Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 131
Die große Göttin ebnet den Weg für ihre Botschaft.
Chaturo und Athanama schauen leicht geblendet in die warme Abendsonne. Und gerade, als sie sich austauschen wollen über diese eigenartige Audienz beim Minos von Kreta eben, kommen ihnen zwei Frauen entgegen, die sie im Gegenlicht nur als Silhouetten erkennen.
Chandaraissa verbeugt sich leicht vor den staunenden Fremden; und mit einer eleganten Geste ihrer linken Hand beginnt sie dann so zu sprechen:
„Es muss unsere große Göttin sein, die uns hier zusammen führt. Ich habe euch schon im Traum gesehen, neulich. Seid herzlichst willkommen!“
Athanama läuft ein eigenartiger Schauer den Rücken herunter. Sie kann die Sprecherin immer noch nicht deutlich erkennen. Die Sonne steht jetzt sehr tief und blendet sie völlig.
„Athanama, wer ist es, der diese wunderbare Begegnung geplant hat? Lass dich umarmen!“ ruft ihr Europa entgegen.
Chaturo schaut ratlos zu Athanama hinüber. Kennst du diese beiden Frauen, will er wohl fragen. Aber Athanama hat es völlig die Sprache verschlagen. Diese Stimme, diese Stimme. Sie muss sich täuschen, es kann einfach nicht sein, es muss ein Irrtum sein. Doch als Europa nun direkt vor ihr steht und sie umarmen will, da hält sie den Atem an. Sie schwankt, lässt die Umarmung einfach nur geschehen und flüstert dabei:
„Europa! Bist du es wirklich?“
„Ja, du Gute, ich bin es. Und du bist Heimat, Kindheit, Jugend. Lebensfreude für mich!“
Da bricht Athanama in Tränen aus und erwidert endlich die herzliche Umarmung Europas.
Chaturo ahnt auf einmal, wer da vor ihm steht: Das muss Europa sein, die Tochter von König Agenor, das muss sie sein. Er verbeugt sich tief vor ihr.
„Prinzessin Europa, euer Diener, Chaturo, Kapitän…“
„Schon gut, schon gut“, wehrt Europa ab. „Chandaraissa, begrüße meine Lehrerin und alte Freundin aus meinen Tagen in Sidon!“
Ihr kommen die Tränen, denn sie wird nie wieder dorthin gehen. Das weiß sie.
Später – sie gehen zum Tempel der großen Göttin hinüber – fühlen sich alle vier eigenartig wohl und leicht, als wären alle Sorgen von ihnen genommen worden, als wären sie frei von Trauer, von Verlust, von Schmerz. Wie kann das nur sein?
Als sie nun zum Vorplatz des großen Tempels gelangen, sehen sie, wie die jungen Priesterinnen ihre Tanzschritte üben. Üben, üben, üben, das war es, was Chandaraissa ihnen gesagt hatte, als die jungen Frauen ihr gestanden hatten, wie groß ihre Ängste seien, wenn sie an das Fest, an den Tanz dächten.
„Ist das nicht ein wunderbares Bild?“ fragt Europa in die Runde. Die letzten Sonnenstrahlen umspielen die Tänzerinnen mit Glanz und Wärme. Als nähme die fast schon vergessene Botschaft vom Glück anmutige Gestalt an, als wären die düsteren Pläne von Zeus und seinen tapsigen Brüdern dem Untergang geweiht.