Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 140
Telephassa und Agenor begegnen sich im Hades. (Teil 1)
Zwielicht. Nebelschwaden. Raunen und Murmeln. Auf Felsbrocken sitzen sie, an stehenden Gewässern lassen sie ihre Beine ins Wasser baumeln. Leere Blicke, fahrige Gesten.
Und über den bleigrauen, schwärzlichen Fluss stakt gerade der greise Chiron die nächste Fuhre in seinem Boot. Hinter ihm – am anderen Ufer des Acheron – verhallt gerade das Gebell von Cerberus, dem dreiköpfigen Wachhund, der keine Lebenden hinein lässt und keine Toten hinaus.
„Mh, wohin soll ich euch denn hin bringen, euch drei Brüder, mh? Sollen wir in den Styx abbiegen oder wollt ihr doch lieber von Lethes Wasser kosten?“
Eigentlich hatte er die Frage nicht wirklich an seine drei Fahrgäste gerichtet. Die sitzen nämlich völlig apathisch in seiner Fähre, kopfschüttelnd in einem fort. Sie hätten gerne den Wunsch ihres Vaters Agenor erfüllt und ihre Schwester Europa gefunden. Dass sie alle drei bei ihrer Suche so jung schon sterben mussten, hätten sie nicht für möglich gehalten – zumal doch Poseidon der Vater ihres Vaters war. Jetzt möchten sie nur noch vergessen, vergessen.
Als habe Chiron ihr Wünschen belauscht, gibt er sich dann selbst die Antwort auf seine eigene Frage:
„Klar, ihr wollt vergessen. Also zu Lethe, kein Problem.“
Und schon biegt er ab. Lethe ist viel schmaler als der Acheron und kälter. Die drei fahlgesichtigen Brüder lassen ihre Hände ins eiskalte Wasser gleiten. Sie spüren die Kälte nicht, ihnen entgeht auch, dass am steinigen Ufer zwei winkende Gestalten stehen, die aus Leibeskräften lautlos rufen und rufen. Mit den Händen schöpfen die drei Fährgäste nun das kalte Nass und trinken es lustlos und selbstvergessen, bis gar nichts mehr in ihren Erinnerungen übrig bleibt. Gar nichts. So erkennen sie auch nicht ihre Eltern, die da zufällig aufeinander stoßen und winkend stehen und inzwischen vergessen haben, dass die drei Neuen ja auch Namen hatten.
„Warum winkst du so hektisch“, fragt Agenor die Fremde, seine Frau, „was gehen dich diese jungen Männer da im Boot denn an?“
„Es war mir, als hätte ich sie schon einmal gesehen!“ erwidert Telephassa vom Winken müde geworden.
„Was wohl unsere Kinder in Sidon – oder wo war es gewesen – jetzt machen?“ fragt sie leise.
„Kinder, welche Kinder? Ich würde lieber diesem Unhold von König Ufroras von Assyrien ein zweites Mal begegnen, damit ich ihn…!“
„Was redest du denn da? Mein Mann, der König, hat mich umgebracht. Frag doch lieber Chiron, wer seine neuen Fahrgästen sind!“
„Frag doch selber!“ zischt Agenor zurück.
„He, ihr zwei, was winkt ihr denn so unbeholfen um die Wette, hä?“ ruft da Chiron im Vorüberfahren, während die drei Brüder weiter das kalte Wasser schlürfen und völlig uninteressiert ins Leere starren.