Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 142
Europa und Archaikos – Herrscherpaar auf Kreta. (Teil 1)
Wie Duft von Myrrhe, Weihrauch und Lavendel weht frischer Wind über die Insel. Frauen wie Männer – beschwingt, heiter und zugewandt – schlendern sie zum Versammlungsplatz vor dem Palast des Minos von Kreta. Wenn sich ihre Arme im Vorübergehen leicht berühren oder sich Blicke kreuzen, scheinen Wellen des Wohlwollens, der Zuneigung und Begeisterung hin und her zu schweben, als habe der gesamte Kosmos zum Fest geladen. Denn die Gerüchte, die seit dem unvergesslichen Tanzfest vor dem Tempel der großen Göttin kursierten, haben sich längst als wahr erwiesen: Archaikos nimmt die Fremde – Europa, die weitsichtige – zu seiner Frau.
Jetzt hallt der tiefe Ton der Hörner über den Platz. Die Bläser stehen über dem Tor, durch das gerade Europa und Archaikos treten. Ein atemberaubendes Raunen geht durch die Menge:
„Schau nur, wie sie lächelt!“
„Ihre Gewänder, sind sie nicht wunderbar?“
„Die Farben, ja!“
„Und der Minos – wie er sie anschaut!“
„Bestimmt hat sie ihn verzaubert, bestimmt!“
„Sie ist schön wie eine Göttin – oder?“ „Sie ist eine, ganz sicher!“
Da, wo sonst der Bote auf einem Podest steht, wenn er die Beschlüsse des Rats der Alten verkündet, steht jetzt die Hohepriesterin Chandaraissa. Das Paar ihr gegenüber. Der Minos in einem weißen Umhang, darunter ein weites, blaues Hemd und um den Kopf trägt er ein rotes, perlenbesetztes samtenes Band, stolz und zufrieden. Europa strahlt ihn überglücklich an. Grün und seiden glänzt ihr langes Kleid. Wie in einem Traum fühlt sie sich: gestern noch auf der Flucht vor dem Gott, der sie entführt und gewaltsam genommen hatte, heute als Gattin an der Seite des Minos von Kreta.
Jetzt hebt die Hohepriesterin beide Arme, alle gehen ehrfürchtig in die Knie.
„Oh Göttin, Schützerin der Insel, lege dein Wohlwollen über die beiden und segne sie, dass sie fruchtbar sein mögen und ein Segen für die Insel!“
Auch Europa und Archaikos beugen ihre Knie, verneigen sich. Chandaraissa legt sanft ihre Hände auf ihre Köpfe.
„Omana, omana!“ geht es dabei murmelnd über das weite Rund. Dann erheben sich wieder alle und jeder umarmt den nächsten neben sich. Wange an Wange murmeln sie wieder ihr „Omana, omana!“
Dann beginnt oben auf dem Tor der Trommelwirbel, erst leise, dann immer mächtiger werdend senken sich die tiefen rhythmischen Töne über die Menschen. Dazu kommen nun hohe Frauenstimmen, die in einem Freudengesang dagegen halten. Anschwellen, lauter und lauter; dann eine Pause, dann wieder anschwellen, lauter und lauter.
Vielen kommen dabei die Tränen, Glückstränen. Gerne lassen sie sie sich von den Wangen wegküssen, gerne. Was für ein Glücksmoment für alle!