Europa – Fortsetzung der alten Geschichte # 160
Ein großes Feuer für den Minos von Kreta.
„Vater, Vater, hast du es schon gehört? Der Minos von Kreta ist gestorben!“ Tochter Athena ist es, die es in die Runde ruft. Die Familie sitzt mal wieder gelangweilt auf dem Olymp in ihren Ohrensesseln und schlürfen ihr Nektar und Ambrosia. Zeus, der gerade dabei ist, nach dem üppigen Essen erschöpft wegzudämmern, fährt erschrocken hoch:
„Was hast du gerade gesagt, Tochter?“
„Der Minos von Kreta, Archaikos, ist tot.“
„Ja und? Die Sterblichen pflegen nun mal eben auch zu sterben.“
Zeus findet seinen spontanen Beitrag richtig klug und weise – und so denkt er gleichzeitig selbstzufrieden: Da habe ich meiner dreimal klugen Tochter mal wieder zeigen können, warum ich hier oben der Obergott bin. Ein unterdrücktes Prusten geht durch den sonnenhellen Palastraum.
„Warst du da nicht erst neulich mit deinen zwei tollen Brüdern?“ hakt Athena nach.
Zeus antwortet zuerst einmal nicht. Natürlich hat er diesen letzten und erfolglosen Besuch auf Kreta noch bestens in Erinnerung, natürlich. Und gleich hat er auch wieder schlechte Laune, aber er will sich nichts anmerken lassen, seine Tochter darf auf gar keinen Fall dahinter kommen, dass er neulich erst eine Affäre mit dieser phönizischen Prinzessin Europa hatte und die ihn…Schnell lenkt er seine Gedanken auf andere Themen, zu tief sitzt noch der gekränkte Männerstolz in seinen Adern, zu tief.
Später – Hera, seine eifersüchtige Gemahlin, kümmert sich gerade um die Zusammensetzung der Speisefolgen für das Festessen, das bald auf dem Olymp stattfinden soll – sitzt er mit Poseidon und Hades in der Olympia-Bar. Er will sie überreden, mit ihm zusammen noch einmal nach Kreta – und selbstverständlich inkognito – zu reisen, um an der Trauerfeier teilzunehmen. Denn jetzt, wo diese miese Europa Witwe ist – von wem wohl die Zwillinge sind? Zeus will es gar nicht wissen – jetzt ist die Situation sicher günstig, ihr ordentlich zu schaden. Zeus will gar nicht mehr an die Abfuhr erinnert werden, die ihm Hades verabreicht hat. Als wenn ein schönes Erdbeben samt üppiger Flutwelle so eine große Sache wär!
Als hätten auch die Götter Trauerkleider angezogen, denkt Chandaraissa, die Hohepriesterin, als sie jetzt vor dem großen Scheiterhaufen steht, den sie gleich entzünden muss, denn die tief hängenden, grauschwarzen Wolken dämpfen das Tageslicht, als stünde die große Trauergemeinde in einem unterirdischen Gewölbe, dem Licht ein Fremdwort ist.
Von nah und fern sind sie gekommen, die Kreter, um von ihrem Minos Abschied zu nehmen. Das große Oval vor dem Palast ist eine einzige schwarze Woge, die langsam hin und her schwankt und aus der der eintönige Singsang des Trauerchors quillt wie ein lähmender Dauerton unsäglicher Schmerzen, noch und noch. Und auf einem großen Holzgerüst stehen die alten Ratsherren und vor ihnen in der Mitte Europa mit ihren Zwillingssöhnen.
Und gleich neben dem Gerüst haben sich unter die Trauernden auch drei Gestalten gemischt, die ihre schwarzen Kapuzen weit über die Stirn in ihre Gesichter gezogen haben – es scheinen drei Brüder zu sein, die auch pflichtbewusst mit seufzen und stöhnen, die aber niemand zu kennen scheint. Fremde eben.
Jetzt hebt Europa eine Hand und nach und nach verebben die Trauergesänge. Sie ist jetzt die mächtigste Frau auf der Insel, Vormund der beiden Nachfolger und gehasst von den Ratsherren, die sich übergangen fühlen.
Die drei fremden Gestalten tuscheln leise mit einander:
„Was wird sie denn noch zu sagen haben, jetzt?“
„Sie will doch nur zeigen, dass sie jetzt das Sagen hat!“
„Also, mir kommt sie so vor wie eine trauernde Ehefrau, was sie ja auch ist!“
In die nun sich schleichend ausbreitende Stille fahren als erstes tiefe Fanfarentöne – sie gehen durch Mark und Bein. Viele weinen in aller Stille. Dann ist Europas Stimme – fest und klar – zu hören:
„Mitbürger, Trauernde, Kreter!
Unser Minos ist von uns gegangen. Er geht zu den Vätern, Vorvätern. Er hat Kreta groß und mächtig gemacht. Er gibt uns Zuversicht für die Zukunft. Auch den Göttern und der großen Göttin fühlte er sich stets verpflichtet. Wir wünschen ihm eine glückliche Fahrt hinüber in die andere Welt!“
Nun lässt sich die Hohepriesterin ihre Fackel anzünden, dann dreht sie sich zu dem hohen Katafalk um und entzündet ihn. Gleich jagen spitzzüngige Flammen durchs dicke Gebälk, Rauch steigt auf, hüllt für einen Augenblick den oben aufgebahrten Körper des Minos völlig ein, dann züngeln die Flammen hoch zu ihm erfassen die Leichentücher, mit denen Archaikos umwickelt ist, setzen sie wild in Flammen, fressen sie auf. Bald ist der der große Scheiterhaufen ein einziger, glühender Feuerball, aus dem der Minos aufsteigt wie ein lichter Vogel, der mit seinem durchsichtigen Federwerk federleicht im düsteren Wolkengebirge davonfliegt, schneller und schneller, weiter und weiter.
Wie eine wärmende Flut legt sich nun die Hitze des großen Feuerwerks auf die Trauernden, die jetzt wieder mit ihren monotonen Gesängen hin und her wiegen, als wären sie ein verblühtes und verkohltes Ährenfeld, das in einer sanften Brise wellenartig hin und her zu wogen scheint.
Hinterher, als sich nach und nach die schwarz gewandeten Menschen heimwärts wenden, mischen sich die drei fremden Gestalten unter die tuschelnden alten Ratsherren, denn Zeus möchte unbedingt wissen, was diese Greise vorhaben, um Europa und ihren Söhnen zu schaden, sie vielleicht sogar ganz aus dem Weg zu räumen – denn das wäre dann ja ganz in seinem Sinne – als erfolgreiches Ende eines so stümperhaft geführten Rachefeldzugs.