Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 120
Europa verzaubert die Kreter mit ihrer Kunst. Teil I
Der Morgen zeigt sich von seiner düstersten Seiten. Grauweiße Wolkengebirge schweben wie böse Dämonen über der erwachenden Insel, drücken sie nieder, erschrecken sie mit Blitz und Donner und heftigem Regen. Ob das Fest am Abend überhaupt wird stattfinden können?
Europa spricht im großen Tempel mit ihrer großen Göttin:
„Du kündigst dich mit großem Lärm an und mit Macht – ich weiß, dass du uns führst. Auch am heutigen Tag. Wir haben lange für dieses Fest – dir zu Ehren – geübt und geübt. Die jungen Priesterinnen sind voller Begierde, dir und der Welt zu zeigen, was tanzende Körper junger Frauen mit ihren Zuschauern anzustellen vermögen, wenn deren Augen übergehen von Freude, Lebenslust, Begierde und Schönheit. Du weißt es, denn du hast es uns gelehrt in unseren Träumen und Gesprächen und Gebeten. Und dennoch möchte ich dich heute noch einmal bitten: Lass diese Bilder im Gedächtnis der Zuschauer lange, lange nachwirken und lass sie immer wieder wollen, solche Tänze Jahr für Jahr als großes Fest des Lebens und der Liebe zu wiederholen, damit sich dieses friedliche und liebevolle Gefühl aller immer mehr als Schatz ihrer Erinnerungen mehrt.“
Europa hält erschrocken inne. Wo waren ihre diese Worte her gekommen? Hatte die Göttin sie ihr eingeflüstert? Hatte sie sie zuvor geträumt? Da kommt ihr unversehens ein ganz anderer Gedanke dazwischen: Natürlich muss es heute morgen heftig regnen, natürlich. Für das Fest muss alles gereinigt werden. Die Luft, der Boden, die Marmorplatten, die am Abend die Tänzerinnen mit ihren nackten Füßen liebkosen werden, als wären es reizende Verführer. Die Göttin antwortet ihr noch einmal mit Blitz und Donner. Europa verharrt mit geschlossenen Augen vor dem großen Abbild der Göttin. Sie lächelt. Wer? Die Göttin? Nein, sie. Nein, beide, fühlt sie.
Nach und nach lässt der Regen nach, verabreden sich die Wolkenberge mit den Wogen des Meeres im Süden, verschmelzen gierig am Horizont zu einem Ganzen, einem Fest, lassen der Morgensonne ein spätes Aufleuchten gelingen, das so von Glanz und Klarheit jubiliert, dass die Fischer, die bereits zu ihren Booten unterwegs sind, es kaum fassen können: Ist es wirklich ihre Insel, sind es ihre Felsen, Klippen? Oder haben die Götter ihre Sinne verwirrt und gaukeln ihnen eine Welt vor, die so schön doch gar nicht existieren kann?
Was sie nicht wissen, ist, dass dieses Erlebnis sie schon einstimmt für das noch viel schönere und größere Erlebnis am heutigen Abend.
Danach wird nichts mehr sein wie zuvor.