13 Okt

Europa – Meditation # 358

Morgenrot in der Not

Erstes Szenario:

An allen Ecken stehen jetzt die Auguren und Sterndeuter und unken um die Wette: Wenn das nicht mal böse endet, wenn das nicht mal nach hinten los geht oder so ähnlich. So schüren sie konfuse Ängste: Wir werden übel frieren müssen, Öl und Gas werden Mangelware sein, Strom wird so teuer sein, dass der große Verzicht darauf überlebensnotwendig werden wird und so fort. Die Phantasie liefert umgehend entsprechend finstere und prekäre Szenarien. Und schon beginnt jeder insgeheim zu horten, heimlich Vorkehrungen zu treffen, sich einzuigeln, sich hart zu machen. Auch war einem selbst längst klar, dass Inflation, Rezession und Preisexplosion vor der Tür stehen, weil die da oben völlig falsche Entscheidungen getroffen haben. Selbstmitleidig suhlt man sich in Untergangsstimmung und lässt kein gutes Wort übrig für die Politiker, die „natürlich“ auf ganzer Linie versagt haben. So verteilt man lustvoll einen schwarzen Peter nach dem anderen, an den Putler im Osten auch gerne gleich mehrere. Und man fühlt sich stark als Einzelkämpfer, der gegen eine Welt von Feinden in den Unterstand geht.

Zweites Szenario:

Da erinnern sich die etwas vorsichtigeren Zeitgenossen an die Nachkriegszeit 1945/46: Schmuggel, Tauschhandel und dann ein eiskalter Winter. Wie sollte man das ohne Holz, ohne Butter, ohne Bett denn überhaupt überleben? Damals geschah etwas zwischen den verängstigten Menschen, dass sie trotz allem hoffen ließ: weil es so ziemlich allen so ging, wie einem selber, vergeudete man keine Energie und Emotionen mit Wut auf wen auch immer (man war sich im Stillen darüber im Klaren, dass jeder auf die eine oder andere Weise mit schuld war an der Katastrophe), sondern man half, wo man konnte und einem wurde geholfen, so gut es eben ging. Alles in kleinster Münze. Aber unter der Hand stellte sich ein starkes Gefühl von „Wäre doch gelacht, wir lassen uns einfach nicht unterkriegen!“ ein, dass sogar Platz für Humor und Witze schuf. Keiner war sich zu schade zu helfen, da konnte sich jeder auf jeden ohne Worte verlassen. Das wiederum war ein so gutes und starkes Gefühl, dass alle Nöte beherrschbar wurden. Jeder Tag ein neues Abenteuer, jeder Tag ein kleines Überlebenswunder. Das schmiedete zusammen, weil jedem klar war, dass man nur gemeinsam die Not und den Winter überleben konnte.

Drittes Szenario:

Wer in diesen Tagen durch unsere Städte eilt, schaut in lauter Poker-faces, in lauter Sieger-Posen-Unerschrocken-Einzel-Kämpferinnen-Egos, die alle zu signalisieren scheinen: Ich bin stark, ich bin unerschrocken, ich bin wild entschlossen, meine Rechte wahrzunehmen, bis zur bitteren Neige.

Und mit solchen sollen wir den kommenden Winter schadlos überstehen? Wohl kaum.

Wäre es nicht besser, sich an die Erfolgsgeschichte aus dem zweiten Szenario zu erinnern und diese eitlen egozentrischen Haltungen an der Garderobe abzugeben und mit den ersten Übungen in solidarischer Bescheidenheit anzufangen? Sind die Erfahrungen aus dem Lock-down nicht anschaulich genug, um sich klar zu machen, dass Isolation, Vereinsamung keine Perspektive ist für den kommenden Winter oder beleidigt in den Keller zu gehen und wütend die Nachbarn und die gewählten Volksvertreter zu beschimpfen, die ja so was von unfähig sind – und man selbst vor dem Spiegel selbstredend für alles erfolgreichere Lösungen gehabt hätte, klar?

Wäre es nicht Erfolg versprechender, gute Nachbarschaft zu pflegen, sich auf kleiner Flamme auszuhelfen, palavern Tür an Tür über clevere Einsparungsideen, die dann weiter erzählen, ausprobieren, feiern und so den prognostizierten Weltuntergängen ein Schnippchen nach dem anderen zu schlagen? Was wäre das für ein gutes Gefühl, das würde einen glatt mehr wärmen als jeder Radiator es könnte (der ja sowieso dann vor sich hin dümpeln muss).

Würde nicht so ein n e u e s WIR-GEFÜHL entstehen, das immun ist gegen Inflation, Rezession und weitere Preisexplosionen, weil alle einfach darüber lachen würden: die fallenden Kurse an den Börsen fallen doch eh nur denen auf die Füße, die sich als Steuerjongleure einen Namen gemacht haben, nicht aber als solidarische Bürger!

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