Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 134
Talos übt Felsenbrocken-Weit-Wurf.
„Kommt, stellt euch so auf, wie wir es geübt haben!“ ruft Chandaraissa den jungen Priesterinnen zu. Die sind noch ganz außer Atem. Den Weg vom Tempel hier hinauf auf die Bergwiese sind sie nur gelaufen. Vor Freude. Die Hohepriesterin ist immer gut für eine Überraschung. Europa und Chandaraissa, ihre Freundin, nehmen Platz am Rande der grünen Fläche. Ein Hauch von zarten Farben scheint darüber zu schweben. Der Frühling bei seiner schönen Arbeit.
Und jetzt, als alle – wie schon so oft geübt – auf Lücke neben- und hintereinander stehen, scheint es ihnen so, als zitterten ihre Füße.
Gleichzeitig schieben die drei göttlichen Brüder den schwer betrunkenen bronzenen Riesen Talos vor die Höhle ins grelle Sonnenlicht.
„Na, dann mal los, zeig uns doch mal, was du so drauf hast!“ feuert ihn Poseidon grinsend an. Talos hört es zwar, es macht für ihn aber keinen Sinn, denn auf dem Meer vor ihm sieht er kein Piratenschiff, kein feindliches Kriegsschiff, das er sofort mit einem riesigen Felsbrocken vernichten würde. Das hat er schon oft genug bewiesen. Zeus ist sein Auftraggeber.
„Talos, was ist los mit dir?“ wendet sich nun der Olympier an ihn. „Stimmen vielleicht die Lobeshymnen überhaupt gar nicht, die man hier in Kreta auf dich singt, hä?“ Die beiden göttlichen Brüder Hephaistos und Poseidon kichern dazu um die Wette.
Talos schwankt bedenklich hin und her, die Konturen der Insel verschwimmen vor seinen Augen. Jetzt wird er aber richtig wütend. Zweifeln die vielleicht an seinem Können? Denen werde ich es jetzt aber mal zeigen, grummelt er sabbernd vor sich hin und greift sich einen besonders dicken Brocken. Und wirft ihn in hohem Bogen in die Luft Richtung Meer, meint er. Aber durch sein Schwanken nimmt der riesige Fels eine völlig andere Richtung. Es flimmert ihm vor seinen Augen. Da scheint etwas gewaltig zu Bruch zu gehen.
„Gut, Talos, gut, komm lass noch ein paar mehr runter donnern!“ grölen nun die drei Brüder vergnügt. Polyphem, der völlig verwirrt am Ausgang der Höhle stehen geblieben war, kann es überhaupt nicht fassen: Der wirft ja in die völlig falsche Richtung, denkt er beklommen und sieht, wie unten der Tempel der großen Göttin unter den felsigen Geschosse zusammenbricht. Und wieso lacht da sein Vater, Poseidon, auch noch dazu? Das ist doch eine zum Himmel schreiende Katastrophe. Jetzt spürt er auch ein Beben unter seinen Füßen. Dann sieht er, wie Talos, der gerade den fünften – oder war es sogar schon den sechsten – Fels losschickt, torkelnd zu Boden geht, sich übergibt,rülpst und in tiefen Schlaf fällt. Zeus, Poseidon und Hephaistos applaudieren Talos überschwenglich.
Europa spürt ein Beben und sieht es als erste: Der Tempel der großen Göttin bricht in einer großen Staubwolke gerade zusammen. Ein sehr großes Beben, denkt sie erschrocken.
Die jungen Priesterinnen schreien entsetzt auf, ihre Augen weit aufgerissen, den Zusammenbruch des Tempels überdeutlich vor Augen, wird ihnen sofort klar, dass sie alle tot wären, wären sie dort unten geblieben und nicht hier hoch zur Tanzprobe gelaufen.
Die Hohepriesterin, Chandaraissa, schüttelt nur stumm ihren Kopf. Keiner sagt ein Wort.
„Wir haben großes Glück gehabt“, beginnt sie dann zu sprechen. „Die große Göttin ist uns wohl besonders gewogen. Jetzt müssen wir erst recht das große Tanzfest aufführen – als Dank für unsere Rettung.“
Dem Zeus allerdings, der glaubte, einen besonders pfiffigen Plan ausgeheckt zu haben, um diese phönizische Prinzessin Europa doch noch zu bestrafen, ist gar nicht mehr zum Lachen zumute: Talos, sein Werkzeug für seinen schlimmen Plan, hat zwar den Tempel der großen Göttin prachtvoll zerstört (was ihn auch so ganz nebenbei noch richtig diebisch freut), aber die Frauen müssen gewarnt worden sein. Wie sonst soll er sich erklären, dass sie gerade in diesem Augenblick gar nicht im Tempel sind? Irgendjemand muss es ihnen heimlich zugespielt haben. Aber wer? Hat etwas seine Tochter Athene wieder ihre Hand im Spiel oder vielleicht dieser Stümper Polyphem, dieser missratene Sohn seines Bruders Poseidon? Warum versteckt der sich denn immer noch hinten in der Höhle? Der hat sicher ein schlechtes Gewissen. Bei nächster Gelegenheit soll der mir für diesen Fehlschlag aber ordentlich büßen. Ist mir doch egal, ob der der Sohn meines Bruders ist. Ein Unfall, ja, ein Unfall wird es sein.