Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 162
Europa will das Orakel des Baal in Sidon befragen.
Chandaraissa ist noch immer verwirrt: Wer waren die beiden fremden Männer? Was sollten diese Schmeicheleien?
„Europa, was meinst du zu den beiden? Meinst du, dass sie wirklich aus Phönizien gekommen sind?“
„Chandaraissa, mir gehen gerade so viele Gedanken fast gleichzeitig durch den Kopf, dass ich gar nicht sagen kann, was ich davon halten soll.“
Die beiden Freundinnen reden lange miteinander. Als sie sich ermüdet endlich trennen wollen, meldet ihnen eine der jungen Priesterinnen einen Boten, der dringende Botschaften aus Sidon habe.
„Ein Bote aus Sidon?“ Europa hat kein gutes Gefühl, als sie es hört. Aber Chandaraissa drängt sie, den Boten zu empfangen.
Fast bis zum Boden verbeugt er sich, sein langes, wallendes Haar verdeckt dabei völlig sein Gesicht. Die beiden Freundinnen können ein Lachen kaum unterdrücken.
„Nun, Bote, was führt euch zu mir?“ fragt Europa streng.
Und als dieser sich nun erhebt und die beiden Frauen unterwürfig anschaut, kommt Europa völlig überraschend die Idee, Athanama rufen zu lassen. Vielleicht kennt sie ja den Boten.
„Ich komme vom Tempel des Baal in Sidon. Das Orakel dort erwartet euch. Es habe wichtige Botschaften für euch und eure Söhne.“
Fast wie ein wirklicher Schmerz fährt es ihr da durch Mark und Bein. Sie hält die Luft an, dreht sich zu Chandaraissa und flüstert ihr ins Ohr:
„Liebe Freundin, lass schnell Athanama rufen – vielleicht kennt sie den Boten. Vielleicht ist es eine Falle!“
Die Hohepriesterin lächelt den Boten freundlich an, damit der keinen Verdacht schöpft. Mit einladender Geste wendet sie sich dann an den fremden Mann aus Sidon:
„Du musst müde und erschöpft sein – nach der langen Seereise. Folge uns doch in den innenhof, dort werde ich für dich Speisen und Getränke auftischen lassen. Dann hören wir gerne mehr von deiner Botschaft, komm!“
Breit grinsend lässt sich der Bote das nicht zweimal sagen und folgt den beiden Freundinnen zum Innenhof vor dem Tempel der großen Göttin. Unterwegs gibt Chandaraissa den neugierigen Priesterinnen leise Anweisungen, und als sie nun im Schatten eines großen Sonnensegels auf weichen Kissen Platz nehmen, bringen junge Frauen bereits große und
kleine Gefäße, Platten mit frischem Brot, Krüge zum Trinken und stellen alles vor die drei auf einem kleinen Teppich ab. Die Hohepriesterin lädt den Boten ein sich zu setzen, was der natürlich nur zu gerne tut. Wie zufällig stehen die jungen Priesterinnen hinter den dicken Säulen, die den Innenhof umgeben, und tun so, als seien sie in wichtige Gespräche mit ihren Freundinnen vertieft. Manchmal weht eine kühle Brise ihr Kichern über den Hof, es mutet völlig normal an, obwohl alle ziemlich gespannt sind, was der Bote noch alles zu sagen hat.
„Da eure Eltern verstorben und eure Brüder verschollen sind…“ lautes Tuscheln macht da die Runde zwischen den Säulen, der Bote macht eine bedeutsame Pause, um das Gesagte so richtig wirken zu lassen.
Als Europa das hört, verschlägt es ihr die Sprache: Woher weiß er das alles?
Chandaraissa legt tröstend eine Hand auf Europas Schulter, da hören die beiden aber auch schon, wie der Bote fortfährt:
„habe Baal, der große Gott von Sidon mit seiner Frau, der Göttin Astarte, ihre schützenden Hände über die Waise gelegt und über das Orakel sagen lassen:
„Europa, komm her zu uns, wir wollen dir helfen!“
Da kommt Athanama gelaufen. Sie ist nicht im Bilde, was hier gerade vor sich geht, sie kennt noch nicht den Grund, warum die Hohepriesterin sie hat rufen lassen. Aber sie erkennt sofort den Fremden, lässt es sich aber nicht anmerken. Europa winkt sie zu sich und lädt sie ein, Platz zu nehmen. Für die jungen Priesterinnen hinter den Säulen wird es ein immer spannenderer Abend; doch da erhebt sich die Hohepriesterin und ruft laut in den Hof hinein:
„Ab in eure Schlafzellen, verrichtet eure Gebete und ruht euch aus, ab!“ Dabei klatscht sie laut in die Hände. Wie eine Schar aufgeregter Gänse flattern sie in ihren wallenden Gewändern schmollend davon. Schade aber auch! Was hätte es da noch alles zu hören gegeben!
Flüsternd erzählt Chandaraissa Athanama, was der Bote gerade zu Europa gesagt hat und Athanama verrät der Hohenpriesterin, dass sie den Boten aus Sidon kennt.
Wie von einem Blitz getroffen ist Europa plötzlich wieder hellwach und hat auch schon eine Entscheidung getroffen, von der sie nicht einmal weiß, wie sie in ihr zustande gekommen sein könnte.
„Ich danke dir!“ antwortet Europa dem Boten schließlich, „Ich werde noch in dieser Woche mit meinen beiden Söhnen nach Sidon aufbrechen.“