24 Feb

Leseprobe – Blatt 123 – YRRLANTH-ROMAN

Das Geschenk der großen Göttin Atawima.

Weder Rochwyn noch Somythall wissen, dass Atawima den heutigen Tag gewählt hat, um neues, helles Leben in die dunkle Welt des ehemaligen Galliens zu bringen.

Und während Rochwyn mit seinen besten Männern die Mänaden bei ihrem Tanz zu Ehren des Dionysos belauscht, betritt die Göttin selbst die Therme von Luxovium, setzt sich auf die warmen Stufen des Beckens und ruft sie alle herbei.

Baibana, Whyrrbil und Stublunka sind gerade im kleinen Raum, wo der Webstuhl steht, mit Wollfäden Aufrollen zugange, als ihnen ein Schauder über den Rücken läuft. Erschrocken lassen sie die Wollknäuel fallen, schauen sich wortlos an, eilen zur Tür und laufen hinüber zum Thermalbad. Gleichzeitig wird Bruniguld, Somythalls Amme, aus ihrem Mittagsschlaf hoch geschreckt. Was war das? Hatte sie da jemand gerufen? Ich muss nach meiner Herrin sehen, vielleicht ist ihr nicht gut und ich habe es gleich gespürt, denkt sie, als sie schlurfend ihre Kammer verlässt. Und Somythall? Sie war gerade in einem wunderbaren Tagtraum unterwegs, Voegrun, Julian und Rochwyn waren alle drei bei ihr zu Gast, als plötzlich ein Schmerz den Traum zerreißt. Ihr Kind meldet sich. Das kennt sie schon. Aber dieses Mal war der Schmerz anders als sonst. Größer, mächtiger. Sie versucht aufzustehen. Vielleicht sollte ich Bruniguld rufen, vielleicht ist es ja soweit. Aber Rochwyn, Rochwyn ist nicht da! Im gleichen Moment geht die Tür auf und Bruniguld kommt ihr entgegen, hilft ihr hoch, greift ihr unter die Arme:

„Kommt, Herrin, gehen wir ins warme Bad, da wird es Linderung geben, kommt!“

„Bruniguld, es ist so weit, glaub mir!“ antwortet Somythall ächzend. Bruniguld lacht, nickt und hilft ihr aus ihrem Gemach in den Flur. Die Amme hat das jetzt schon ein paar Mal erlebt. Es ist sicher noch zu früh für die Geburt. Sie meint es zu spüren. Sie ist ja so alt und erfahren.

Aber der stechende Schmerz kommt zurück, zum zweiten Mal. Somythall schreit auf. Nicht so sehr, weil es schmerzt, sondern weil er so schnell wieder kommt, der Schmerz. Ihr kommt es vor, als wären sie schon eine Ewigkeit unterwegs.

„Herrin, sorgt euch nicht, das warme Wasser wird alles wieder beruhigen in dir, ganz sicher!“

Bruniguld – obwohl alt und nicht mehr die stabilste – stützt sie, so gut sie kann und dann sind sie auch schon da. Sie öffnet die Tür zum Baderaum und meint zu träumen: Da stehen die Frauen mit Tüchern und kleinen Holztöpfchen voller duftender Salben am Beckenrand und scheinen sich überhaupt nicht zu wundern, dass Somythall und ihre Amme hereinkommen.

„Was macht ihr hier?“ fragt die Amme unwirsch, „Somythall braucht Ruhe und Entspannung, geht!“

Da entfährt Somythall ein kurzer Schrei, zum dritten Mal fordert der fremde Schmerz sein Recht. Ihr wird übel, schwindlig, der Schweiß bricht ihr aus.

Baibana zeigt auf die Decken, die über die Stufen gelegt sind, und sagt nur:

„Somythall hier ist gut sein, leg dich hin, wir stehen dir bei!“

Die Amme will protestieren, aber Baibana winkt ab, Whyrrbil und Stublanka helfen nach Kräften mit. So sinkt sie weich auf die warmen Decken. Die Frauen wissen, was zu tun ist. Somythall aber, Somythall beginnt zu beten:

„Soju, toju, Waltantaju…“ Stöhnend stößt sie die Worte aus sich heraus. Die Frauen stimmen ein und Atawima hält ihre schützende Hand über sie alle. Da ist keine Angst in den Gesichtern zu lesen. Im Gegenteil. Alle fühlen sich umarmt von der wärmenden Nähe der Göttin. Oder sind es nur die warmen Dämpfe des Thermalbades, die sie umgarnen? Somythall liegt am Boden, die Frauen halten sie fest, denn jetzt kommen die Wehen in immer schnelleren Wellen. Damit hatte sie gar nicht gerechnet. Wie wild stürzen durch ihren Kopf verrückte Bilder aus ihrer Kindheit, wie sie mit ihrer Großmutter Brighid, Blumen pflückt, wie sie mit Voegrun in der Höhle liegt…immer schneller und wirrer werden die Bilder, immer heftiger geht ihr Atem. Aber die Ruhe der Frauen um sie herum tut ihr so gut. Sie ist nicht allein, sie wissen Bescheid. Manchmal meint sie, das alles nur zu träumen, dann meldet sich aber streng der Schmerz zu Wort:

„Du wirst hart arbeiten müssen, Frau, du wirst sehr geduldig sein müssen! Ich habe Zeit!“

Der Schweiß läuft ihr die Wangen herab, die Gesichter der Frauen verschwimmen vor ihren Augen, Somythall presst den Atem verzweifelt aus sich heraus. Sie sieht das Nicken der Frauenköpfe, hört ihre Stimmen, versteht aber nicht, was sie sagen. Für einen Augenblick klammern sich ihre Tränen verhangenen Augen an dem Bild der Göttin ihr gegenüber an der Wand fest. Atawima, Atawima. Aber es ist doch gar nicht Atawima, es ist Diana, die Göttin der…Aber wieder kommt ihr der Schmerz dazwischen. Sie presst die Augen zusammen. Von weit her ruft ihre Amme ihren Namen, auch glaubt sie den Singsang der Frauenstimmen zu vernehmen, sie singen sogar das gleiche Lied, das sie mit ihrer Großmutter gesungen hatte, damals am Meer in Yrrlanth. Was geht da in ihr vor? Wo sind meine Beine, wo meine Arme? Und mein Herz? Ihr Herz schlägt ihr bis in ihren Hals, ihre Stimme versagt ihr ihren Dienst. Warum kommt es nicht? Warum können die Frauen nichts tun? Bruniguld, sie kennt sich doch aus, warum geht es nicht voran? Ist nicht schon Nacht? Ihr wird schwarz vor Augen. Sie schreit. Aber der Gesang der Frauen hüllt ihren Schrei sanft in weiche Töne ein. Ihr ganzer Körper scheint nur noch Schmerz sein zu wollen, nichts anderes zu können, nichts anderes zu dürfen.

Dann hört sie Freudenschreie, Jubelrufe, Klatschen. Die Frauen überglücklich. Jetzt erkennt sie auch das Gesicht der Amme. Sie kommt näher, legt ihr das Kind an die Seite und flüstert: „Es ist ein Mädchen!“ Somythall versteht es und versteht es nicht. Ein Traum? Oder etwa nicht?

22 Feb

Europa – Meditation #254

Der neue, alte Fetisch: Zahlen, Zahlen.

Nehmen wir zum Beispiel die Zahlen 31 und 41 –

Fügen wir noch ein Zeichen dazu: % –

Und schon klickt es. Oder etwa nicht? (Nein, nein – diesmal nicht corona!)

Als engagierte Europäer wissen wir natürlich sofort, dass sich hinter diesen beiden harmlosen Zahlen junge Menschen verbergen, die zur Zeit in Italien und Spanien arbeitslos sind. Sie sollen „darstellen“, wie viele von ihnen verzweifelt nach Arbeit suchen. Und das in Zeiten von Corona! Wenn in den Medien diese beiden Zahlen ( 31% und 41% ) in irgendwelchen Tabellen auftauchen – Tendenz steigend – dann ist das ein Zahlenmuster, das uns auch von den täglichen Börsentabellen vertraut ist. Prozentzahlen. Einmal geht es um Menschen, einmal geht es ums Geld. Unser Gehirn fühlt sich angenehm entlastet, wenn statt konkreter Bilder von jungen Leuten in Italien und Spanien, die vergeblich bei Job-Börsen Schlange stehen und kein Erfolgslächeln in die Kamera halten, wenn stattdessen eben nur die Zahlen als deren Stellvertreter auftreten: nüchtern, abstrakt, kalt und leblos, eben entindividualisiert.

Darin sind wir hier in Europa ganz groß. Neben den abstrakten Zahlen gibt es ja auch noch die abstrakten Begriffe, wie Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit oder Hoffnungslosigkeit. Vor lauter „-keiten“ müssen wir uns als Leser keine Menschen aus Fleisch und Blut mit ihren Träumen, Ängsten und zerstörten Plänen vorstellen, sondern sehen höchstens die Arbeitslosigkeit – vermenschlicht – wie sie traurig durch leere Straßen taumelt, um einen Euro bettelt, beim kostenlosen Mittagstisch vorbei schaut, anonym, gesichtslos.

Gleichzeitig versorgt uns aber die Werbung mit Bildern von dynamischen Erfolgstypen, die in Hochglanzkisten auf der Route # 1 entlang düsen, während der Fahrtwind ausgelassen mit dem gepflegten Haar dabei spielt…, um nur ein kleines Abziehbildchen ins überforderte Gedächtnis zu rufen.

Gleichzeitig sehen sich aber die Medien auch genötigt – schließlich geht es ja um ausgewogene Berichterstattung – von üblen Randalen in Barcelona oder Genua zu berichten, wo bürgerliches Eigentum zu Bruch geht, Mülltonnen in Flammen stehen und Jugendliche trotzig das V-Zeichen in die Kamera halten. Tausende, Tag für Tag.

Was ist da los? Was ist nur mit unserer Jugend los? So oder ähnlich sinnieren der saturierte Mittelständler oder Banker beim abendlichen Info-Abgleich on TV.

Fällt die Frage nicht auf die Frager zurück?

Der Markt regelt eben doch nicht alles – im Gegenteil – er zementiert die zunehmende Ungleichheit und Lebenserwartungen in engen Grenzen. Entweder man hat geerbt oder man hat skrupellos dafür gesorgt, dass man am Finanzamt vorbei sein Schäfchen ins Trockene gebracht hat.

Was ist also da los? Dumme Frage, wirklich!