31 Mrz

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 134

Talos übt Felsenbrocken-Weit-Wurf.

„Kommt, stellt euch so auf, wie wir es geübt haben!“ ruft Chandaraissa den jungen Priesterinnen zu. Die sind noch ganz außer Atem. Den Weg vom Tempel hier hinauf auf die Bergwiese sind sie nur gelaufen. Vor Freude. Die Hohepriesterin ist immer gut für eine Überraschung. Europa und Chandaraissa, ihre Freundin, nehmen Platz am Rande der grünen Fläche. Ein Hauch von zarten Farben scheint darüber zu schweben. Der Frühling bei seiner schönen Arbeit.

Und jetzt, als alle – wie schon so oft geübt – auf Lücke neben- und hintereinander stehen, scheint es ihnen so, als zitterten ihre Füße.

Gleichzeitig schieben die drei göttlichen Brüder den schwer betrunkenen bronzenen Riesen Talos vor die Höhle ins grelle Sonnenlicht.

„Na, dann mal los, zeig uns doch mal, was du so drauf hast!“ feuert ihn Poseidon grinsend an. Talos hört es zwar, es macht für ihn aber keinen Sinn, denn auf dem Meer vor ihm sieht er kein Piratenschiff, kein feindliches Kriegsschiff, das er sofort mit einem riesigen Felsbrocken vernichten würde. Das hat er schon oft genug bewiesen. Zeus ist sein Auftraggeber.

„Talos, was ist los mit dir?“ wendet sich nun der Olympier an ihn. „Stimmen vielleicht die Lobeshymnen überhaupt gar nicht, die man hier in Kreta auf dich singt, hä?“ Die beiden göttlichen Brüder Hephaistos und Poseidon kichern dazu um die Wette.

Talos schwankt bedenklich hin und her, die Konturen der Insel verschwimmen vor seinen Augen. Jetzt wird er aber richtig wütend. Zweifeln die vielleicht an seinem Können? Denen werde ich es jetzt aber mal zeigen, grummelt er sabbernd vor sich hin und greift sich einen besonders dicken Brocken. Und wirft ihn in hohem Bogen in die Luft Richtung Meer, meint er. Aber durch sein Schwanken nimmt der riesige Fels eine völlig andere Richtung. Es flimmert ihm vor seinen Augen. Da scheint etwas gewaltig zu Bruch zu gehen.

„Gut, Talos, gut, komm lass noch ein paar mehr runter donnern!“ grölen nun die drei Brüder vergnügt. Polyphem, der völlig verwirrt am Ausgang der Höhle stehen geblieben war, kann es überhaupt nicht fassen: Der wirft ja in die völlig falsche Richtung, denkt er beklommen und sieht, wie unten der Tempel der großen Göttin unter den felsigen Geschosse zusammenbricht. Und wieso lacht da sein Vater, Poseidon, auch noch dazu? Das ist doch eine zum Himmel schreiende Katastrophe. Jetzt spürt er auch ein Beben unter seinen Füßen. Dann sieht er, wie Talos, der gerade den fünften – oder war es sogar schon den sechsten – Fels losschickt, torkelnd zu Boden geht, sich übergibt,rülpst und in tiefen Schlaf fällt. Zeus, Poseidon und Hephaistos applaudieren Talos überschwenglich.

Europa spürt ein Beben und sieht es als erste: Der Tempel der großen Göttin bricht in einer großen Staubwolke gerade zusammen. Ein sehr großes Beben, denkt sie erschrocken.

Die jungen Priesterinnen schreien entsetzt auf, ihre Augen weit aufgerissen, den Zusammenbruch des Tempels überdeutlich vor Augen, wird ihnen sofort klar, dass sie alle tot wären, wären sie dort unten geblieben und nicht hier hoch zur Tanzprobe gelaufen.

Die Hohepriesterin, Chandaraissa, schüttelt nur stumm ihren Kopf. Keiner sagt ein Wort.

„Wir haben großes Glück gehabt“, beginnt sie dann zu sprechen. „Die große Göttin ist uns wohl besonders gewogen. Jetzt müssen wir erst recht das große Tanzfest aufführen – als Dank für unsere Rettung.“

Dem Zeus allerdings, der glaubte, einen besonders pfiffigen Plan ausgeheckt zu haben, um diese phönizische Prinzessin Europa doch noch zu bestrafen, ist gar nicht mehr zum Lachen zumute: Talos, sein Werkzeug für seinen schlimmen Plan, hat zwar den Tempel der großen Göttin prachtvoll zerstört (was ihn auch so ganz nebenbei noch richtig diebisch freut), aber die Frauen müssen gewarnt worden sein. Wie sonst soll er sich erklären, dass sie gerade in diesem Augenblick gar nicht im Tempel sind? Irgendjemand muss es ihnen heimlich zugespielt haben. Aber wer? Hat etwas seine Tochter Athene wieder ihre Hand im Spiel oder vielleicht dieser Stümper Polyphem, dieser missratene Sohn seines Bruders Poseidon? Warum versteckt der sich denn immer noch hinten in der Höhle? Der hat sicher ein schlechtes Gewissen. Bei nächster Gelegenheit soll der mir für diesen Fehlschlag aber ordentlich büßen. Ist mir doch egal, ob der der Sohn meines Bruders ist. Ein Unfall, ja, ein Unfall wird es sein.

30 Mrz

Europa – Meditation # 329

Der MUSTERKNABE mit dem Rücken zur Wand.

Fast ein modernes Märchen – fast.

Was war er doch für ein Häufchen Elend – damals im Frühling 1945! Alle kühnen Blütenträume zu Staub verpulvert. Alles in Trümmern, alles zerronnen. Aber unser Stehaufmännchen krempelte die Ärmel hoch, packte an – vor allem die Frauen, denn Männer waren damals Mangelware: entweder tot, gefangen oder auf der Flucht vor den Siegern – und klopfte Steine sauber. Gleichzeitig wollte er zerknirscht dem Sieger zeigen: Wir können auch anders. Wir können fleißig sein, bescheiden, gehorsam sowieso. Nun eben den Siegern – hüben wie drüben.

Es galt, neues Vertrauen aufzubauen. Es galt, den als Lügen entlarvten Volksliedern abzuschwören. Es galt, sich ganz hinten anzustellen, stumm und fleißig zu arbeiten und im Wiederaufbau neue Stärke zu beweisen.

So vergingen die Jahre.

Drei große Brüder mussten in ihrem wohl verständlichen Misstrauen positiv überrascht werden. Einmal der ganz große Bruder von jenseits des Atlantiks, dann der schlimm gebeutelte Bruder im Osten und der überrannte Bruder in Europa. Wie die drei Äffchen hielten sie es mit ihrer mörderischen Vergangenheit: stumm, taub und blind einfach nach vorne schauen und die Hände, die ihnen zögerlich und natürlich sehr eigennützig dann doch gereicht wurden, verschämt ergreifen und ordentlich festhalten.

So vergingen die Jahre.

Unser verstörter Knabe aus dem Jahre 1945 war inzwischen zu einem properen Musterknabe herangewachsen. Politik überließ er gerne seinen großen Brüdern in West und Ost, er selbst hielt es stattdessen mit der Wirtschaft und den Zahlen und dem Geld. Non olet.

In seinem nicht zu bremsenden Übereifer kopierte er gnadenlos „the american way of life“, profilierte sich als Über-Europäer neuer Prägung und setzte voll auf Entspannung und Annäherung durch geduldigen Handel und Wandel auch nach Osten. Und als ganz neuer großer Bruder kam im fernen Osten die gerade ganz große aufgehende Sonne hinzu.

Und so vergingen die Jahre.

Bis eines Tages aus heiterem Himmel – scheinbar – der erfolgreiche Musterknabe vor einem weltweiten Scherbenhaufen stand: In Übersee zog der große Bruder so was vom Leder, als wären die vergangenen Anstrengungen gar nichts gewesen, als wäre der Musterknabe ein fauler Bursche. Und im Osten entpuppte sich der Partner als brauner Bär, der nur geduldig gewartet hatte, bis seine Stunde endlich schlug. Und der ferne große Bruder im noch entfernteren Osten diktierte eiskalt die geschäftlichen Bedingungen nach Gutsherren Art.

Die weltweiten Abhängigkeiten, in die sich unser Musterknabe hinein gewirtschaftet hatte, die man gerne als fair und günstig nicht müde wurde zu loben und zu beschwören, sind über Nacht zu Sachzwängen geworden, aus denen man keinen Ausweg glaubt ausmachen zu können.

Weit gefehlt, Musterknabe!

Erinnere dich nur an die vier Jahre nach Kriegsende!

Da gab es weder Öl, noch Kohle, noch Gas. Nur ein bisschen Holz vielleicht. Und nicht mal ein intaktes Dach über dem Kopf. Aber man lebte noch, wenn auch ziemlich ramponiert. Und erlebte, mit wie wenig man über die Runden kommen konnte, wie wenig ausreichte zu überleben, wie wenig genügte, um Karneval zu feiern, Geburtstage, Namenstage, Jahrestage.

Doch davon ist der Musterknabe heute Äonen entfernt. Und dennoch plappern die Medien von Krise, von Entbehrung, von unabsehbaren Folgen. Die Verwöhnung hat dem Musterknaben den Kopf völlig vernebelt. Denn solidarisch lässt sich das, was in dieser Wohlstandsgesellschaft auf die Menschen zukommt – vor allem vor dem Hintergrund der Bilder aus der Ukraine – wirklich wuppen: Mit dem Rücken an der Wand steht der Musterknabe ganz und gar nicht da, er steht angesichts des Rückblicks in die Geschichte beileibe mit beiden Füßen auf dem Boden. Es gibt wirklich Wichtigeres als Öl, Gas und Kohle – der Musterknabe muss sich nur an seine Talente und seinen unverwüstlichen Überlebenswillen erinnern lassen.

Angesichts der Klimakatastrophe, die gleichzeitig gerade so richtig Fahrt aufnimmt, kann er sich endlich auf das Wesentlich im Leben konzentrieren: Auf das Leben, seine Natur.