als die beiden an ihr vorbei kommen, und beschließt, bald wieder zu kommen, wenn sie ihren Vater gefunden hat.

15 Jan

Europa – Meditation # 247

Augenblicke der Wahrheit – nutzen wir sie!

Die weißen Männer, die neulich grölend und Fähnchen schwenkend die Stufen zum Kapitol hinauf stolperten, scheinen eins gemeinsam zu haben: Nicht lange nachdenken, einfach drauflos reden und dann auf sie mit Gebrüll. Und sich immer schön in der Wolke mit seinesgleichen rückkoppeln und nur aus dem einen Sender seine „Infos“ abrufen und selfies machen, viele, viele, viele.

Und die gebildeten Europäer (genauso wie die gebildeten Eliten an der Ost- und Westküste drüben) werden in so einem Augenblick sicher kopfschüttelnd sagen: „Ich fass es nicht, ich fass es nicht!“

Als wäre da ein Typ vom Himmel gefallen, der bis dahin noch gar nicht aufgetaucht sei.

Dabei ist es mit solch einem Erscheinungsbild genauso wie mit einem Eisberg: Die Spitze wird sichtbar – z. B. auf den Stufen eines Parlamentsgebäudes – doch der tiefe und schwere Sockel, der bleibt der Betrachtung unsichtbar. Aber um den geht es – hier wie drüben in Übersee – es sind die vielen, vielen Singles, Couples und Families, die kaum am Tisch der Bildung teilgenommen haben oder wenn, dann nur üblen Fraß vorgesetzt bekamen. Und seitdem mehr oder weniger am Hungertuch nagen müssen, denn gute Jobs sind eben nur mit guter Bilderung zu haben und die ist furchtbar teuer. Das Bildungssystem im Mittleren Westen und im Rostgürtel ist derart marode, vergammelt und verflacht, dass Wissen über sich und die Welt – und dann auch noch in kritischer Perspektive – kaum mehr angehäuft werden kann. Selbst resiliente Kinder haben hier schlechte Karte. Und hier in Europa – und speziell in Deutschland – hat auch seit vielen Jahren ein Absinken, Abflachen der Bildungsangebote statt gefunden, dass auch hier den meisten nicht mehr ein Weg zu einer kritischen Betrachtung von Ich und Welt ermöglicht wird.

„Man sieht nur, die im Lichte wandeln, die im Dunkeln sieht man nicht!“

Um im Bild vom Eisberg zu bleiben – es läuft einem eiskalt den Rücken herunter, wenn man untersucht, was heute junge Menschen (wir reden hier natürlich nicht von denen, denen eine teure Ausbildung gekauft werden kann) als Basiswissen mit bringen, wenn sie ins Erwachsenenleben eintauchen.

Und jetzt in der Pandemie?

Jetzt ist so etwas wie die Stunde der Wahrheit: Wenn jetzt die Kinder in digitaler Sprachlosigkeit vor sich hin tippend alleine lernen sollen, dann lügen wir uns ganz schön was in die Tasche. Da amüsiert sich doch nur noch das Kurzzeitgedächtnis. Wenn überhaupt. Das Langzeitgedächtnis müsste nämlich in der wirklichen Welt geübt, bedient und lobend gepflegt werden, doch dazu fehlen jetzt die Rahmenbedingungen.

So sollten wir nicht fassungslos vor den Bildern mit jenen weißen Männern stehen, sondern ganz schnell und ganz intensiv in kleinstem Kreise daran arbeiten, trotzdem unsere Kinder beim Lernen nicht allein zu lassen.

12 Jan

Europa – Meditation # 246

Europa auf dem Prüfstand.

Könnte es sein, dass all das, was wir Europäer in mehreren Jahrhunderten uns zurecht gedacht und gezimmert haben, doch nur eingebildet ist, (als hätten wir entdeckt, was die Welt im Innersten zusammenhält!) das nicht der species und ihrem Weiterleben dienen soll, sondern nur der Mehrung von toten Dingen? Von Geld, Häusern und Bequemlichkeiten? Dass all das – schon immer auf dem Rücken von denen, die nicht so schnell hin dachten und hin langten – nur als allgemein gedacht wurde, um den Verbleib des Errungenen bei denen zu sichern, die schneller waren? Dass Wissen – vor allem das, was dann in Schulen und Universitäten vermittelt wurde – nichts anderes zu leisten hatte, als diesen Bestand blumig zu umschreiben und wortreich zu rechtfertigen – als die ultima ratio menschlicher Existenz?

Und könnte es sein, dass als das jetzt, wo wir in Angst und Schrecken vor dem unsichtbaren Feind zurück schrecken – den interessieren leider keine Dinge, Häuser und Bequemlichkeiten, der ist sich genug und seiner Freude an unbeschränkter, pausenloser Ausbreitung einfach so – dass also jetzt, die Angst vor der Angst uns Europäer wie einst Herakles am Scheideweg dastehen lässt, weil dieser einzigartige Augenblick – diese Stunde der Wahrheit – uns wach rütteln könnte, dass all das, was wir bisher für scheinbar natürlich hielten (schließlich haben wir es uns und unseren Kindern oft genug wiederholt), nur zufällig und eben auch zerbrechlich, weil künstlich ist?

Dass wir nun die einmalige Chance hätten, nicht erneut auf den wohl vertrauten Weg einzubiegen, der alles beim Alten, nur eben noch besser, schneller, perfekter lassen würde, sondern den ganz anderen einschlagen, den unbekannten, ungewissen, unwahrscheinlichen, der nicht nur uns selbst, sondern auch den Erdball selbst zur wohl verdienten Ruhe kommen lassen würde, weil wir weder uns selbst, noch die Natur weiter – als wäre es das Natürlichste von der Welt – schikanieren wollen.

Aber diese Angst, diese so alt vertraute, sie steht uns dabei brutal im Weg. Gesellt sich doch nun noch neben die Angst vor dem Virus und der Angst vor der Einsicht, jahrhundertelang aufs falsche Pferd gesetzt zu haben, die Angst vor den Chinesen, die gelehrige Schüler der Europäer sind und sich von ihrem Weg der Mitte leichtfertig entfernten, um ihre modernen Lehrer noch zu übertreffen.

Was tun?

Der Angst den Rücken kehren, die Last von sich fallen lassen, einatmen und lächelnd dem Nächsten gewogen und zugewandt sein und bleiben. Dem kann kein noch so eitler, ideologischer Tsunami etwas anhaben.