Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 153
Europas List, den Rat der Alten zu umgehen.
„Mutter, ich verstehe überhaupt nicht, was du meinst!“ bricht es aus Parsephon hervor. Europa geht zur Flügeltür, schaut sich nach möglichen Lauschern um und schließt sie geräuschvoll. Ihre beiden Söhne stehen ratlos da und warten zitternd auf eine klärende Antwort.
„Nie hätte ich gedacht, dass so etwas nötig sein könnte. Aber das ungewisse Ende eures Vaters zwingt uns zum Handeln.“
Europa sitzt nun zwischen Samadanthys und Parsephon auf den Stufen des kleinen Hausaltars. Sie wundert sich über sich selbst: Wo kommen meine Worte, meine Ideen gerade her?
„Ich werde Pallnemvus bitten, das Volk umgehend vor dem Palast zusammenzurufen. Dort soll dann für die Dauer der Krankheit des Minos eine Übergangslösung vorgestellt werden, die mit Archaikos und mir abgesprochen sei.“
Europa macht eine Pause, sie holt tief Luft, während die Zwillinge vor Neugierde nicht ein noch aus wissen. Dann fährt sie leise fort:
„Bis der neue Minos bekannt gegeben wird, soll ich als eurer Vormund und Schützerin der Insel euch beiden zur Seite stehen, sodass gewissermaßen ein Triumvirat – von der großen Göttin geweiht – so lange gemeinsam herrscht, bis der Tag der Inthronisation gekommen sein wird.“ Bewusst vermeidet Europa vom Sterben des Minos zu sprechen.
Den Zwillingen verschlägt es die Sprache. Ihre Mutter als ihr Vormund? Das hat es noch nie auf Kreta gegeben. Wie werden der Rat der Alten, wie wird das Volk reagieren?
Als das Schweigen nicht mehr auszuhalten ist, legt Europa ihre Arme um ihre beiden Kinder und sagt:
„Beten. Wir müssen gemeinsam zur großen Göttin beten. Die Hohepriesterin wird uns segnen. Es muss jetzt ganz schnell gehen. Wir müssen Berberdus, dem Vorsitzenden Ratsherrn, zuvorkommen.“
Ohne Antworten der Zwillingen abzuwarten, steht Europa auf und wendet sich wortlos zum Gehen. Mit einer kleinen Geste fordert sie Parsephon und Sadamanthys auf, ihr zu folgen. Zum Tempel der großen Göttin.
Laut hallen ihre Schritte in den langen Gängen wider, das Flattern der Vögel über dem großen Atrium des Palastes wirkt wie das erregte Geflüster der überraschten Menschen, die noch am gleichen Tag erfahren werden, dass erstmals eine Frau als Vormund zusammen mit ihren Söhne die Vollmachten des Minos von Kreta übernehmen wird.