24 Sep

Europa – Meditation # 291

Europa hat keine Wahl mehr!

Als brave Bürger Mitteleuropas werden am Sonntag viele ihrer Bürgerpflicht nachkommen und zum Wählen gehen. Aber zwischen was sollen sie wählen?

Seit Wochen flimmern über die Bildschirme in den Millionen von Wohnzimmern Gesichter, die zu Menschen gehören, die sich mutig der Wahl stellen. Aber für was stehen sie? Für mehr Wohlstand, mehr Geld, mehr Urlaub, mehr Mobilität? Die Jugend stellt sich quer: Was soll das, dieses öde Mehr und Mehr?

Habt ihr den Schuss nicht gehört?

Weniger ist das neue Mehr. Und zwar weltweit, nicht nur in Deutschland.

Wie bitte?

Kann der unabhängige (?) Wähler denn nicht wirklich wählen zwischen unterschiedlichen ökonomischen und sozialen Konzepten der verschiedenen Parteien?

Kann er. Aber damit wählt er gleichzeitig den Stillstand oder besser noch den Rückschritt.

Wie bitte?

Weil alle drei Kandidaten – Männer wie Frauen – auf verwandten Wellenlängen senden: Sicher, wir müssen den Klimawandel aufhalten, sicher, wir müssen CO²-Emissionen verringern, sicher, wir sollten alternative Energien vorantreiben usw.

Aber all das bleibt im Rahmen des bestehenden Modells, das nach wie vor auf sozialer Ungleichheit und ökonomischer Wachstumsrate basiert. Die Reichen werden reichen, die weniger wohlhabenden immer weniger wohlhabend; eine Schere, nennen das die Analysten.

Dabei wäre es am besten, mit dieser Schere endlich alle Wachstumskonzepte als Auslaufmodelle zu zerschneiden, damit der Planet auch weiterhin vom homo sapiens bewohnbar bleiben kann.

Denn alles, was mit dem Zauberwort „NEO“ verbunden ist, wird den Europäern in Zukunft unweigerlich ins Üble ausschlagen: Dann bleibt als Wahl nur noch das Verlassen des Planeten – oder Unterwasserwelten für ein paar Privilegierte Grüppchen. Oder Dauerabos in Weltraumkapseln.

Was sollen also die Wähler am Sonntag am besten tun?

Nur denen ihre Stimme geben, die Raubbau als politisches und ökonomisches Konzept für Mitteleuropa genauso wie für die restliche Welt grundsätzlich ablehnen.

Und wer ist das?

Niemand.

Wen sollen sie also wählen?

Stellt euch vor, es ist Wahl und keiner geht hin!

Das wäre doch eine erste, echte Wahl, die den Parteien vor Augen führen würde, dass sie ausgedient haben. Wir müssen nicht das Volk abschaffen, weil es falsch wählt, sondern die Parteien, weil sie nicht mehr wählbar sind.

21 Sep

YRRLANTH – Historischer Roman II – Blatt 139 – Leseprobe

Somythall im Gespräch mit den Geistern von Nidda.

Der Tag, nachdem sie die Furt im großen Strom wohlbehalten, wenn auch nass und frierend, hinter sich gelassen hatten, beginnt mit Nebel und Nieselregen. Duc Rochwyn weckt seine Leute früh.

„He, Wytgos, wach auf, wir müssen los!“

Berolos neben Wytgos, schnarcht einfach weiter. Wytgos aber ist sofort auf den Beinen. Ihm ist es eigentlich lieber, wenn er seinen Herrn aufwecken kann und nicht umgekehrt.

„Wie weit willst du denn heute kommen, Duc?“ fragt er leise. Die anderen sollen nicht mitbekommen, was zwischen ihnen besprochen wird.

„Nicht weit. Nur bis Nidda. Nur ein paar Leugen.“

Wytgos stutzt. Was hat es denn mit diesem Nidda auf sich, dass er dort gleich schon wieder Halt machen will?

„Lass dich überraschen! Und jetzt weck endlich alle auf, los!“

Duc Rochwyn dreht sich um und geht zu der Trauerweide, unter der Somythall mit der kleinen Sumil lagert. Ruth, die neue Amme, ist schon wach und hat am Fluss Windeln gewaschen. Gerade wringt sie sie aus und hängt sie über einen der unteren Äste. Als sie den Duc sieht, hält sie ein und verbeugt sich tief.

„Schön, dass du dich schon kümmerst. Wir wollen auch bald los. Weck die beiden, aber sanft, ja!“

Ruth verbeugt sich noch tiefer. Diese Stimme, diese Stimme, sie geht ihr durch und durch.

„Ja, Herr, wir werden uns beeilen.“

Auch bei den Mönchen kommt Bewegung auf. Bald sind die Pferde wieder bepackt und gesattelt. Somythall wieder in ihrer Sänfte, Sumil stillend. Vorneweg Rochwyns Leute, dann die Sänftenträger, dann Abt Ambrosius und seine Mitbrüder und hinten Rochwyn mit den drei neuen Männern aus Argentovaria und der restlichen Mannschaft. Viele von denen, die auch gestern durch die Furt hier angekommen waren, stehen gaffend da und tuscheln. Was sind das für Leute, wo wollen die hin und wer ist das in der Sänfte?

Da kämpft sich die Sonne durch den Morgennebel. Somythall schließt die Augen. Schön, dass ihr Töchterlein jetzt von der Sonne gewärmt wird. Auch das Schwanken der Sänfte scheint sie zu mögen. Ruth läuft neben ihr her und lässt ihre Augen nicht von Somythall.

Nicht viel später hört sie, wie vorne Wytgos sein „Halt!“ ruft, „wir machen einen Pause!“ Jetzt schon eine Pause? Da schließt Rochwyn zu ihr auf.

„Somythall, ich habe eine kleine Überraschung für dich. Nidda.“

Nidda? Nie gehört, denkt sie. Nidda? Sie schaut Rochwyn mit großen Augen an. Sumil schläft in Ruths Armen.

„Komm, steig aus, ich möchte dir etwas zeigen!“

Rochwyn reicht ihr eine Hand, die sie gerne ergreift und schwingt sich

neugierig aus der Sänfte. Und als sie sich jetzt umschaut, ist sie völlig sprachlos: Überall Mauerreste. Säulen, Arkaden, ja, selbst eine gepflasterte Straße kann sie erkennen.

„Nein!“ ruft sie hoch erfreut.

„Ist das etwa eine ehemalige römische Stadt, ist das dieses Nidda? Dann ist dir die Überraschung wirklich gelungen.“

„Noch vor zwei Generationen gab es hier reges Marktleben. Der Grenzwall der Römer ist nicht mehr weit, die Germanen bekamen hier all das, was es bei ihnen nicht gab.“

Dann wendet er sich an seine Leute, die gelangweilt in der Gegend stehen. „Wytgos, geht mit den Pferden zum Flüsschen, da können sie trinken und fressen!“

Und zum Abt gewandt lässt er wie Brotkrumen, die vom Tisch fallen, die Wort raus:

„Ambrosius, betet noch einmal ordentlich, denn hinter diesem verfallenen Flecken beginnt euer Missionsland. Nichts als Heiden und Krieger!“

Dann verschwindet er mit Somythall in der stillen Ruinenlandschaft von Nidda.

Und mitten drin stoßen sie auf eine große, eine sehr große Säule. Staunend bleibt Somythall stehen.

„Ist das nicht eine Jupitersäule?“ fragt sie ganz leise. Eine eigenartige Wirkung geht von dieser Säule aus. Eigenartige Gefühle melden sich da in ihr. Eigenartige Bilder erscheinen vor ihrem inneren Auge.

Rochwyn nickt. Sie ist eine kluge Frau, denkt er. Am Rande der gepflasterten Straße liegt ein Leugenstein. Wer den wohl umgestoßen hat? Somythall setzt sich darauf und schließt die Augen. Sie will mit ihrer großen Göttin sprechen. Aber da melden sich andere Stimmen.

„Gib acht, Fremde, gib acht! Der Wald vor dir ist voller böser Geister. Sie sollten nicht grundlos gestört werden, das weißt du doch – oder?“

Somythall sieht die Sprecherin ganz deutlich vor sich: Eine Tunika umhüllt ihre stolze Gestalt, das Haar geflochten zu einem langen Zopf, an den nackten Armen glänzen goldene Armreife. Jetzt dreht sie sich um:

„Julianus, geh wieder rein, du sollst die Aeneis auswendig lernen. Dein Großvater erwartet das von dir! Mit wem ich gerade rede? Sei nicht so neugierig, du kennst sie sowieso nicht und jetzt ab ins Haus!“

„Wer bist du?“ fragt Somythall, „und woher kennst du mich?“

„Beten wir nicht jeden Tag zur gleichen Göttin, du und ich?“

Somythall kann es nicht fassen. Ja, es ist ihre Freundin aus so vielen Träumen, die sie immer wieder auf ihrer langen Reise von Yrrlanth bis hier nach Nidda nachts getroffen hat. Sie hat es nur immer wieder vergessen. Aber jetzt, jetzt fällt es ihr wieder alles ein.

„Cornelia – stimmt‘s?“ fragt sie lächelnd.

„Stimmt, Somythall. Aber der Glücksmoment ist gleich vorbei, dann muss

ich wieder zurück!“

Und gerade, als Somythall sie fragen will, wohin denn zurück, verschwindet das wunderbare Bild ihrer Freundin in ihrem Tagtraum. War da nicht sogar noch eine Männerstimme, die sich gerade noch melden wollte? Zu spät.

„Somythall, träumst du? Mit wem redest du da?“

Duc Rochwyn streicht Somythall behutsam über ihr langes rotes Haar. Er wusste es. Der Geist des Ortes würde sie durchfluten.

„Meine Freundin hat mich gewarnt. Vor uns liegt unbekanntes, unfreundliches Land, hat sie gesagt.“

Würde ja nur zu gern wissen, wie diese Freundin heißt, denkt Rochwyn, aber sagen tut er es nicht.

„Morgen, gegen Mittag, werden wir uns von Abt Ambrosius und seinen Mitbrüdern verabschieden. Damit haben wir unseren Teil des Auftrags erfüllt. Der seine beginnt dann erst.“

Am liebsten würde Somythall hier in den Ruinen von Nidda warten, bis Rochwyn mit seinen Leuten morgen Abend wieder hier sein würde. Aber sie ist zu stolz, das zu sagen. Die Angst, die Cornelia in ihr geweckt hat, schickt sie ins Dunkle. Geh, lass mich in Ruh!

Mit einem Seufzer erhebt sich Somythall von dem Leugenstein, der von der Morgensonne scheinbar nur für sie vorgewärmt worden war.

„Komm, Rochwyn, ziehen wir weiter. Abt Ambrosius ist sicher schon ganz ungeduldig, endlich mit seinem Missionswerk beginnen zu können.“

Zurück zu den Wartenden gibt Rochwyn sofort den Befehl zum Aufbruch.

Somythall liegt wieder in der Sänfte, Ruth hat ihr Sumil in den Arm gelegt, die Männer und die Mönchen kommen an ihr vorbei nicht wissend, was für einem Unheil sie entgegen reiten.

„Cornelia, Cornelia!“ flüstert Somythall, als sie jetzt durch die ehemalige römische Stadt der civitas Taunensium kommen, „danke für deine Warnung. Ich werde gut auf Sumil und mich aufpassen. Hoffentlich lernt dein Julianus fleißig seine Aeneis!“

Dabei geht ein feines Lächeln über ihr Gesicht. Ruth sieht es zufällig und denkt, woran wohl meine Herrin gerade denkt, dass sie so lächelt?

Dann umgibt sie lichter Buchenwald. Soweit das Auge reicht.

15 Sep

Europa – Meditation # 290

Von einem schönen Schein zum nächsten.

Wahlen stehen in Europa vor der Tür. Kleine und große. Aber zwischen was ist denn da zu wählen? Die Wahlplakate trällern ihre Lockrufe wortarm, aber unerbittliche ins Land unter die Leute. Und die Kandidaten versuchen sachlich und verbindlich zu bleiben. Wir alle sind gute Schauspieler, vor allem als Politiker, Manager, Amtsträger. Um gewählt zu werden, ist es in diesen Tagen wohl angesagt, ordentlich Kreide zu fressen, denn jeder möchte natürlich ein Bild abgeben, in dem er vorteilhaft, eben wählbar erscheint.

Aber der Schein trügt.

Wir hier in Europa wissen es nur zu gut, wie sehr die Medien dabei helfen, den schönen Schein schön scheinen zu lassen. Stichwort Volksempfänger als historisches Beispiel zum Beispiel.

Doch zurück ins Heute:

Da gibt es den forschen Mann aus dem Süden Deutschlands. Groß, robuste Stimme, selbstbewusster Auftritt und dann diesen kleinen Teddybären aus dem Westen. Beide sind aufeinander angewiesen – im Moment – also lächeln sie ihr wirkliches Gesicht schön weg, damit niemand sieht, dass der eine recht wenig hält vom anderen. Die Masken sitzen wie angegossen. Und beide starren wie gebannt auf Zahlenreihen, Tabellen, Statistiken und Grafiken. Umfragen, jeden Tag. Ein launisches Instrument. Und für Interpretationen ein weites Feld. Macht diktiert die Maskerade mit Macht.

Oder Macron und Merkel. Leutselig polieren sie an ihrem Bild der rechtschaffenen Verantwortlichen. Längst wissen sie, dass in Mali – wie in Afghanistan – kein Blumenstrauß zu gewinnen ist. Würden sie aber jetzt sagen, es ist ein Fehler, wir steigen sofort aus, wäre der Schaden für die eigene Partei desaströs. Die Fehler müssen also die Vorgänger gemacht haben. Die beiden wollen mutig Schadensbegrenzung betreiben. Loyal und sachlich. Die vierte Gewalt im Staat sollte wirklich ihren Einfluss nutzen und die Chefs und Chefinnen der Regierungen damit nicht durchkommen lassen.

Aber bis in die Sprache hinein ist der andauernde Selbstbetrug nur zu offensichtlich: In der Zeitung kann man gerade in die Bezug auf Afghanistan die Überschrift lesen:

„Gescheiterte Mission“.

Scheitern verbindet der kundige Zeitgenosse sofort mit Tragik und Mission mit „großer Auftrag“ – so wird dann bereits in der Überschrift die erste Nebelkerze geworfen. Sollten nicht wenigstens die Journalisten es besser wissen? Mit solcher Sprache machen sie sich zu Kollaborateuren der Akteure.

Von wegen Tragik!

Die Rüstungsindustrien hüben wie drüben haben blendend verdient in diesen verlorenen zwanzig Jahren in Afghanistan. Saudi-Arabien wurde gleichzeitig geradezu verwöhnt mit High-Tech-Lieferungen! Und die als Rache und Strafaktion geplante Invasion lief ordentlich aus dem Ruder. Aber Irrtum und Fehlentscheidungen sind keine Begriffe, die rechtschaffene Politiker und Militärs gerne auf ihren Fahnen wehen sehen wollen. Und dass die Familien, die Tote zu beklagen haben, mit Scheitern auch nicht getröstet werden können, ist doch klar. Und Obamas großes Versprechen, Guantanamo aufzulösen, ist immer noch nicht eingelöst. Also nur Wortgetöse?

Von wegen Mission!

Die Afghanen hatten keinen Auftrag erteilt, auch die Völker in Amerika und Europa hatten keinen Auftrag erteilt. Der wurde erst einmal in kleinen Zirkeln der verantwortlichen Volksvertreter erfunden, dann als richtig befunden und forsch in die Medien posaunt. Der Präsident konnte jubelnd auf einer Rachewelle surfen. Das Publikum applaudierte beeindruckt und gerne. Und obwohl inzwischen die Medienvertreter übereingekommen sind, die 20 Jahre in Afghanistan als großen Irrtum von Anfang an zu kommentieren, wird mit einer Überschrift wie „Gescheiterte Mission“ wieder so getan, als wären der Präsident und seine Berater in Washington und die Paladine in Europa zu einem hehren Kreuzzug für die Werte des Abendlandes aufgebrochen.

Nichts davon trifft zu.

Es waren – wie bei jedem Krieg – beinharte Machtinteressen, die die Menschen antrieb; im Gefolge eine Presse, die zwar kritisch, aber dennoch zustimmend in den Chor mit einstimmte.