Europa – Meditation # 232
Ein historischer Moment des Umbruchs?
(Gedanken entlang der Lektüre von Philipp Bloms „Das große Welttheater“)
Was für eine Frage! Als wären wir Archimedes, der den Punkt im Äther gefunden hat, um die Welt aus den Angeln zu heben. Dabei sind wir doch weiter nichts anderes als Laien-Artisten in der Zirkuskuppel ratlos. Wir wollen es nur nicht zugeben.
Jetzt, da vier Jahre Jahrmarkt in den USA vorbei sind, sollten wir Europäer nicht einfach so tun, als wäre aller wieder gut, weil unser großer Freund uns erneut die Hand reicht. Gerade wegen der Pandemie gilt es, sich völlig neu „aufzustellen“, wie man das ja heutzutage blumig zu umschreiben hat.
Nutzen wir dazu einfach einmal die Gedanken von Philipp Blom aus seinem neuen Buch „Das große Welttheater“.
Früher, im alten Athen, schauten sich die Menschen auf Staatskosten an drei Tagen drei Theaterstücke an und zum Schluss dann noch eine Farce oder Posse. Die gab es diesmal frei Haus als Vorspiel und viele sind sicher froh, dass es vorbei ist, das Trampeletheater.
Für ein erstes Drama schlägt Blom vor, zur Zeit von einem Kollaps einer kollektiven Erzählung zu sprechen.
Was könnte er gemeint haben?
Nun, weder die vereinigten Staaten von Amerika, noch die vereinten Nationen haben die ablaufende Epoche (1945 – 2020) als Gemeinschaftsprojekt weiter entwickelt, sondern nach und nach Macht und Geld entscheiden lassen, ob Kriege geführt wurden oder sich das Klima verschlechterte. Egoismus und Hegemonialdenken waren unterschwellig die „burner“ – nicht Zusammenarbeit, Nachhaltigkeit und ökologische Vorsorge. Und das Narrativ von der einen Welt zerfiel in viele Teile, die nur ihren eigenen Vorteil im Focus haben. Gab es denn überhaupt eine kollektive Erzählung? Wenn wir Europäer in diese ablaufende Epoche zurückschauen, so lieferten wir doch immer erst im Nachhinein die Begriffe, die wir gerne dafür haben wollten. „Die Westliche Welt“ „Das Wirtschaftswunder“ „Die Angst vor dem dritten Weltkrieg“, der „Eiserne Vorhang“, der „Ost-West-Konflikt“, „Der Clash der Kulturen“, die „Eine Welt“ …
Alles Schnee vom letzten Jahr. Auch ein Angst machendes Wort wie Kollaps dient da nicht der Klarheit, sondern eher der Vernebelung. Wir haben uns ganz schön was in die Tasche erzählt.
Das zweite Drama, das Blom anspricht, sei der Kollaps der Wachstumsökonomie.
Natürlich auch hier wieder das Signalwort: Kollaps. Diesmal soll es allerdings nicht um Ideologie, sondern um Wirtschaft gehen. Wie oft schon erzählten wir Europäer uns etwas vom Ende des Kapitalismus, wie oft haben wir geirrt. Jede Wirtschaftskrise ließ Wachstum und Erfolg wie Phönix aus der Asche nur noch größer werden. Die Börse in Zeiten der Pandemie liefert dafür ein Schauspiel, das jeder Farce spottet. Und neues, rasanteres Wachstum verlagert sich doch gerade nur ins Digitale und treibt Blüten – nicht nur in Silicon Valley – wie wir es noch nie gesehen haben. Kollaps? Wie bitte?
Das dritte Drama, das Blom anspricht, sei der Kollaps der Herrschaft über die Natur.
Auch da setzen wir Europäer etwas als gegeben voraus, das es so nie gegeben hat: Wir haben nie über die Natur geherrscht. Das haben wir uns nur eingebildet. Und das Bild hat uns so geschmeichelt, dass wir es gerne für wahr genommen haben. Wir, die Ebenbilder des Schöpfers – um die religiöse Rahmung nicht zu unterschlagen – , haben uns die Erde untertan gemacht, wie es als Auftrag schon im Alten Testament geschrieben stand. Wir waren also folgsame Kinder Gotttes und erfolgreiche Vollstrecker seines Auftrags. Dabei ist es nur gestundete Zeit, die jeder einzelne von uns gewährt bekommt, dabei zeigt uns die Natur jederzeit und überall, wer Herr im Haus ist: Weder Gott, den sich der Mensch erfand, noch er selbst können vor ihr bestehen. Die Liste ihrer Herrschaft ist so lang wie die Geschichte dieses Planeten. Vom sogenannten Urknall und den schwarzen Löchern ganz zu schweigen.
Hier schließt sich der Kreis der Erzählungen, der Narrative, die wir medial schön aufgehübscht Tag und Nacht vor Augen haben auf unseren Bildschirmen. Die Sprecherstimmen flößen uns Vertrauen ein. Ja, so ist es.
Wäre es nicht besser, die großen Narrative einmal auf sich beruhen zu lassen und in kleinerem Kreise all überall an Narrativen zu arbeiten, die uns als Nesthockern gemäßer wären? Damit sich unsere Lebenszeit möglichst angstarm gestalten möge und der Flüchtigkeit unseres Existenz entspräche? Haben wir nicht gerade vier Jahre lang zuschauen können, zu welchen Übertreibungen Narrative führen können, wenn man meint, jeden Deal zu gewinnen, jeden?
Um noch einmal auf die Eingangsfrage zurück zu kommen: sind wir gerade Zeugen eines historischen Moments des Umbruchs?
Wohl kaum. Die Angst vor dem Tod führt uns unerbittlich vor Augen, wer wir sind: Schwächliche Nesthocker, die nur mit Hilfe ihrer Artgenossen eine Chance haben zu überleben. Jeder Augenblick ist kostbar, jeder. Was soll da das Gerede vom Kollaps oder vom Umbruch?