06 Nov

Europa – Meditation # 231

Die Pandemie als Katalysator .

In Europa – für alle anderen Kontinente gilt das in ähnlicher Weise – waren die Künstler schon immer am Rande. Sie wurden kaum bezahlt, oft bemisstraut und hatten einen schlechten Ruf. Als Sänger, Dichter, Bildhauer, Maler – immer waren sie auch gefährdet, hinter Schloss und Riegel zu enden.

Jetzt in Zeiten der Pandemie sind es wieder gerade die Künstler, die nicht mehr ihren Begabungen mit Hoffnung auf ein Entgelt nachgehen können. Und die Adressaten ihrer Künste? Noch tun sie so, als ließe sich das verschmerzen, als gäbe es Wichtigeres als Konzerte, Theateraufführungen und offene Museen.

Doch wir Europäer sollten uns daran erinnern, dass immer noch der Satz gilt: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein!“

Es ist es nicht das Gleiche, Pixelansammlungen auf Bildschirmoberflächen anzustarren oder gebannt bei lebendigem Leibe dem Geschehen auf einer Bühne zu folgen, wo lebendige Wesen vortäuschen jemand zu sein, der sie selbst nicht sind. Ein atemberaubender Betrug spielt sich da vor ihren Augen ab. Er belebt die Phantasie, verortet eigenes Erleben neu, verglichen mit dem vorgetäuschten auf der Bühne. Eine Begegnung der besonderen Art, als Spiel schon so lange immer wieder gespielt. Erst wenn es nicht mehr gespielt werden darf – so wie jetzt – bemerkt der einsame Mensch in seiner digital total verkabelten Kammer, was ihm fehlt außer Brot. Die Kunst. Denn obwohl sie mit unseren Sinnen macht, was sie will, wir wollen einfach nicht von ihr lassen – zu sehr misstrauen wir nämlich unserem eingeübten banalen Alltag als einzige Wahrheit und Wirklichkeit. Zu sehr mangelt es dort an Dichte, Lust und Lebensfreude. Erst im Verwirrspiel, das die Kunst mit uns in Szene setzt – ganz gleich ob mit Tönen, Farben oder Formen – begegnen wir wieder unserer eigenen inneren Stimme und der sehnsüchtigen Atmosphäre nach mehr, nach anderem, nach intensiverem Lebensgefühl.

Ein Zuviel davon, wie es oft bis zum Beginn der Pandemie in der Regel von Freitagabend bis Sonntagnacht laut, grell und irrlichternd von Sinn- und Partner Suchenden mutwillig inszeniert wurde, kann diese unstillbare Sehnsucht allerdings auch dämonisierend zerfetzen, so dass am Montagmorgen nur noch öde Leere übrig bleibt.

Aber die Pandemie wird uns ja vielleicht von Mutter Natur geschickt – was tut sich nicht schon alles, um uns zu beglücken – damit wir inne halten und das nun Entbehrte als wesentlich zu begreifen lernen. Ein Botschaft, die in der europäischen Philosophie schon immer mitschwang. Sie wurde wohl nur allzu oft überhört, in die Fußnoten verbannt:

Die Sprachen, die in Europa aus dem ursprünglichen Gesang der Stimmen langsam entstanden waren, haben sich zu einseitig in der Logik verbarrikadiert; nur die Künstler bestanden auch weiterhin auf ihrer Bodenlosigkeit, auf ihrem Versuchscharakter, dem man sich nicht verweigern sollte, sondern dem man sich kühn aussetzen sollte, um neue Lebensgefühle, neue Sehweisen, neue Formen des Lebens und des Seins zuzulassen und auszuprobieren. Ein Feuerwerk lustvoller Probeläufe, bei denen sich die Menschen Hilfe suchend an die Hand nehmen wollen, um nicht verloren zu gehen.

Und darauf sollen wir verzichten?

Niemals.

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.

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