DER GROSSE STROM ZEIGT SICH GNÄDIG
Langsam nähert sich die Reise ihrem vorläufigen Ende, dem Gebiet der Heiden jenseits des großen Stroms.
Aber
Duc Rochwyn und seine Leute trauen den Botschaften nicht, die ihnen
entgegen kommende Händler missmutig preisgeben: Die Furt bei
Mogantiacum sei passierbar, im Moment. Wo sie denn hin wollten,
werden sie immer wieder gefragt. Doch der Duc gibt das Ziel ihrer
Reise nicht preis.
Abt
Ambrosius, der schweigend und wütend zugleich mit seinen Mitbrüdern
zuhört, verdreht nur die Augen. Dass sein Gott ihnen aber auch so
viele Prüfungen bereits vor dem Ziel auferlegen würde, hätte er
sich niemals auch nur träumen lassen. Da hilft nur beten, beten,
beten.
Somythall
in ihrer bequemen Sänfte gibt gerade Sumil die Brust. Ruth, die neue
Amme, geht neben ihr her und lässt sie nicht aus den Augen.
„Ein gutes Mädchen, ein gutes Mädchen“, flüstert sie wieder und wieder. Und die drei neuen Männer, die seit dem Halt in Argentovaria Rochwyns Schutztruppe verstärken, stehen unter strenger Aufsicht von Wytgos.
„He,
Berolos, was hältst du von den dreien, können wir denen trauen?“
Berolos denkt nach. Dass die drei Männer aus der kleinen jüdischen Gemeinde von Argentovaria stammen, stört ihn überhaupt nicht. Sollen sie doch glauben, was sie wollen. Die bedingungslos Treue zu ihrem Duc, das allein ist ihm wichtig. Aber woher sollen sie wissen, was sie im Schilde führen?
Die
ehemalige römische Handelsstraße ist in einem sehr schlechten
Zustand: tiefe Löcher, wo einmal Pflastersteine waren. Unkraut,
vollgelaufene Radspuren. Sie müssen höllisch aufpassen. Von
Wegelagerern ganz zu schweigen. Da sind drei unzuverlässige Männer
kein Spaß.
„Mh,
keine Ahnung, Wytgos, frag mich nicht! Dass sie so schweigend vor
sich hin trotten, muss ja nicht heißen, dass sie Schlimmes planen
oder?“
Jonas,
Isaak und Jakob spüren allzu deutlich, dass sie unter Beobachtung
stehen. Was sollen sie machen? Ihr Rabbi hat sie ausgewählt, es sei
Gottes Wille, sie sollen ihren Sold sparen, damit sie nach der
Rückkehr ihre Familien unterstützen können. Es ist längst
abgesprochen, dass sie nach Aquitanien fliehen wollen, dort sollen
sie vor Verfolgung sicherer sein, heißt es.
Jetzt öffnet sich der lichte Wald zum Rhenus hin. Überall Fuhrwerke, grasende Pferde, Zelte, offene Feuer. Und im Fluss gerade mehrere Fahrzeuge, von starken Bullen gezogen, Peitschen knallen, Wagenlenker brüllen Befehle, bis fast über die großen Räder waten sie quer zur Fließrichtung der großen Stroms.
„Los,
Leute, gleich hinterher, wer weiß, wie lange das Wasser noch so tief
steht!“
Rochwyn ruft es seinen Leuten zu. Er hilft Somythall mit Sumil im Arm aus der Sänfte, nimmt sie zu sich aufs Pferd und reitet so vorne weg in den Fluss. Somythall summt ihr Lied, das ihr ihre Großmutter beigebracht hat in Yrrlanth. Es soll wie ein Zauberspruch den Fluss besänftigen. Rochwyns warmer Körper stärkt ihre Zuversicht: Es wird ihnen nichts geschehen, nichts. Bald ist der Saum ihres Kleides vom Wasser durchtränkt, doch ihre Beine zittern nicht, so groß ist ihr Vertrauen.
„Göttin,
steh uns bei!“ betet sie dabei.
„Hab
keine Angst, Somythall, der Fluss zeigt sich heute sehr gnädig. Wir
schaffen es.“
Insgeheim
aber ist Rochwyn doch sehr überrascht, wie stark die Strömung ist,
als sie jetzt die Mitte der Furt erreichen. Tiefer sollte es nun
wirklich nicht gehen, denkt er. Doch dann – mitten im Flussbett –
scheint eine große Felsplatte unter ihnen – wie eine rettende
Unterwasserinsel – sie höher steigen zu lassen, als wären sie
schon am gegenseitigen Ufer. Doch sein Pferd gerät gefährlich ins
Rutschen. Die Hufe finden keinen Halt. Es wiehert ängstlich. Rochwyn
streicht ihm besänftigend über die Seite.
„Schon
gut, schon gut, Worwa, schon gut. Du machst es gut, nur weiter!“
Am
anderen Ufer rollen gerade die Wagen vor ihnen heil ans Ufer.
„Schau
Somythall, die haben er schon geschafft, wir gleich auch“.
Somythall ist jedes Mal verblüfft, wie sehr seine Stimme ihr Kraft gibt, Ängste vertreibt, Glücksgefühle in ihr aufsteigen lässt, immer wieder. Sie nickt. Das Wasser ist sehr kalt, sehr, sehr kalt. Die tief hängenden Wolken sehen so aus, als wollten sie auch noch von oben Wasser hinzuschütten.
„Bitte nicht, bitte!“ fleht sie zu ihrer Göttin. Ruth, die mit einer Hand die ihre hält, wirkt gar nicht zuversichtlich. Wie auch? Sie hat Angst vor dem Fluss, sie sieht sich schon ertrinken. Eigentlich will sie mit ihrer Hand ihre neue Herrin stützen, aber im Augenblick ist es ganz und gar umgekehrt. Die Hand ihrer Herrin ist ihr letzter Halt in diesem mächtigen Element.
„Lass
bitte nicht los, Herrin, bitte!“ fleht Ruth insgeheim.
Aber
bald haben sie es geschafft. Da war zwar noch einmal eine Stelle, als
sie schon dachten, es gehe aufwärts, als sie fast bis zur Hüfte im
Wasser wateten, aber dann geht es wirklich zügig aufwärts: Sie
haben es geschafft. Und auch ihre Brüder, Jonas, Isaak und Jakob
sind nicht abgetrieben oder ertrunken. Alle schaffen es – zwar
triefend nass und vor Kälte zitternd – ans andere Ufer. Das laute
Lachen und die Zurufe verraten überdeutlich: alle hatten sie große
Angst gehabt, keiner hatte es zeigen wollen, jetzt ist es endlich
vorbei. Geschafft!
„Wytgos,
such uns in der Nähe des Ufers einen günstigen Lagerplatz. Wir
wollen Feuer machen, unsere Kleider trocknen. Wir ziehen morgen
weiter!“
Alle
hören die sonore Stimme von Duc Rochwyn, alle sind erleichtert. Er
ist ein guter Mann. Ihm sich zu fügen, ist da nicht schwer. Und
Somythall ist so stolz auf ihn, ihren Mann, den Mann ihrer Tochter.
Sumil.