Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 112
Wie die Tochter dem Vater die Leviten liest. (1. Teil)
„Hallo, Athene, liebes Töchterchen, als führe Helios mit seinem Feuerwagen über den Olymp!“ Er streckt mit strahlender Miene seine Arme aus, die beiden Brüder schauen verlegen ins Nirgendwohin.
Zeus ist mächtig stolz auf sich, dass er trotz des Schreckens, der ihm durch die Glieder fuhr, als seine Tochter so völlig unvermittelt vor ihnen steht, zu solch einem blumigen Bild als Begrüßung fähig war. Athene lächelt eher gequält. Sie kennt ihren Vater, weiß um seine doppelten Böden. Sie wird doch nicht etwas gelauscht haben?
„Schön gesagt, Papa, aber das beantwortet meine Frage nicht!“
„Deine Frage? Welche Frage?“
Seine beiden Brüder verdrehen die Augen, räuspern sich vernehmlich, rutschen auf ihren weichen Kissen verlegen hin und her, nippen nervös an ihrem Nektar und Ambrosia.
Athene antwortet auf seine Fragen nicht. Sie wartet einfach, zieht die Augenbrauen hoch.
„Ach so“, während Zeus anfängt zu sprechen, weiß er noch gar nicht, was er sagen soll, „ach so, ja, ja, wir drei halten gerade Kriegsrat.“
„Kriegsrat in der Bar auf dem Olymp? Also wirklich, Papa, für wie dumm hältst du mich eigentlich?“
Zeus kann den etwas schärferen Ton in der Stimme seiner Tochter nicht überhören, er muss sofort für gute Stimmung sorgen. Sofort.
„Aber Athene! Wir hatten einfach Durst, schließlich liegt die Bar ja direkt hinter dem Beratungssaal, da ist es doch naheliegend, kurz hier…“
„Ja, ja. In Ordnung. Dann will ich dir mal etwas erzählen.“ Sie lehnt sich lässig an eine Säule und legt los:
„Ich komme gerade von Kreta“. Dabei beobachtet sie die drei Brüder genau und sieht natürlich auch, wie die bedeutende Blicke wechseln. Wespennest, denkt sie, Volltreffer.
„Soll ja eine schöne Insel sein“, steuert nun Poseidon auch mal etwas bei, natürlich nur um seinen Bruder aus der Schusslinie zu bekommen.
„Stimmt, Onkel Poseidon. Aber es gibt dort auch eine Hohepriesterin im Tempel der…“
Sofort unterbricht sie ihr Vater, er will nichts davon hören:
„Tochter, wir müssen wirklich wichtige Dinge besprechen, weil…“
Athene lässt ihn nicht ausreden:
„und diese Priesterin, Chandaraissa, betreut nicht nur eine vielversprechende Schar von jungen Nachwuchspriesterinnen, sondern auch eine fremde Frau, Europa, die als Flüchtling dort untergekommen ist und die demnächst den Minos von Kreta, Archaikos, heiraten wird, wie du sicher weißt – oder? Ich finde übrigens, sie ist eine sehr selbstbewusste und schöne Frau.“
Die drei Brüder ein Dreigestirn in aschfahler Blässe, jetzt.