22 Mrz

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 114

Die Rückkehr der glücklosen Brüder nach Sidon / Teil I

Während Europa auf Kreta glücklich in die Augen ihrer gerade geborenen Zwillinge blickt und alle schon voller Erwartung auf das Tanzfest warten, das die Hohepriesterin Chandaraissa dem Minos und seinem Volk versprochen hat, starren die drei Brüder Europas auf ihrer Rückreise still vor sich hin, während der große Handelssegler von Kilion auf Alashiya unterwegs ist nach Ägypten. Nur auf den besonderen Wunsch der drei Brüder und entsprechender Bezahlung war der Kapitän bereit gewesen, sie an der Küste Phöniziens abzusetzen. Dabei hatte er nur mit dem Kopf geschüttelt. Kadmos, Phoinix und Kilix werden bald verstehen, warum.

Auf See liegen sie oben an Deck und erzählen sich ihre Geschichten: Alle endeten mit dem gleichen Satz: Von unserer Schwester Europa, keine Spur. Also waren sie umsonst in Piräus, in Delphi und am Nil gewesen. Keiner konnte ihnen bei ihrer Suche weiter helfen. Nun machen sie sich Sorgen, wie ihr Vater, König Agenor von Phönizien, dies aufnehmen wird. Hatte er ihnen nicht gedroht, sie alle zu enterben, aus dem Land zu jagen, falls sie ohne Europa zurück kämen?

„Land in Sicht!“ tönt es vom Ausguck. Sie nähern sich also ihrer geliebten Heimat, ihrem Zuhause. Als sie jetzt Richtung Osten schauen und die vertraute Küste in den Blick kommt, halten sie vor Schreck den Atem an: Denn da, wo einst die stolzen Stadtmauern von Biblos vom Meer aus zu sehen waren, ist nichts dergleichen zu erkennen.

„Hat sich der Steuermann vielleicht verrechnet, sind wir zu weit nördlich geraten?“ fragt Kadmos seine Brüder. Die schütteln nur den Kopf.

Später, als sie von Bord gegangen waren, der Segler schon wieder Fahrt aufgenommen hat, beantwortet sich ihre Frage von selbst: Die Stadt ist zerstört, die Menschen tot oder vertrieben, nur noch Reste sind zu erkennen. Was ist da passiert? Ein Erdbeben vielleicht?

So machen sich die drei auf nach Süden, Richtung Sidon, wo der Palast des Königs, ihres Vaters steht. Unterwegs treffen sie auf abgemagerte Gestalten, die vor ihnen zu fliehen versuchen.

„He, Leute, warum rennt ihr denn weg? Wir sind des Königs Söhne!“

Da bleibt ein altes Weib stehen, reckt verschreckt die Arme gegen den Himmel und schreit krächzend los:

„Oh weh! Oh weh! Ihr armen Kinder. Die Götter schicken euch eine schwere Prüfung, oh weh!“

Und schon läuft sie humpelnd davon.

„Was hat das zu bedeuten?“ fragt Kilix seine Brüder.

„Wenn das nicht ein böses Omen ist!“ murmelt Phoinix vor sich hin, „wenn das nicht großes Unheil bedeutet!“

„Wenn wir ordentlich marschieren, können wir vielleicht noch vor Sonnenuntergang Sidon erreichen. Unser Vater wird uns sicher alles erklären.“ Schweigen, nichts als Schweigen antwortet Kilix.

18 Mrz

Meditation # 256

Todo es posible – nada es seguro.

Nach dem jähen Absturz der Kurse vor genau einem Jahr hielt es wohl kaum einer für möglich, dass der DAX inzwischen wieder voll auf der Überholspur angekommen ist. Wie kann das sein? Wenn man zuließe, dass die Börse nicht mit Geld handelt, sondern mit Seelenleben-Stimmungen, dann beantwortet sich die Frage wie von selbst. Ein Wankelmut-Abo.

Wenn man sich an die Bilder von Bergamo von vor einem Jahr erinnert und an den Schock, der darauf folgte – europaweit, weltweit – wäre wohl niemand auf die Idee gekommen, dass mitten im Locken mit dem Lockdown derzeit so viele unbedingt sofort auf die Insel wollen. Wie kann das sein?

Rationalismus und Empirie – Analyse und Testreihen – zeigen mal wieder ihr Janus-Gesicht: Attraktiv, aber doppeldeutig, uneins, widersprüchlich und sehr fehleranfällig machen sie dieser Tage den Europäern nichts mehr vor: Allein mir fehlt der Glaube. Woran? An Zahlen, Statistiken, Prognosen. Die Faszination von Grafiken, auf denen Linien möglichst in die Höhe weisen sollen, scheint dahin. Alles ist plötzlich möglich. War es aber auch schon immer. Wollten die Europäer nur vergessen.

Die Botschaft der Rassisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts trieb Millionen von Menschen weltweit in den Tod für und gegen diese Botschaft. Keiner hielt es für möglich, dass nach 1945 so schnell und scheinbar so nachhaltig das alles wohl nur ein Albtraum gewesen sein musste – was es nun wirklich nicht war – nein, man war sogar bereit über Nacht an Wohlstand, Frieden und globale Zusammenarbeit zu glauben – alles ist möglich, wir müssen nur daran glauben, es wirklich wollen. Als habe es je eine Stunde Null gegeben. Und mit riesigen Schritten machte sich die Spezies an die Zerstörung des eigenen Systems, das sie hervorgebracht hatte und bewirtete – schon so lange. Nichts ist sicher.

Auch dieser einfache Satz steht gegen die Glaubenssätze von Rationalismus und Empirie, die wir Europäer seit gut dreihundert Jahren für unhintergehbar hielten und erzeugt wieder jene Angst, gegen die die Spezies glaubte, erfolgreiche Barrieren aufgebaut zu haben: Der Fortschritts – und Wachstumsgedanke schienen die Lösung zu sein. Aber angesichts der Pandemie zerbröselt dieses Denkmuster zu dem, was es schon immer war: ein Wechsel auf eine Zukunft, der wir selbst keine Zukunft mehr zubilligen. Dass der Mensch ein Gesellschaftswesen sei – so schon Aristoteles – haben wir Europäer dank des verführerischen Angebots des großen Bruders von jenseits des großen Teichs gerne in die Asservatenkammer verbannt und statt dessen das ICH groß aufs Panier geschrieben – auf Teufel komm raus. Nun kommt er aber unangemeldet und mit Macht. Was tun?

Nichts ist sicher.

Da ist guter Rat sehr, sehr teuer. Vielleicht auch ein Grund, warum einige Volksvertreter sich auf diesem Felde bereichern wollen. Zum Wohle des kranken Ganzen. Nichts ist sicher, das ist sicher.

10 Mrz

Europa – Meditation # 255

Beschwörung geschönter Vergangenheit.

Deutsche Außenminister scheinen eine ganz besondere Species zu sein: In der Regel halten sie sich sehr lange in ihrem Amt, reisen unentwegt um die Welt und halten leicht verdauliche Reden zur Redlichkeit der Deutschen auf der Weltbühne, so wie sie ja schon immer ein wenig zu spät auftraten. Wer kann solch einem netten Kerl denn auch einen Platz an der Sonne verwehren? Selbstverständlich lässt er dem großen Bruder den Vortritt, bietet ihm sein Handtuch, seinen Schirm samt Matte an, immer betulich, immer vorauseilend selbstlos Hilfe anbietend.

Was für ein kitschiges Narrativ!

Da waren die letzten vier Jahre schon eine harte Prüfung für den treuen Freund. Aber jetzt ist es ja überstanden. Jetzt wird alles wieder gut. Die anthropomorphe Bebilderung internationaler Politik verhüllt dabei gnädig die knall harten wirtschaftlichen Interessen der großen Player hüben wie drüben. Der Dieselskandal (schon vergessen?) ist da nur ein kleines Beispiel für die Unverfrorenheit, wie man Konkurrenten am langen Arm versucht auszuhungern. Tja, das ging dann wohl mal nach hinten los.

Aber wir wollen ja nach vorne schauen:

So wird dieser Tage der deutsche Außenminister – sie wissen schon, wen ich meine: medial ist er tapfer und selbstredend integer unablässig unterwegs – nicht müde zu beteuern, dass Deutschland, oh Pardon, Europa – sprich EU – selbstverständlich bereit ist, in die wieder erwachte freundschaftliche Adressenaustauschbörse mehr Geld fließen zu lassen, dem Bündnis mehr Bedeutung zuzugestehen und ein fair-play der Sonderklasse einzuläuten!

Wenn hinter den Kulissen – wirecard schon vergessen? – böse Buben solch ehrlichem Bestreben in die Parade fahren, dann hilft das dennoch beim Beschönigen alter Fehler des alten Freundes:

Schon vergessen: der Korea-Krieg, der Vietnam-Krieg, der Irak-Krieg, der Afghanistan-Krieg, das Syrien- und Jemen-Desaster? Wie schön soll denn dieses von Unkenntnis und kultureller Arroganz gekennzeichnetes Schlachten noch geredet werden?

Tja – für solche Ausflüge in längst vergangene Gewaltexzesse bleibt im Moment leider keine Zeit, denn „wir“ müssen nach vorne schauen, an einer „besseren Zukunft“ mitarbeiten. Also gleich mal schnell die BW in Afghanistan für ein weiteres Jahr verpflichten. Das sind wir dem alten Mann in Washington einfach schuldig – was hat der nicht alles ertragen müssen unter seinem Vorgänger! Also bitte, unser deutscher Außenminister tut wirklich gut daran, nicht nur Worte zu schwingen, sondern Taten folgen zu lassen, damit wir wieder richtig gute Freunde werden, wir knallharten Konkurrenten auf dem Weltmarkt, wo doch tatsächlich gerade jemand dabei ist, „uns“ scheinbar links zu überholen mit üblen, üblen Methoden. „Wir“ sind die Redlichen von der Tankstelle, wir wollen nur helfen. Oder?