31 Mrz

YRRLANTH – Historischer Roman II – Blatt 172 – Leseprobe

Julianus kühne Wendung in eine ungewisse Zukunft.

Der jähe Tod von König Chlotar liegt nun schon zwei Wochen zurück. Julianus‘ Gewaltritt nach Arelate war zwar gefährlich und anstrengend gewesen, aber er hatte die richtige Entscheidung getroffen. Gerüchte liefern abenteuerliche Hintergründe: Berowulf, der Vormund der Söhne des Königs, soll seine Hand im Spiel gehabt haben. Von Julianus redet niemand, auch der Name Bordov fällt in keiner der vielen Erzählungen vom Königsmord.

Jetzt sitzt er mit seinen Verwandten im Atrium der Villa in Arelate und hört einfach nur zu:

„Die Zeiten haben sich geändert, wir als Senatsfamilien müssen unseren Einfluss besonders den Comes Civitatis gegenüber besser geltend machen.“

„Nein, Gaius, viel wichtiger ist es meiner Meinung nach, als viri sacerdotales aufzutreten und frei werdende Bischofssitze zu erobern.“

„Da müsste man aber zumindest getauft sein – und zwar nicht arianisch!“ meldet sich Julianus nun doch zu Wort. Großes Gelächter lässt das weite Atrium fast beben.

„Gut, gut, mein Freund!“ erwidert der Hausherr und Senator, Fabricius, gut gelaunt, „also, lass dich taufen und schon steigen deine Chancen rapide in Lutetia.“

Julianus hebt abwehrend beide Arme und Hände.

„Gott bewahre, Gott bewahre!“

„Welchen Gott meinst du denn, Julianus?“ und wieder ist das Gelächter groß. Die Männer in der Runde wissen, dass ihr Reichtum und ihr Einfluss den Fluss rauf und runter ihnen alle Türen öffnen, seien es nun Ämter an der Seite der Grafen, seien die neuen Hausmeier-Posten oder eben die einflussreichen Bischofsämter.

Julianus staunt über sich selbst in diesem Moment: Er meint sogar seinen Vater flüstern zu hören: Warum denn nicht mein Sohn? Du bist nicht nur gebildet, ein fähiger Truppenführer und ein erfolgreicher Verwalter einer großen Villa, nein, du könntest auch noch mehr als das, glaub es mir, mein Sohn! Warum denn nicht, denkt er nun selbst.

„Würdet ihr denn meine Bewerbung um das vakante Bischofsamt in Divodurum Mediomatricorum unterstützen?“ Julianus weiß selber nicht, wie er auf diese Idee kommen konnte. Bischof Arnulf jedenfalls ist hingerichtet, der Bischofssitz seitdem vakant. Da wird es plötzlich still im Raum. Blicke von Mann zu Mann. Die doch so stolzen Römer wittern Morgenluft. Sie müssen neue Verbündete, neue Ämter, neue Felder für sich gewinnen. Den Franken gegenüber, die immer noch nicht lesen und schreiben können – das müssen nach wie vor die Mönche für sie erledigen – muss ein neues römisches Selbstbewusstsein entwickelt werden. Jetzt! Alle spüren den k a i r o s :

„Das könnte der Anfang einer neuen Epoche für uns alle werden, Julianus – ich jedenfalls werde dich unterstützen!“ platzt es aus seinem Onkel, Gaius Mersatorius, heraus. Da gibt es kein Halten mehr im Raum. Alle stürmen auf Julianus los, wollen ihm die Hand reichen, ihm ihre Unterstützung zusagen. Julianus aber schwankt hin und her: Soll ich, soll ich nicht? Wie konnte ich nur solch eine Frage stellen?

Später – er hatte sich einen Tag Bedenkzeit erbeten – sitzt er in der großen Bibliothek seines Onkels, um in Xenophons ANABASIS zu lesen. Könnte der sein Vorbild sein? Philippus hatte öfters bei der gemeinsamen Lektüre zu Hause sehr lobend über Xenephon gesprochen: Wie dieser über sich hinaus gewachsen sei. Wie er nach der Schlacht bei Cunaxa über Nacht zum Führer der 10 000 griechischen Söldner wurde und sie in sehr entbehrungsreichen Märschen bis zum Schwarzen Meer führte. Und wie er damals bei der gemeinsamen Lektüre mit seinem Lehrer getadelt wurde: „Julianus! Was starrst du so die Götter an den Wänden an? Du bist nicht bei

der Sache!“ „Oh, verzeiht mir Philippus, ich sehe gerade weder Dionysos noch Apoll, ich stelle mir nur vor, wie die erschöpften Truppen überglücklich endlich das Meer sehen und immer wieder rufen: Thalata, Thalata!“ Auch Xenophon wurde in einer scheinbar ausweglosen Katastrophe zum jungen Führer, der wieder Hoffnung zu verbreiten vermochte. Vielleicht stehen auch mir noch ganz andere Tage bevor als dieser scheinbar unaufhaltsame Abstieg der Senatorenfamilien im noch ungefestigten fränkischen Königreich. Vielleicht wäre da die machtvolle Stelle eines Bischofs von Divodurum der Schlüssel zu einer Wende seines Schicksals – jetzt nach dem erschütternden Mord an seinem Vater und dem verdienten Ende des Königs.

Unbemerkt rinnen ihm Tränen die Wangen herunter. Draußen jubilieren die Grillen, als gäbe es etwas zu feiern. Langsam wächst der noch vor Tagen unvorstellbare Plan in seinem müden Kopf. Ich muss mich also taufen lassen. Ich muss die Menschen in den beiden Pachthöfen, die schon auf meiner Seite stehen, zu meiner Schutztruppe machen. Ich werde zwischen Divodurum und Lutetia hin und her pendeln müssen, werde mich dem neuen König unentbehrlich machen, werde die alten Götter weiter an meiner Seite wissen und gleichzeitig die Texte der Apostel lesen, um mit christlicher Denkweise vertraut zu werden.

30 Mrz

Europa – Meditation # 387

Muss erst ein fremder König kommen?

Das geschichtsträchtige, hohe Haus in Berlin hat hohen Besuch: ein alter König hält eine Rede in zwei Sprachen, die jeder verstehen kann – so klar, so schnörkellos, so konkret.

Und wenn man bei dieser Rede in die Gesichter der deutschen Zuhörer schaut, dann spürt man bei vielen, wie schwer es ihnen fällt, freundliche Worte, Komplimente und Humor gut finden zu wollen.

Denn der Alltag in diesem reichen, erfolgreichen und stolzen Land ist viel mehr gekennzeichnet von schlechter Laune, von kränkelnder Anspruchshaltung und Besserwissertum.

Und da stellt sich doch tatsächlich ein König aus England ans Rednerpult, lobt das Gastland über die Maßen, erinnert an gemeinsame Anstrengungen, Freiheit und Wohlstand auf einen Nenner zu bringen, solidarisch jedem Gegner gegenüber zu sein, der sich solchen Werten kriegerisch entgegen wirft.

Und mit Humor den biederen Alltag zu bereichern, aber vor allem auch gemeinsame Anstrengungen anmahnt, um diesem Planeten, dem mehr und mehr die Puste auszugehen droht, noch eine lebenswerte Chance zu geben.

Der Regenbogenpresse wird diese Rede sicher gar nicht schmecken: Familienranküne oder Neid und Missgunst kommen einfach nicht vor, lösen sich angesichts der großen gemeinsamen europäischen Aufgaben in nichts auf.

Mit Ernst und unmissverständlich wird der Kraftanstrengung gedacht, die nötig war, um Europa von den Deutschen zu befreien, die jenseits europäischer Werte sich breit zu machen versuchten.

Und der nun da steht und sich nicht lange an alten Rechnungen abarbeitet, sondern optimistisch eine gemeinsame europäische Zukunft im Auge hat, die nur als gemeinsamer Kraftakt in Sachen erneuerbare Energien zu bewältigen ist.

Wie einfach und klar doch die wichtigen Themen besprochen werden können! Wie peinlich doch demgegenüber das laute Gehabe der aufgeregten Nörgler und Besserwisser wirkt, das Tag für Tag die Medien abends den Deutschen ins Wohnzimmer spielen!

Und kaum haben sie das Hohe Haus palavernd verlassen, fallen sie wieder in ihre alten Muster von schlecht gelaunten Scharfdenkern, denen es um nichts als die Sache geht!

22 Mrz

Archäologie des eigenen Lebens – AbB – Leseprobe # 76

Schürfungen, Reste, Nachträge.

Wenn der harte, metallene Speitel des Grübelns unbarmherzig über die oberste Schuttschicht unserer Lebenskreise kratzt, dann kommt meistens nichts Überraschendes zutage. Erst wenn man kleine, feine Sonden in tiefere Schichten hinablässt, könnte man fündig werden: Verkrustet, verformt, verrostet. Erinnerungsflöze, deren Reichtum leichtfertig übersehen wurde. Als Reste klein geredet, statt als Schätze geschätzt.

So viele Plätze auf dieser Welt haben ihn gesehen: Salamanca, Siena, vor der Union in Ann Arbor, am Strand von Negril, in Lower Waterford, am Fallen-Leaf-Lake, auf dem Cadillac Mountain, in Kyoto, Chandigarh und Toronto-Island, in Boulder und in Lander, Wyoming oder vor der Faneuil-Hall in Boston und neulich erst in Kopenhagen, auf Usedom und im Sarcow-Park, von Brasilia mit Blick auf die Pyrenäen ganz zu schweigen – oder Vezelay und Fontenay oder die drei Schwestern in der Provence oder im Lake District. Wenn nichts verloren geht, dann wird man auch dort noch fündig werden, wenn man wollte. An all diesen Orten herrscht gerade jetzt reges Treiben oder stilles Ruhen. Ob Vögel dort nisten oder Chipmonks bizarre Wettrennen veranstalten, ob Regentropfen von jungen Blättern fallen oder eine Bettlerin ihre Hand ausstreckt, niemand wird ihn dort vermissen, niemand. Lautlos blättert die Zeit in ihren Journalen und wirft lange Schatten auf all die Winzlinge, die jemals an solchen Orten auftauchten und wieder verschwanden. Wer nennt die Namen, kennt die Herkunft? Gleichgültig schmunzelt der Hauch, der gerade darüber weht, die Fragen weg. Wozu?

Es ist doch nur immer der Augenblick, der flüchtige, der die gesamte Fülle des Ortes dem Betrachter anbietet. Hat er es überhaupt bemerkt? Hat er seine Sinne darüber fahren lassen, ist er eingedrungen in die tiefer führenden Gänge selbstvergessener Schönheiten fliegender, flimmernder Staubteilchen? Und nimmt er es mit, bewahrt er es auf, kann er sich später noch erinnern? Aber an was wird er sich dann erinnern beim Erinnern daran?

Schon ist es vorbei. Der nächste Augenblick lässt schon nicht mehr an den vorhergehenden denken. Verflogen, zerstoben, weg.

Und wenn dann eben derselbe erneut Nachträge anschleppt, was werden sie beitragen können zu jenen üppigen Augenblicken? Einbildungen, Andeutungen, Wunschbilder. Irrtümer.