Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 114
Die Rückkehr der glücklosen Brüder nach Sidon / Teil I
Während Europa auf Kreta glücklich in die Augen ihrer gerade geborenen Zwillinge blickt und alle schon voller Erwartung auf das Tanzfest warten, das die Hohepriesterin Chandaraissa dem Minos und seinem Volk versprochen hat, starren die drei Brüder Europas auf ihrer Rückreise still vor sich hin, während der große Handelssegler von Kilion auf Alashiya unterwegs ist nach Ägypten. Nur auf den besonderen Wunsch der drei Brüder und entsprechender Bezahlung war der Kapitän bereit gewesen, sie an der Küste Phöniziens abzusetzen. Dabei hatte er nur mit dem Kopf geschüttelt. Kadmos, Phoinix und Kilix werden bald verstehen, warum.
Auf See liegen sie oben an Deck und erzählen sich ihre Geschichten: Alle endeten mit dem gleichen Satz: Von unserer Schwester Europa, keine Spur. Also waren sie umsonst in Piräus, in Delphi und am Nil gewesen. Keiner konnte ihnen bei ihrer Suche weiter helfen. Nun machen sie sich Sorgen, wie ihr Vater, König Agenor von Phönizien, dies aufnehmen wird. Hatte er ihnen nicht gedroht, sie alle zu enterben, aus dem Land zu jagen, falls sie ohne Europa zurück kämen?
„Land in Sicht!“ tönt es vom Ausguck. Sie nähern sich also ihrer geliebten Heimat, ihrem Zuhause. Als sie jetzt Richtung Osten schauen und die vertraute Küste in den Blick kommt, halten sie vor Schreck den Atem an: Denn da, wo einst die stolzen Stadtmauern von Biblos vom Meer aus zu sehen waren, ist nichts dergleichen zu erkennen.
„Hat sich der Steuermann vielleicht verrechnet, sind wir zu weit nördlich geraten?“ fragt Kadmos seine Brüder. Die schütteln nur den Kopf.
Später, als sie von Bord gegangen waren, der Segler schon wieder Fahrt aufgenommen hat, beantwortet sich ihre Frage von selbst: Die Stadt ist zerstört, die Menschen tot oder vertrieben, nur noch Reste sind zu erkennen. Was ist da passiert? Ein Erdbeben vielleicht?
So machen sich die drei auf nach Süden, Richtung Sidon, wo der Palast des Königs, ihres Vaters steht. Unterwegs treffen sie auf abgemagerte Gestalten, die vor ihnen zu fliehen versuchen.
„He, Leute, warum rennt ihr denn weg? Wir sind des Königs Söhne!“
Da bleibt ein altes Weib stehen, reckt verschreckt die Arme gegen den Himmel und schreit krächzend los:
„Oh weh! Oh weh! Ihr armen Kinder. Die Götter schicken euch eine schwere Prüfung, oh weh!“
Und schon läuft sie humpelnd davon.
„Was hat das zu bedeuten?“ fragt Kilix seine Brüder.
„Wenn das nicht ein böses Omen ist!“ murmelt Phoinix vor sich hin, „wenn das nicht großes Unheil bedeutet!“
„Wenn wir ordentlich marschieren, können wir vielleicht noch vor Sonnenuntergang Sidon erreichen. Unser Vater wird uns sicher alles erklären.“ Schweigen, nichts als Schweigen antwortet Kilix.