22 Mai

Europa – Meditation # 266

Palästina und wie vergesslich doch die Europäer sind.

Im 18. und 19. Jahrhundert schacherten europäische Staaten um Bodenschätze, „Einflusszonen“ und Handelsniederlassungen in Afrika, Indien und Asien – natürlich gebetsmühlenartig gekoppelt an die Botschaft: „Wir bringen euch die Zivilisation, das Christentum und Hilfe bei der „Entwicklung“ einer eigenständigen Nation, später.

Dabei war man nicht zimperlich. Da es noch keine Raketen gab – wie die jetzt in Palästina eingesetzten – waren es zumindest die Waffen mit starker Feuerkraft, die für Angst und Schrecken sorgten.

Im 20. Jahrhundert sahen sich die Europäer dann im Fahrwasser der USA und der NATO als loyale Paladine bei „Strafaktionen“ in Afghanistan, Irak, Syrien, Libyen und auf dem Balkan. Waffen, Munition und Logistik erlebten währenddessen schöne Zuwachsraten, die sich auch an der Börse gewinnbringend niederschlugen. Wachstum – die heilige Zauberformel der Europäer, die auch von Japan, Südkorea und selbst China imitiert wird – war auch der Hintergedanken bei den geheimen Absprachen 1915, als Engländer und Franzosen Vorderasien nach Hausherrenmanier untereinander aufteilten und den Juden wie den Arabern Versprechungen machten, die sie später „vergessen“ sollten. Der Anfang von dem, was die Europäer dann nach 1948 das „Palästina-Problem“ nannten: Da stritten zwei miteinander um Zusagen, die nun nach Maßgabe der militärischen Schlagkraft entschieden wurde und nicht nach völkerrechtlichen Rahmenbedingungen, an die sich a l l e halten sollten.

So vergingen die Jahre. Israel, die Flüchtlingslager, Gaza und das West-Jordan-Land wurden so zur palästinensische Wirklichkeit, die auch von den arabischen „Freunden“ hingenommen wurde, als wäre es unabänderlich, als wäre es ohne fremdbestimmte Vorgeschichte dahin gekommen.

Jetzt – angesichts von Finanzkrise, Wirecard, Cum-Ex-Skandalen und Pandemie – haben die Europäer – von den Nach-Trump-Amerikanern ganz zu schweigen – wirklich andere Sorgen, als über das Selbstbestimmungsrecht in Palästina nachzudenken: „Was können wir denn dafür, wenn „die“ sich nicht ordentlich einigen können! Wir waschen unsere Hände in Unschuld. Auch dieses Bild aus dem Neuen Testament hilft wunderbar, Mitverantwortung mit gutem Gewissen abschmettern zu können.

Wenn „die“ sich nicht auf eine ordentliche Zweistaaten-Lösung einigen wollen, dann dürfen sie sich nicht wundern, wenn es immer wieder kracht!

Schon vergessen, dass Mitteleuropa vor gut siebzig Jahren gezwungen wurde, die Straße der Demokratie zu betreten – als alles in Trümmern lag und so viele Tote zu beklagen waren, dass man lieber den Mund hielt und brav mitspielte, als wäre man gar nicht mit verantwortlich gewesen für die Katastrophe, die zwölf Jahre lang die Welt in Angst und Schrecken versetzt hatte? Pharisäer!

13 Mai

AbB – Erneute Annäherungen # 2

Apokrypher Schriftfund, 3. Jahrhundert nach europäischer Rechnung

Hat nicht Plato in seinem Symposion Sokrates die Priesterin Diotima über die Liebe dozieren lassen und war dieser Dialog seitdem nicht der Maßstab für die mit Lettern bekleidete und damit schamhaft verhüllte Bilderwelt der Geschlechtlichkeit ganz nur im Kopf beheimatet? Alles dem Ideal zu opfern, der Einbildung, dem leblosen und kalten Torso schöner Marmorkörper. Wo dieses Bild vom „gelungenen Lebensentwurf“ wie der kleine Junge bei Robert Musil, der aus seinem Fettgefängnis manchmal noch heraus zu winken scheint, gefangen sitzt seitdem wie Rapunzel im hohen Turme. Langes Haar erinnert noch an die Leiter zu Lebensfreude und Übermut samt wild wütigem Treiben.

Schon von klein auf werden die Wörter sorgsam sortiert nach erwünscht und unerwünscht. Gelehrig saugen es die Kleinen schon mit der Muttermilch auf. Da schmeckt es noch nach wärmendem Fleisch und flüssiger Lust nach mehr. Dann aber kommt das Selber Denken hinzu. Es baut sich gehorsam entlang des Gehörten die eigenen Luftschlösser, in denen die wahre Lust zu Hause sein soll. Je dünner die Luft, umso intensiver der Genuss, lautet das selbst erdachte Motto solcher Lebensfluchtpläne. Und wer sich diesem großen Bild nicht anzuschließen weiß, sieht sich verbannt in die Niederungen unmenschlicher Schwachheiten und erniedrigendem Versagen.

Dann begegnet er der Kunst – einer Welt, die ihn völlig verunsichert, denn nun soll wieder die Genauigkeit k e i n e Gewähr leisten für Lebensnähe und Wirklichkeit, nun soll das gelten, was das Kind gelernt hat zu verneinen: Das Vage, das Schillernde, das Bodenlose, das Verführerische.

Aber in der Alma Mater wieder hilft ihm wortreich die Lehre der Weisheit erneut auf die Beine: Du musst nur immer weiter denken, Wortgebirge aufhäufen und besteigen, dann erwartet dich oben der große Überblick über dich, die Welt und alles, was sie zusammenhält. Drunter aber brodelt weiter – wie im Kern der Erde – glühend heiß die wunderbare Wollust und wartet auf ihren unvermeidlichen und insgeheim ersehnten neuen Auftritt.

Bis dahin aber umstellen den ratlosen Menschen Gebote und Verbote zuhauf, damit er lerne, sich selbst zu verneinen. Und Strafe auch.

Aber hat nicht schon Friedrich Nietzsche in seiner Fröhlichen Wissenschaft (schon im Begriff schimmert die pure Lust hindurch!) unter der vielsagenden Zahl 69 – sie ist das Bild für die Wucht der Triebe – gesagt: „Was sagt dein Gewissen? – Werde, der du bist!“

Nun hat man unlängst eine apokryphe Schrift gefunden, in der jenseits von solchem Beschwichtigen der Triebwelt ein anderes Gelage samt Dialog überliefert ist. Nicht von alten Männern verfasst, sondern von jungen Priesterinnen eines Kultes, die der fast schon vergessenen Botschaft vom Glück verpflichtet sind. In Höhlen feierten sie dionysische Feste und eine hat wohl aufgeschrieben, was sie dachten, damals. Da fallen lautlos die Wortgebirge wie welke Blätter in sich zusammen.

Fast könnte man meinen, es sei ein Text aus der Feder von Lukrez, der ja auch als teuflisch ins Abseits geschoben wurde, weil seine Botschaft in eine der Erde verpflichteten Weise das Lied vom lustvollen Werden und Vergehen in den Mittelpunkt gestellt hatte: de rerum natura.

„Und alle Lust will mehr“, steht da geschrieben. Und wieder ist es eine Priesterin, die solches huldvoll kündet, lüstern lockend den tumben Mann, denn das Tier im denkenden Panther lässt sich einfach nicht bändigen. Warum auch? Venus ist die nackte Gestalt, deren Schönheit und Anziehungskraft keiner sich entziehen kann.

„Was also ist die Mitte der Existenz allen Seienden?“ fragt der weise Mann die schmunzelnde Priesterin – für Augenblicke könnte man sie sogar für die anziehende Melancholia halten – und lauscht mit klopfendem Herzen ihren Worten:

„Nun, schon die Frage führt schnurstracks in die Irre“, tönt ihre dunkle Stimme weich und warm.

„Wie das?“ fragt verwirrt der ratlose Mensch und hofft dabei sehnlichst auf Erlösung – jenseits von Wortgirlanden und Begriffswasserfällen.

„Es bedarf keiner Mitte, die zu finden wäre, es ist in dir selbst. Du hast dich nur gelehrt, es zu vergessen. Und dieses ‚in dir selbst‘ tanzt überall in dir, es ist dein ganzer Körper, der darin lebendig webt, schwebt und wirbelt.“

„Das verstehe ich nicht“, flüstert verstört der zitternd Zuhörende.

„Es ist auch nicht zu verstehen, es ist einfach nur zu leben. Und der Weg dorthin ist immer schon da, du hast nur gelernt, ihn gründlich zu übersehen.“

Da schließt er verunsichert die Augen und versucht dieser Botschaft in sich selbst zu begegnen. Und gerne hilft sie ihm dabei, die Glückliche.

Hier ist das Fragment zu Ende.

Wie es wohl weiter geht?

Muss es das denn überhaupt noch?

12 Mai

Europa – Meditation # 265

Zum Beispiel Palästina –

ein Land mit einer langen, langen und sehr wechselhaften Geschichte. Verkürzt auf den sogenannten Nah-Ost-Konflikt wird daraus ein Katz-und Mausspiel, das am Fernseher kopfschüttelnd visuell zur Netzhaut gelangt. Im Kopf aber haben schon längst die bekannten Verdächtigen dafür gesorgt, dass wir Europäer emotional gerne auf Seiten der Palästinenser stehen möchten, rational aber das Machtspiel gerne in vertrauten Gewässern von Disput und Kompromiss ausgetragen sehen wollen – wie Betrachter vor der Glaswand einer Unterwasserwelt, die fremd und faszinierend zugleich zum Glück eben durch eine Glaswand genügend weit weg vom eigenen Leben vor sich hin dümpelt und darwint: der Stärkere setzt sich „eben“ letztendlich doch immer durch…

Kommentatorinnen und Kenner der Szene werden dabei nicht müde, beide Seiten auf ihre Interessen, Widersprüche und Komparsen abzuklopfen, damit wir hier im pandemie-belästigten Europa eben aus gehöriger Distanz und ausgewogen zu einem kritischen Urteil kommen, dem wir gerne folgen möchten.

Vor lauter Bilder und Texten stehen bald schon Kopfschmerzen ins Haus: Können die bitte mal Schluss machen mit ihrem Hass und Machtanspruch? Alte Wunden brechen wieder auf – sie waren nie verheilt. So oder so ähnlich moderieren behutsam sprechende Betrachter von außen – am Abend vor einem lang ersehnten Feiertag (mit unchristlichem Namen „Vatertag“ getauft, mit katholischem Hintergrund schon länger als „Christi Himmelfahrt“ gebucht – und weg ist er!) – ins Off; als wäre das Abschießen von Raketen ein Computerspiel, dem man – wie damals beim Krieg gegen den Irak – aus seinem bequemen Sessel halbwegs aufmerksam zuschaut. Und am nächsten Abend dann endlich mal wieder ein hoffentlich spannendes Fußballspiel. So rieseln die Bilder in alt vertrauter Weise auf die Europäer nieder.

Aber was steckt dahinter?

Die Sender starren auf die Quoten.

Die Menschen warten auf die Rückkehr ihrer Spielräume.

Und Politiker auf ihre Chance.

Eine davon schien zuletzt zu zerrinnen. Ein Mann, der schon durch viele Krisen gestürmt ist wie durch Konfetti-Regen, weil er am Ende immer als Gewinner dastand, stand nun plötzlich vor der Tür, hinter der andere eine Koalition aushandeln wollten – ohne ihn!

Nein, das darf einfach nicht sein! Hat der wohl gedacht, und da kamen die Spannungen, Konflikte und Steine auf dem Tempelberg nur recht. Warum nicht die Ordnungsorgane etwas härter vorgehen lassen, warum nicht auf Eskalation setzen? Dann wird man ihn schon wieder holen. Bestimmt!

Ist das ein abwegiges Szenario?

Die Aufmerksamkeit der Menschen auf äußere Feinde zu lenken, war schon immer ein taugliches Mittel, um im Innern als Retter aufs Schild gehoben zu werden!

Wie naiv ( oder besser gesagt: borniert) sind wir Europäer eigentlich noch?