Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 129
Europas Albtraum
Was für ein Augenblick: Immer noch laden schwitzende Männer volle Amphoren von Bord des Schiffes, immer noch betrachten Chandaraissa und Europa dieses Hafentreiben voller Neugierde und Lust, immer noch schwebt die Sonne gleißend über dem Wasser, aber gleichzeitig überschlagen sich in Europas Gedanken die Bilder, die sie völlig überfluten. Ihre Augen – geblendet von den inneren und äußeren Bildern des Augenblicks laden sie wie in einem nicht enden wollenden Lichtblitz ein zu einer Reise durch Raum und Zeit. Eine grauenvolle Flugreise.
Da steht der Riese Talos grinsend vor dem Hafen. Seine Hände schleudern gerade große Felsbrocken herab, sein grölendes Gelächter dabei schmerzt in ihren Ohren. Keiner scheint die Gefahr zu bemerken außer ihr. Aber die Atemluft, die sie jetzt braucht, um einen rettenden Schrei auszustoßen, hat sie nicht. Sie scheint stattdessen zu ersticken. Schon fällt sie ins nächste Bild dieser Blitzzeitreise.
Elefanten fallen in einer Schneelawine röchelnd zu Tal, dazwischen Männer, haltlos schweben sie in einem lautlosen Todesangstgestöhn auf eisigen Pisten, dann sind es Männer auf großen Seglern, die im Feuer der Segel verenden, Explosionen, während die Schiffe prustend in Wellenbergen versinken.
Nebelschwaden verstellen ihr jedoch den Blick; weiter um Atem ringend steht sie an schmalen Gräben, in den Männer übereinander zerrissen und tot daliegen, Ratten dazwischen, Ratten. Dann hört sie neben sich Chandaraissa flüstern: „Europa, was ist mit dir?“
Sie sieht sich selbst, wie sie langsam den Kopf schüttelt, weint, nach ihr greift, die Freundin aber nicht da ist.
Aber schreiende Männer, mit weit aufgerissenen Augen, von Blitzen zerfetzt, wieder in einer eisigen Winterlandschaft. Sie sieht sie schreien, hört sie aber nicht. Voller Angst hält sie sich die Ohren zu. Da kommen die Felsbrocken direkt über ihr herunter. Jeden Augenblick, werden sie alles unter sich zermalmen. Sie meint, ihre Mutter, Telephassa, zu rufen. Die aber hat sich abgewendet, verschwindet im Palast in Sidon, wo die Mörder auf sie warten. Europa will sie warnen, vergeblich. Endlich bekommt sie wieder Luft, ihr Blick wird wieder klar, ihre Stimme hörbar:
„Chandaraissa, wir dürfen nicht länger warten. Gewitterwolken brauen sich über uns zusammen, fürchterliche.“ Die Hohepriesterin schaut sie verblüfft an. „Europa, was redest du denn da? Kein Wölkchen am Himmel. Der sonnige Nachmittag hier im Hafen könnte friedlicher nicht sein.“
Europa beginnt zu weinen. Chandaraissa nimmt sie in ihre Arme. Und Athanama – oben an Deck des großen Seglers – winkt, als habe sie Europa erkannt.
Chandaraissa sieht es:
„Europa, schau, da oben, die Fremde winkt uns!“