12 Okt

Europa – Meditation # 418

Herrschaft des Volkes ? (Teil III von III)

Schon im Kindergarten wird die Erziehung unter dem hehren Motto: „Erziehung zur Selbstständigkeit“

inszeniert, damit nach Schule, Ausbildung oder Studium der kritische und unabhängige Bürger seine Entscheidungen unabhängig und frei zu fällen weiß. Nur im Konzept der repräsentativen Demokratie soll er hinter die Repräsentanten zurücktreten, da diese seine Interessen professioneller vertreten würden als er selbst – wegen der Sachkompetenz.

Was aber könnte gegen die „Verdrossenheit des Wählervolks“ besser helfen als die Eigeninitiative, die direkte Teilhabe?

Die aus der Geschichte erklärte Skepsis gegen Plebiszite – Manipulation der Bürger durch Propaganda – kann ja heute nicht mehr gelten, weil die Bürger ja zu kritischen und selbstständigen Entscheidern erzogen werden.

Nehmen wir das Beispiel Bildung.

In allen Bundesländer beklagen sich die Eltern, dass die Kultusbürokratie die Eltern-Teilhabe auf Anhörungen beschränke, die aber nur ein Stillstellen zu beinhalten scheine, damit alles beim Alten bleiben könne.

Was wäre aber, wenn spontan alle Eltern schulpflichtiger Kinder sich solidarisch am nächsten Montag auf einem Autobahnkreuz träfen und zu Tausenden den gesamten Verkehr lahmlegten – so lange, bis die jeweilige Landesregierung zustimmt, den Anteil der Gelder für Bildung von derzeit 4,3% (OECD Durchschnitt liegt bei 4,9%°!) auf 5,0% anzuheben. Man werde so lange dort campieren, bis die Zusage der Länder vorliegt?

Das Polizeiaufgebot und die Kapazitäten in Gefängnissen würden in keiner Weise ausreichen, eine derart ungehorsame Elternschaft abzuräumen.

Was wären die Folgen?

Einmal ein wunderbares Gefühl von Solidarität – zwischen Eltern und Kindern und Eltern und Eltern – und das märchenhafte Erlebnis der Macht des Volkes im Jahre 2023, wo doch eigentlich Verdrossenheit, Zynismus und Populismus feste feiern dürfen. Das Erlebnis des sogenannten Sommermärchens wäre nichts dagegen!

Was wäre aber, wenn dieselben Eltern gemeinsam fordern würden, in Zukunft plebiszitär – auf regionaler Ebene – alle Entscheidungen in Sachen Bildung, Mobilität und medizinischer Versorgung mittragen zu wollen?

Den etablierten Parteien liefen – wie derzeit den Kirchen auch – reihenweise die Mitglieder davon, weil die Bürger deren Seilschaften nicht länger ertragen wollen und müssen.

11 Okt

Europa – Meditation # 417

Herrschaft des Volkes? (Teil II von III)

Nun hatten die Deutschen 74 Jahre Zeit dem verordneten Demokratie-Modell Eigenleben einzuhauchen. Hüben wie drüben – und seit 1990 sogar völlig unvorbereitet wiedervereint. Und wieder keine Nationalversammlung zum Beginn!

Verständlich, dass sich die meisten zuerst – nach 1945 – lieber mit Wiederaufbau und Schweigen beschäftigten als mit Demokratie „Leben“- sollten die gewählten Vertreter doch mal zeigen, was sie so drauf haben! Alle vier Jahr können sie seitdem per Abstimmung dazu ihren Kommentar abgeben: Gut gemacht, schlecht gemacht, denen werde ich es aber zeigen…

Inzwischen aber macht sich Verdrossenheit breit.

Wie aber konnte sie sich stekum ins demokratische Gefüge einschleichen?

Nicht zuletzt durch die medial ritualisierten Abläufe der Parteienherrschaft.

Könnte ein kleines Beispiel für diese großen Institutionen (Parteien, Verbände, Lobbies) nicht auch die studentischen Verbindungen sein, die an den Universitäten und später im Karriereplan mit ihren S e i l s c h a f t e n eine unsichtbare, aber sehr effektive Rolle spielen? Auch da ist nicht die fachliche Kompetenz entscheidend, sondern den Ausschlag geben die Beziehungen der alten Herren. So werden die Söhne bequem weitergereicht. Statt Wissen und Können setzen sich Begünstigung und sogenannte informelle Freundeskreise durch. Subkutan sozusagen.

Wäre das vielleicht der Einstieg in eine Analyse dieser Verdrossenheit der Demokraten, die zwar alle vier Jahre autonom wählen dürfen, die aber gleichzeitig wissen, dass unterhalb dieser Wahlen der Zusammenhalt derer, die sich als loyale Sachwalter der Interessen ihrer Wähler brüsten, unverändert weiter besteht und leise weitergegeben wird – ganz gleich wie die Wahlen jeweils ausgehen?

Und könnte das nicht die schwer fassbare Ohnmacht des Wahlvolkes in den Blick bekommen?

Ist es nicht ein kluges Argument, dass man für die komplexen politischen Probleme eben extrem spezialisierte Fachleute brauche? Dass der Bürger eben nicht über dieses Fachwissen verfüge? Müsse er nicht geradezu dankbar sein, dass ihm dieses undankbare Geschäft von kompetenten Frauen und Männern abgenommen werde?

Die großen Volksparteien aber zerbröseln von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Der Wähler glaubt diesem Muster wohl nicht mehr. Sollte man ihm deshalb nicht besser ordentlich Angst machen, dass er bei der Stange bleibt?

10 Okt

Europa – Meditation # 416

Herrschaft des Volkes? (Teil. I von III)

Demokratie – ein Mythos, fast so alt wie der von Europa. Fast. Aber wie jeder Mythos hat er etwas Geheimnisvolles, fast Sakrales. Und so wie der Mythos von Europa auf einer Gewalttat eines Mannes an einer Frau beruht, so der von der Demokratie auf einer Lüge – oder zumindest auf einer peinlichen Ungenauigkeit, bzw. leichtfertigen Verallgemeinerung: Denn in dem Stadtstaat Athen, wo dieser Begriff auf der Taufe gehoben wurde, herrschte nun wirklich nicht das gesamte Stadtvolk, sondern lediglich die besitzenden männlichen Patrizier-Schicht. Von Frauen (Sklaven galten ja sowieso nicht als Menschen, sondern als Werkzeuge – nach Aristoteles) ganz zu schweigen.

Und so bleibt es denn auch in der Antike. Auch die italienischen Stadtstaaten der Renaissance sind in diesem Sinne alles andere als Demokratien. Stattdessen liefert ein gewisser Macchiavelli das geistige Gerüst für die Legitimität staatlicher Gewalt gegen innere wie äußere Feinde – notfalls, versteht sich.

Und in der Neuzeit?

In den sogenannten Neuengland-Staaten kommt es dann zu einem neuen Demokratie-Mythos: Er steht in der Tradition der antiken Vorbilder und stellt sich fest, dass die wohlhabenden Bürger und Adligen, die aus Europa in die „Neue Welt“ ausgewandert waren, gottgewollt und von den volljährigen Männern (Frauen und Sklaven „natürlich“ wie in der Antike ausgeschlossen) zum Wohle der Allgemeinheit agieren dürfen – auf der Basis eines Zensuswahlrechts, klar.

Und in der Französischen Revolution dient das amerikanische Modell als Vorbild und Muster, das aber bald schon wieder von einem Kaiser kassiert wurde.

Erst im nächsten Jahrhundert soll in Europa ein neuer Versuch mit dem Mythos Demokratie angeschoben werden – der Traum von der Teilhabe, Mitwirkung und zumindest indirektem Einfluss: Die Weimarer Republik. So sind auch 1933 unter den Wählern, die die NSDAP wählen, Frauen gewesen.

Dann aber – nach dem Zweiten Weltkrieg – verordnen die mächtigen Sieger den deutschen Frauen und Männern gleich in zwei Varianten ein repräsentatives Demokratie-Modell, das alles bisherige in den Schatten stellen sollte.

Eine Nationalversammlung hat es aber weder 1949 noch 1989 gegeben.

(in Teil II wird es um den Frust gehen, der mittlerweile eingekehrt ist)