21 Jun

AbB – Neue S e r i e Blatt # 7

Der längste Tag im Jahr.

War nicht gerade eben erst der kürzeste Tag im Jahr? Die Erdlinge, neugierig, wie sie schon immer sind, wollen Tag und Nacht mit aufregenden Geschichten versorgt werden. Und die Medien, atemlos unterwegs, tragen zusammen, was wahr, wahrscheinlich oder auch nur naheliegend sein könnte.

Da wirklich saure Gurkenzeit in Sachen Fußball angesagt ist, wird unvorstellbar Exterrestrisches oder drohende Erdkernglut serviert. Werden wir vielleicht dieser Tage Zeugen eines Sternentodes werden? Als Supernova scheint da etwas zu bestaunen zu sein – viel schwerer und größer als unsere Sonne – (da holt aber jemand einen Super-Superlativ aus der hohlen Hand, wow!) – was sich vielleicht schon vor langer Zeit ereignet hat. Auch Lichtgeschwindigkeit braucht eben seine Zeit!

Wer aber keine Lust auf Sternenhimmel-Spektakel im Großformat hat, der kann sich das Gruseln auch beim Beobachten der Phlegräischen Feldern holen, denn wenn da tatsächlich – so direkt vor der eigenen Tür – der nächste große Vulkanausbruch bevorstehen sollte, dann packen wir am besten schon mal alles zusammen, um auch die besten Bilder davon schießen zu können.

Ein Tauchgang zum Titanic-Wrack wird dagegen geradezu ein kleiner Spaziergang unter Wasser – im mare nostrum sozusagen – schließlich kennen die fünf sich ja bestens aus, haben eine Menge dafür bezahlt und können auch von anderen außergewöhnlichen Abenteuern berichten, eventuell. (Dabei ist die Tiefsee nach wie vor ein einziges Rätsel für die Erdlinge – von „unserem Meer“ zu reden reinste Hybris, sonst nichts.)

Und wenn schon die 500 Menschen im Calypso-Tief nicht zu retten waren,

da wollen wohl auch keine Retter Retter sein, dann doch bitte wenigstens die 5 von der Titan auf dem Weg zur Titanic retten. Das könnte doch wirklich an diesem längsten Tag im Jahr eine lange und spektakuläre Rettungsaktion werden, zumal Experten im Hintergrund leise ihre Expertisen durchreichen: Die kann man nicht retten. Das können wir noch nicht. Das Meer ist zu tief, der Wasserdruck zu hoch, die Dunkelheit zu dunkel, die Zeit für eine professionelle Planung viel zu kurz. Außerdem reicht der Sauerstoff nur noch bis morgen früh – vielleicht war der längste Tag des Jahres einfach lang genug.

Die Medien jedenfalls tun ihr Bestes, sind nah dran und halten uns auf dem Laufenden. Von wegen saure Gurkenzeit!

21 Jun

Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 163

Die Seereise nach Sidon wird zum Albtraum.

Arglos trifft Europa ihre Vorbereitungen. Sie bespricht die Reise, zu der ihr der Fremde rät, weil das Orakel von Sidon anscheinend eine Botschaft für sie hat. Sie bespricht sich mit Chandaraissa, der Hohenpriesterin, dann auch mit Berberdus, dem Vorsitzenden des Rates der Alten. Alle unterstützen sie in ihrem Plan. Berberdus sicher, weil er hofft, dass ihm vielleicht das Meer hilft, sie los zu werden. Und Athanama, ihre neue alte Freundin, möchte sie begleiten. Und Chaturo, der Kapitän des schnellen Seglers, will Europa gerne sein Schiff zur Verfügung stellen. Nur ihre Söhne, die halten gar nichts von diesem Plan.

„Mutter, was, wenn dahinter böse Geister stehen, die dir schaden wollen?“

„Wie kommt ihr denn darauf?“ fragt Europa entgeistert. An so etwas hatte sie nun überhaupt nicht gedacht. Dann kommt ihr eine Idee, die sie noch sehr bereuen wird:

„Begleitet mich doch, dann könnt ihr mir ja beistehen, falls Böses droht!“

Samadanthys und Parsephon sind sprachlos. Kurz wechseln sie Blicke, dann kommt gleich ihre Antwort:

„Natürlich, Mutter, natürlich, das machen wir gerne!“

Abends, im Haus des Pallnemvus, sitzen einige der Ratsherren zusammen und sind in ein erregtes Gespräch verwickelt:

„Unser Mann in Sidon muss unbedingt benachrichtigt werden!“

„Habe ich schon in Gang gesetzt!“ antwortet Zygmontis Gromdas leise.

„Entweder wird der Meeresgott sich einmischen oder eben unser Mann in Sidon.“

Zustimmendes Gelächter. Der Glanz in den Augen der Ratsherren glimmt wie giftiges Feuer, das sich durch alles hindurch fressen will.

„Wir werden sie doch noch los werden, ohne dass heraus kommt, wer nachgeholfen hat!“

Die alten Ratsherren nicken bedächtig vor sich hin. Sie fühlen sich wichtig, mächtig und als treue Diener ihrer Insel.

Dass die große Göttin aber weiter dafür sorgen will, dass die fast schon vergessene Botschaft vom Glück weitergegeben wird, kann den drei listenreichen Olympiern genauso wenig Freude bereiten wie dem Rat der Kreter. Sie wähnen sich in ihren Racheplänen an Europa auf Erfolgskurs. Heftige Winde stürmen von Hesperien her Richtung Osten, wild wogen Wellenberge gegen die zerklüfteten Küstenstreifen. Im Hafen – geschützt von hohen Wellenbrechern – schwanken die Segler an ihren Leinen.

Schon eine Woche später gehen sie an Bord der Boreia: Chaturo, der Kapitän, war schon am Vorabend vor Ort, kümmerte sich um das Vertauen der Vorräte, ließ frisches Wasser in hohen Krügen verstauen. Und im Abendsonnenlicht warf auch Zeus einen Blick auf seine Lieblingsinsel, auf der nun Europa alle Fäden in Händen hält. Leichter Nebel liegt über dem weiten Hafenbecken, als Athanama zusammen mit ihrer Freundin Europa vom Palast herunter kommen. Ihre Dienerinnen tragen Kisten mit Kleidern, Geschenken hinterher. Europas beide Söhne freuen sich auf die Reise und sind gut gelaunt mit Seesäcken bepackt auch unterwegs zur Boreia. Und Chandaraissa, die Hohepriesterin, will die Abfahrt ihrer neuen Freundinnen auf keinen Fall verpassen. Sie hatte am frühen Morgen noch vor dem großen Bild der großen Göttin für sie gebetet: „Schütze sie, leite sie und bring sie uns heil zurück!“ Sie hatte besonders viel Weihrauch in die großen Schalen geworfen. Der Duft machte ihr wunderbar schwindlig. Und auch die jungen Priesterinnen, die sie unterstützen durften bei diesem morgendlichen Gebet, atmen das schwere Aroma lustvoll ein.

Chaturo, der gerade in der Kapitänskajüte Athanama leidenschaftlich umarmt und küsst – seit Tagen mussten sie aufeinander verzichten – hatte seinen Leuten bereits den Befehl zum Ablegen gegeben. Heimlich schauten einige der alten Ratsherren dem Losfahren des Seglers grinsend zu: Hoffen wir, dass wir dieses Schiff nie wiedersehen müssen, denken sie dabei.

Als die Boreia nun aus dem Schutz des Hafens ins offene Meer gleitet, spüren alle an Bord auch gleich den hohen Wellengang. Starker Wind bläst weiter kräftig aus Hesperien kommend und reißt den Segler ordentlich mit. Chaturo muss auf volle Besegelung verzichten, aber auch so kommt das Schiff schnell, sehr schnell voran. Es neigt sich dabei ächzend zur Seite, fast gehen die Wellen an backbord über die Reling. Aber alle an Bord vertrauen auf ihren Kapitän und die Stärke der Boreia.

Stunden später – eigentlich müsste die Sonne hoch oben am Himmel stehen – türmt sich schwarzes Gewölk über ihnen auf, der Wind steigert sich zum Sturm, Blitz und Donner kommen dazu. Nun macht sich nicht nur Europa Sorgen. Da reißt das Vordersegel. Chaturo schreit Befehle in das Tosen. Alle an Bord versuchen sich gegenseitig zu stützen und zu halten. Jetzt rollen sogar Brecher übers Boot. Für Augenblicke scheinen alle unter Wasser zu schweben, dann können sie wieder atmen, spucken, husten. Aber schon folgt der nächste Schwall. Europa bereut es, ihre Söhne mit an Bord genommen zu haben. Droht ihnen allen jämmerliches Ertrinken?

20 Jun

Europa – Meditation # 401

Das Märchen vom Märchen.

Es läuft einem eiskalt den Rücken herunter: Deutschland. Ein Wintermärchen. Aber in beiden Fällen – bei Heinrich Heine und 2006 – geht es um die Umschreibung einer Wirklichkeit, die beileibe keine märchenhaften Züge hat.

Denn zur Zeit – trotz der zunehmenden Hitze – ist Kälte angesagt: Da allen mehr und mehr die Mittel ausgehen (weil die Inflation blüht und gedeiht, weil die Preise auf hohem Niveau Polka tanzen, weil Energiepreise aus dem Ruder zu laufen beginnen), läuft es den Menschen eiskalt den Rücken herunter: Wie sollen wir denn eine Ferienwohnung buchen, wie sollen wir die Energiepreise für den Winter wuppen, wie den Kita-Platz, die Ausbildung, das Studium finanzieren, wie die Schulden tilgen?

Und das Sommermärchen? Natürlich muss das, was da – meist spontan und nicht groß geplant – 2006 viele erleben durften, ins Reich der Märchen exportiert werden. Denn sonst könnten die begeisterten Menschen ja meinen, dass die Risse, die durch die Eigentumsgesellschaft klaffen, gar keine natürlichen Verwerfungen sind, sondern bloß schlechte Gewohnheiten, die Menschen in künstliche Sektoren pfercht.

Da standen doch tatsächlich wildfremde Menschen aus unterschiedlichsten sozialen Welten zuprostend nebeneinander, fachsimpelten fleißig und hitzig, lachten frei von der Leber weg und duzten sich auch noch einfach so. Und kamen wieder. Knüpften an die Gespräche vom Vortag an, tranken Bier und lachten schon wieder um die Wette. Man hatte ein Thema, man nahm Stellung. Männer wie Frauen. Es war kein Märchen, es war lediglich märchenhaft angenehm, unterhaltsam und bis dahin unvorstellbar.

Was könnte man daraus lernen (wenn es nicht umgehend zu einem Märchen verniedlicht worden wäre?)?

Dass die materiellen Unterschiede nicht zu sozialen Ghettos mutieren müssen, dass der homo sapiens stets derselbe bleibt und viel Hass und Gewalt heraus genommen werden könnten, wenn nicht fleißig an mentalen Betonmauer gearbeitet würde. Und dass in kleinerem Rahmen – das Viertel, der Kiez – sozialer Austausch lebendig und respektvoll gelebt und gepflegt werden könnte. Der Sommer 2006 ist ein gutes Beispiel dafür. Und gerade deshalb wird es immer wieder zu einem Märchen verunglimpft, Weil inzwischen -die Eigentumsgesellschaft erzeugt über materielle Fakten soziale Gräben – immer weniger immer mehr von diesem Ghetto-Denken profitieren. „Erzähl mir doch keine Märchen!“