Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 169
Ohne Wasser und Brot gestrandet, allein.
Chaturos Stimme holt Europa aus ihrem Alptraum, in dem sie gerade fest hing. Sie versucht ihre von Sand und Salz verklebten Augen zu öffnen. Vielleicht bilde ich mir die Stimme auch nur ein, denkt sie verzweifelt. Aber da hebt Chaturo schon vorsichtig ihren Kopf hoch und redet eindringlich auf sei ein:
„Europa, mach die Augen auf! Komm! Wir haben überlebt!“
Nach und nach schaffen es ihre Lider, Licht in ihre grünen Augen fallen zu lassen. Stöhnend und von Angstschüben geschüttelt starrt sie nun in das freundliche Gesicht des Kapitäns.
„Wo sind wir, wo sind die anderen, was ist aus dem Schiff geworden?“ flüstert sie zwischen ihren aufgesprungenen Lippen heraus. Chaturo lacht.
„Na, wenn du so viele Fragen auf einmal stellen kannst, bist du ja richtig lebendig, trotz allem!“
Europa versucht zu lächeln. Aber es will ihr nicht gelingen. Zu groß ist die Angst, dass ihre Söhne, dass Atawima ertrunken sein könnten. Schwer geht ihr Atem, Chaturo hilft ihr, sich in eine Sitzstellung zu bewegen. Dabei brennt ihnen die Sonne auf die Haut, trocknet ihre Gewänder. Dazu ein warmer Wind, der sie zu streicheln scheint.
„Bitte, sag, sag, was los ist, bitte!“ ist alles, was sie zustande bekommt.
Wenn sie Chaturo zugehört hätte, hätte sie verstanden, dass alle überlebt haben, aber sie hatte nur die Stimme gehört, hatte nicht auf die Worte geachtet.
„Komm, Europa, komm, ich bringe dich zu ihnen. Sie sind ganz in der Nähe.“
Europa meint, unendlich müde zu sein. Ihre Beine bleischwer, ihr Herz noch schwerer. Chaturo hilft ihr hoch, hält sie mit einem Arm um ihre Hüfte halbwegs aufrecht. Und so stolpern sie zwischen Felsbrocken, Binsenbüschen und Sandmulden – mit der brennenden Sonne nun im Rücken – in die Richtung, in die Chaturo gezeigt hatte. Das Licht, das Licht, die Göttin. Europa bekommt keinen klaren Gedanken zusammen.
Jetzt sieht sie vor sich jemand winken. Wer ist das?
„Europa, Europa, Freundin, wir leben!“ ruft Atawima ihr entgegen. Europa gelingt nur ein gequältes Lächeln. Wo sind ihre Söhne? Diese unbeantwortete Frage sprengt ihr fast das Hirn. Wo? Die Angst in ihr lässt es nicht zu, die Frage zu stellen.
„Sadamanthys und Parsephon sind gerade unterwegs, sie suchen Wasser!“ ist das nächste, was sie hört und sie endlich erlöst: Sie leben! Oh, große Göttin, du hast deine Hand über uns gehalten, uns gerettet, betet sie still.
„Chaturo, wo sind deine Leute?“
Während Atawima Europa hilft, sich in den warmen Sand zu setzen, breitet Chaturo verzweifelt seine Arme aus, schüttelt den Kopf, seufzt tief auf:
„Ach, Europa, die Guten, die Tapferen! Sie haben versucht, die Borea vor dem Sinken zu retten. Dabei sind sie alle mit untergegangen, alle!“
Europa weint, Atawima auch, selbst Chaturo kommen die Tränen. Was für ein Schicksalsschlag für sie alle, was für ein Unglück!
„Mutter, Mutter!“ Europa hört Parsephons Stimme und winkt erleichtert in seine Richtung. Die Zwillinge kommen auf sie zu, knien nieder, umarmen Europa. Aber auch sie sind völlig erschöpft, durstig, hungrig, müde.
„Habt ihr kein Wasser gefunden?“ fragt Chaturo in das einsetzende Schweigen hinein. Die beiden schütteln nur ihre Köpfe.
„Wo sind wir denn überhaupt an Land gespült worden?“ fragt Atawima Chaturo.
„Ich bin mir nicht ganz sicher, aber es könnte die Insel der Aphrodite sein!“
„Dann lasst uns zu ihr beten, bevor wir uns auf die Suche nach Wasser oder einer kleinen Siedlung machen!“ will Atawima den Verzweifelnden Mut machen. Chaturo hat schon öfter an der Insel Halt gemacht, aber er weiß auch, dass hier im untersten Südwesten der Insel niemand wohnt, niemand.
Hätten wir doch nicht zu dem Orakel nach Sidon reisen sollen, fragt sich insgeheim Europa, hätten wir einfach mutig…Da spricht sie Parsephon leise von der Seite an:
„Mutter, hast du dich nie gefragt, ob dieser Bote aus Sidon vielleicht gar keine Bote aus Sidon war?“
Europa zuckt zusammen. Doch ganz kurz hatte sie auch diesen Gedanken gehabt, ihn aber gleich wieder verworfen. Sie wollte es einfach glauben, sie wollte zurück in ihre Geburtsstadt. Jetzt wird sie vielleicht für diese eigensinnige Entscheidung bestraft. Warum hat die große Göttin denn ihre Hand von mir zurückgezogen, warum? Wie soll sie denn jetzt ihrem Sohn antworten?
„Wir müssen unbedingt eine Wasserstelle finden, wir verdursten sonst!“ erwidert sie Parsephon. Der ist völlig überrascht. Warum beantwortet sie nicht seine Frage? Hätte sie sie vielleicht mit ja beantworten müssen?
„Du hast Recht, Mutter, wir müssen unbedingt eine Wasserstelle finden“, antwortet er ihr und schließt wieder zu seinem Bruder Sadamanthys auf.